Srinath Raghavan: War and Peace in Modern India. A Strategic History of the Nehru Years, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2010, 256 S., ISBN 978-0-230-24215-9, USD 100,00
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Die indische Historikerzunft ist längerem in zwei große Debatten involviert, die beide etwas mit der Identität des Landes zu tun haben. In der ersten geht es um die grundsätzliche Frage, inwieweit der Islam ein genuiner Teil der eigenen Geschichte ist. Obwohl jeder Inder stolz auf das Taj Mahal ist, eskalierte dieser absurde Streit in der Zerstörung der Babri Masjid in Ayodhya. Auch wenn es nach außen ruhiger um diese Frage geworden ist, kämpfen die Fraktionen beinhart weiter - insbesondere um Schulbücher und Curricula. Nicht weniger politisch, aber weniger massenwirksam ist der Disput um das Erbe Jawaharlal Nehrus, der in seinen 17 Jahren als Premierminister entscheidende Weichen für die Entwicklung Indiens gestellt hat. Insbesondere seit die Wirtschaftsreformen der letzten beiden Jahrzehnte dem Land nach innen wie nach außen neue Möglichkeiten verschaffen, sehen Teile der neuen politischen Eliten wie der Historiker diese Jahre als verloren an.
Besonders leichtes Spiel glauben die Kritiker im Falle von Nehrus Außenpolitik zu haben. Ob sie ihm naive Blauäugigkeit vorwerfen oder eine knallharte Machtpolitik, die mit dem Mäntelchen moralischer Überlegenheit notdürftig kaschiert wurde: In der Summe bleiben der ungelöste, bis heute schwelende Kaschmirkonflikt sowie die Niederlage im Grenzkrieg mit der Volksrepublik China 1962. In beiden Fällen gilt Nehru als zu zögerlich und als derjenige, der sich ohne jegliche Kompetenz entscheidend zum Nachteil Indiens in militärische Fragen einmischte. Wie so häufig bei Streitigkeiten um die Deutungshoheit über die neueste Geschichte wird auch diese Auseinandersetzung weniger mit Sachargumenten als mit Polemik geführt. Im indischen Falle gibt es dafür sogar eine triftige Entschuldigung: Solange Außen- und Verteidigungsministerium trotz nur dreißigjähriger Sperrfrist die Einsicht in die relevanten Akten hartnäckig verweigern, sind der Spekulation Tür und Tor geöffnet. Die Edition der Nehru-Papiere ist erst in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre angelangt und liefert zumindest für den Grenzkrieg kaum Antworten.
Srinath Raghavan, der am Centre for Policy Research in New Delhi arbeitet, hatte für seine Analyse der Entwicklung des strategischen Denkens der Nehru-Jahre mit denselben Problem zu kämpfen. Selbst ihm als Offizier wurde letztlich die Akteneinsicht verwehrt, ebenso wie die Nutzung des Nachlasses von Verteidigungs- und de facto Außenminister Krishna Menon. Raghavan, der auch am King's College in London lehrt, hat aus der Not jedoch eine Tugend gemacht. Zum einen hat er in diversen indischen und britischen Archiven das Unterste nach oben gekehrt und dabei Nachlässe zutage gefördert, die bisher nicht zugänglich oder nicht genutzt worden sind. Das gilt insbesondere für die Papiere britischer Offiziere, die im ersten Jahrzehnt der Unabhängigkeit höchste Kommandofunktionen innehatten. Insofern basiert seine Analyse wenigstens in Teilen auf einer neuen Quellengrundlage.
Zum anderen hat Raghavan Nehrus Krisenmanagement in einer bislang einzigartigen Gründlichkeit analysiert. Das Buch lässt sich in zwei Teile gliedern: Der erste umfasst die vielen Krisen um die Staatsgründung 1947. Die Teilung Britisch Indiens in Indien und Pakistan sorgte nicht nur für eine Massenmigration mit unzähligen Massakern, sondern auch für den Verbleib von großen Minderheiten in beiden Nachfolgestaaten. Die Eingliederung der nun formal wieder unabhängigen Fürstenstaaten warf weitere massive Probleme auf: Junagadh und Hyderabad wollten Pakistan beitreten bzw. unabhängig bleiben, obwohl sie von indischem Territorium umgeben waren. Nehrus Vorgehen sollte zum Paradigma für spätere Krisen werden: So wenig er vor dem Einsatz des Militärs als ultima ratio zurückschreckte, so sehr versuchte er, diplomatische Lösungen zu finden, die den Interessen aller Parteien Rechnung trugen. Sein Albtraum war und blieb eine unkontrollierbare Eskalation - mit den Minderheiten auf beiden Seiten als Opfer.
