I. A. Ruffell: Politics and Anti-Realism in Athenian Old Comedy. The Art of the Impossible (= Oxford Classical Monographs), Oxford: Oxford University Press 2011, XII + 499 S., ISBN 978-0-19-958721-6, GBP 70,00
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Die so genannte Alte attische Komödie des 5. und beginnenden 4. Jahrhunderts v.Chr., für uns in erster Linie repräsentiert durch die elf komplett erhaltenen Komödien des Aristophanes sowie zahlreiche Fragmente der komischen Trias Eupolis atque Cratinus Aristophanesque poetae und zahlreicher, ca. 40 anderer comici minores, war immer schon ein Spiegel der zahlreichen 'turns' der Kultur- und Literaturwissenschaft, und dies nicht erst in der aktuellen Gegenwart. Die Fremdheit, die diese Komödien auf den modernen Rezipienten ausstrahlen, und ihr Reichtum an Formen und Inhalten machen diese Stücke und die komischen Fragmente zu einem idealen Objekt, wenn nicht gar Tummelplatz, um aktuelle theoretische Trends an ihnen zu erproben. Um nur einiges zu nennen: Untersuchungen zur Form der Komödien, die sich so gar nicht mit aristotelischen Kriterien fassen lassen, führten zur Ursprungsdiskussion. Die seit dem 19. Jahrhundert, seit Friedrich Schlegel und dem deutschen Aristophanes-Übersetzer Ludwig Seeger gestellte Frage nach der politischen Funktion der Archaia wurde extensiv und kontrovers durch die Jahrzehnte immer wieder - unter dem Eindruck der aktuellen politischen Ereignisse - aufgenommen, vermehrt seit den 70er Jahren unter dem Eindruck von Ernst Blochs Prinzip Hoffnung. Merkmale wie Illusion und Illusionsdurchbrechung wurden vor dem Hintergrund der aktuellen Theorien und des aktuellen Theaterbetriebs (z.B. Brechts episches Theater) ebenso diskutiert wie komische Techniken, seien es Parodie und Travestie, seien es Metapher und Allegorie, seien es Formen der Witze und Gags, die man im 19. Jahrhundert anders sah als in einer Zeit des absurden Theaters oder von Laurel und Hardy, den Marx Brothers oder Monty Python.
Ruffells umfangreiches Buch steht also in einer langen Tradition der wissenschaftlichen und theatralischen Auseinandersetzung mit Aristophanes und seinen Zeitgenossen. Der Titel seiner Studie verweist auf zwei zentrale Aspekte der facettenreichen Studie: auf die politische Funktion und auf den phantastischen Charakter der Plots der aristophanischen Stücke. Die Untersuchung zeichnet sich - salopp gesagt - durch einen Methodenmix aus; theoretische Dominanten dürften die Diskurs- und Intertextualitätstheorie, Rezeptionstheorie in der Nachfolge von Wolfgang Isers implizitem Leser, narratalogische Ansätze bei der Untersuchung der Plotstruktur und vor allem die literarische Anwendung der philosophischen 'possible world'-Theorie sein, die zentral für Ruffells Konzept des 'anti-realism' ist. Dazu kommen komparatistische Überlegungen - Aristophanes als Ahnherr des absurden Theaters -, psychoanalytische Herangehensweisen (Freuds Untersuchung zum Witz und seinen Beziehungen zum Unbewussten), Literatur und Karneval (Bachtin) und vieles andere mehr. Einiges vermisst man bei dem Durchgang durch die Theoriegeschichte, vor allem aus der deutschsprachigen Forschung, der Ruffell offensichtlich nicht so viel abgewinnen konnte: z.B. die sich auf Aristophanes konzentrierende philologische Utopie-Diskussion der 70er Jahre oder die äußerst anregende Arbeit von R. Warning zur komischen Plotstruktur, die Wichtiges zum Verhältnis von Realität und phantastischer oder komischer Welt sowie zu Funktion von Witzen und Gags enthält. [1]
Ruffell schreibt ein Buch, in dem er der Komplexität der Alten Komödie eine ebenso komplexe Darstellung an die Seite stellt, in der notgedrungen manches zu kurz kommt oder zu oberflächlich bleibt (z.B. zum Chor, 249-253), manches dagegen allzu sehr Geduld vom Leser erwartet (paraphrasierende Interpretation der Ritter, 182-211). Ob die graphische Darstellung zu den 'running gags' (143-146) wirklich erhellend ist, mag der jeweilige Benutzer entscheiden. Es mag beruhigend sein, dass Ergebnisse von Ruffels Studie, zu denen er auf der Basis der 'possible world'-Theorie kommt, schon vorher auf anderen Wegen erreicht wurden; dies gilt meines Erachtens besonders für die Interaktion Publikum - Bühne (z.B. 427f.) oder für die Plotstruktur auf der Basis von assoziativen Witz- oder Spottketten (vgl. dazu, den Forschungsstand zusammenfassend Zimmermann. [2]
Ruffells Buch ist auf jeden Fall lesenswert: es bringt eine Vielzahl von Anregungen, es fordert zum Widerspruch auf und regt damit zum Nachdenken an, es zeigt, dass moderne theoretische Ansätze als hermeneutische Vehikel durchaus gewinnbringend auf antike Texte angewandt werden können; es zieht für den komparatistisch interessierten Leser lange Verbindungslinien vom 5. Jahrhundert v.Chr. zu Formen des modernen Theaters und Films; es zeigt aber auch, dass nicht alles, was eine neue Entdeckung zu sein scheint, wirklich auch neu ist.
Anmerkungen:
[1] R. Warning: Elemente einer Pragmasemiotik der Komödie. in: W. Preisendanz / R. Warning (Hgg.): Das Komische, München 1974, 279-333.
[2] B. Zimmermann: Handbuch der griechischen Literatur, München 2011, 701-707 und 783-790.
Bernhard Zimmermann