Dies war auch sein Leitmotiv bei den Bemühungen um die weitgehend vergessene Krise um die religiösen Minderheiten in Bengalen 1950. Bei aller Konzilianz lernte der Premierminister jedoch auch, dass die Wellen der Emotion im verfeindeten Pakistan so hoch gingen, dass nur eine glaubhafte Androhung von Gewalt Erfolg versprach. Wie eng die Grenzen für ein solches Vorgehen waren, zeigte sich in mehrfacher Hinsicht: Entgegen dem gängigen Mythos weist Raghavan nach, dass Indien im ersten Kaschmirkrieg schlichtweg die militärischen Mittel fehlten, um das gesamte Gebiet zu erobern. Und die schier ausweglose bengalische Krise kam nicht dank diplomatischer Gespräche oder militärischer Drohungen zur Ruhe, sondern wegen der Ermordung von Pakistans Premierminister Liaqat Ali Khan.
Das letzte und beste Drittel der Studie widmet sich dem Grenzkonflikt mit China seit seinen Anfängen 1948. Ohne Nehru von Schuld für das umfassende indische Versagen freizusprechen, hat Raghavan hier die Verhältnisse wieder zurecht gerückt. Der Premierminister betrieb keineswegs ein Jahrzehnt lang eine naive Chinapolitik, die vor allem auf gutem Glauben basierte. Voll tiefen Misstrauens gegenüber den Intentionen Pekings ordnete er vielmehr früh die Erschließung und Sicherung der Grenzgebiete an - seine Anweisungen wurden aber auf gut indisch schlichtweg ignoriert. Seine ebenso frühe Festlegung auf maximale Grenzlinien zugunsten Indiens, deren Rechtmäßigkeit fragwürdig war, sollte Verhandlungsspielräume schaffen. Diese gingen ihm jedoch verloren, als die Öffentlichkeit im Detail über die chinesischen Ansprüche informiert werden musste. Zu diesem Zeitpunkt hatte Nehru allerdings bereits viele Gelegenheiten verpasst: Es war ausgesprochen dilettantisch, für die Anerkennung der chinesischen Herrschaft über Tibet nicht die des indischen Grenzverlaufs einzuhandeln. Als der Disput virulent wurde, dauerte es Jahre, bis Experten sich in britischen Archiven hinsichtlich der eigenen Gebietsansprüche kundig machten - um dann freudig zu entdecken, dass diese besser begründet waren als befürchtet.
In klaren Worten räumt Raghavan mit dem Mythos auf, das Eingreifen der Zivilregierung in militärische Belange habe zum Desaster beigetragen. Er diagnostiziert vielmehr ein unverzeihliches Zögern Nehrus und Menons, auf der Implementierung der im Konsens getroffenen Beschlüsse zu beharren. So weigerte sich die Armeeführung schlichtweg, hinter der dünn besetzten Grenze die unbedingt nötigen strategischen Reserven zu stationieren. Eigene Konzepte des Generalstabs gab es zu keinem Zeitpunkt: Er beschränkte sich über Jahre darauf zu monieren, dass die Grenzsicherung unzureichend sei.
So vorzüglich die Analyse in all diesen Punkten ist, so sehr muss doch kritisiert werden, dass die Krise um Goa bewusst übergangen worden ist. Die Krisen der frühen Jahre ähneln sich hinsichtlich Akteuren und Fragestellungen. Portugal aber war kein unmittelbarer, schwächerer Nachbar wie Pakistan, sondern Mitglied eines Militärpakts - und zugleich Delhi gegenüber im Nachteil. Die Besetzung Goas Ende 1961 galt nicht nur der Welt, sondern in Indien selbst als Paradigmenwechsel, als Signal dafür, dass Indiens Geduld begrenzt war, ungeachtet möglicher Konsequenzen. Ein Fragezeichen verdient Raghavans Bewertung von Chruschtschows Haltung zum Grenzkrieg: Typisch indisch wird der sowjetisch-chinesische Kuhhandel - hier freie Hand auf Kuba, dort im Himalaya - als irrelevant abgetan. Die tiefe Dankbarkeit für die folgenden Jahrzehnte der Freundschaft machen offenbar nach wie vor blind dafür, dass Nehrus letzte (und einzige) Garantie gegen China im entscheidenden Moment schmählich versagte.
Raghavan kennt sich in jeder Verästelung der politisch-akademischen Debatte aus und meldet sich kompetent zu Wort. Seine Entscheidung zugunsten der Vollständigkeit geht manchmal ein wenig auf Kosten der Lesbarkeit. Dies ist sicherlich kein Buch zum Einlesen in eine hochinteressante und ebenso komplexe Materie. Für Experten aber ist es ein wirklich bahnbrechendes Werk. Raghavan steht stellvertretend für eine neue Generation indischer Historiker, bei der intime Detailkenntnis mit nüchterner Analyse Hand in Hand geht.
Amit Das Gupta