Richard Gorski (ed.): Roles of the Sea in Medieval England, Woodbridge / Rochester, NY: Boydell & Brewer 2012, X + 194 S., 2 Kt., ISBN 978-1-84383-701-5, GBP 50,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Sarah Foot: Aethelstan. The First King of England, New Haven / London: Yale University Press 2011
Nicole Guenther Discenza / Paul E. Szarmach (eds.): A Companion to Alfred the Great, Leiden / Boston: Brill 2015
Ulrike Matzke: England und das Reich der Ottonen in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts. Beziehung und Wahrnehmung von Angelsachsen und Sachsen zwischen Eigenständigkeit und Zusammengehörigkeit, Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2009
Der Bedeutung der Meere in der Geschichte galt beständig das Interesse auch der mediävistischen Forschung. Die Zugriffe, Methoden und Themen waren hierbei vielgestaltig: So beschäftigte sich die Wirtschafts-, die Transport- oder die Militärgeschichte mit der Rolle der Meere. In den Blick kamen zum Beispiel die Technik des Schiffbaus, die Nautik, die maritime Infrastruktur, Formen von Mobilität auf dem Wasser sowie Personal für die Seefahrt und deren Expertise. Ein besonderer Rang wurde den Küsten und vor allem den Hafenstädten und deren Umland zugemessen. Seeherrschaft verstand man oftmals als Fortsetzung von Landherrschaft. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Bedeutung der Meere in der Geschichte war lange an naturräumliche oder an nationale Kategorien gebunden, erst unter kulturwissenschaftlichen Vorzeichen und im Kontext eines transnationalen beziehungsweise globalen Verständnisses von Geschichte ist eine Perspektiverweiterung zu erkennen.
Die Rolle des Meeres im mittelalterlichen England untersucht ein von Richard Gorski, Lecturer in Maritime History in Hull, herausgegebener Sammelband, der aus einer Tagung in Rye im Oktober 2008 hervorgegangen ist. Auf die von Gorski verfasste Einleitung, die eine Forschungsübersicht und eine Zusammenfassung der Aufsätze bietet, folgen acht Beiträge sowohl von etablierten Forscherinnen und Forschern als auch von Nachwuchswissenschaftler/innen. Die Verfasser/innen stammen fast alle aus der englischen Wissenschaftslandschaft, ein Beiträger arbeitet in Kanada. Die Studien sind sehr unterschiedlich angelegt, sie reichen von einer drei Jahrhunderte umfassenden Übersicht über regional begrenzte Untersuchungen bis hin zur Analyse einer einzigen Militärkampagne des Jahres 1387; der letzte Aufsatz formuliert Gedanken aus populärwissenschaftlicher Sicht. Die Beiträge werden durch ein Register erschlossen.
Thematisch sind zwei Schwerpunkte zu erkennen: Die Hälfte der Aufsätze beschäftigt sich mit militärischen Aspekten der Funktion des Meeres im mittelalterlichen England, zwei weitere Studien mit dem Seehandel. Der Untersuchungszeitraum des Sammelbands beginnt mit der Zeit um 1200; diese Epochengrenze ist an der politischen Entwicklung orientiert, denn nach dem Verlust der Normandie im Jahre 1204 war das englische Reich im Mittelalter weitgehend auf die Britischen Inseln beschränkt. Der zeitliche Schwerpunkt der Aufsätze bildet das 14. Jahrhundert, einzelne Beiträge behandeln auch das 15. Jahrhundert. England bildet für alle Untersuchungen den Ausgangspunkt, der Sammelband ist aber nicht nur (proto-)nationalen Kategorien verhaftet, denn es werden auch Handlungen und Praktiken von solchen Akteuren analysiert, die nicht an die englische Krone gebunden waren. Der Herausgeber beschreibt den Untersuchungsraum als "The British Seas" (5), dies wäre vielleicht der treffendere Titel für den Sammelband gewesen.
Die vier militärgeschichtlichen Aufsätze unterstreichen die aktuelle Sicht in der Mediävistik, dass die Flotten der englischen Könige im Spätmittelalter von der älteren Forschung in Größe und Einfluss überschätzt wurden. Es existierten keine langfristig ausgerichteten militärischen Strategien, zudem gab es im Mittelalter nur wenige Seeschlachten von meist geringer militärischer Bedeutung. Schiffe hatten vielmehr die Funktion, den Transport von Truppen und deren Versorgung sicherzustellen; daneben dienten sie der königlichen Präsenz und der Kontrolle des Handels. Die königliche Flotte war keine "stehende Flotte", sondern die englischen Regenten nutzten in erster Linie Handelsschiffe für militärische Zwecke. Hierbei waren die Könige vielfach mit dem Problem konfrontiert, mit hohem Aufwand Schiffe aquirieren und die Loyalität der Mannschaften erhalten zu müssen. Erst im ausgehenden Mittelalter kann eine Professionalisierung, eine bessere Organisation und ein erhöhtes Maß an Schriftlichkeit, um auf diesen Wegen die königlichen Interessen besser durchsetzen zu können, beobachtet werden.
Die beiden Aufsätze zum englischen Seehandel im Spätmittelalter blicken zum einen auf die nach dem Hundertjährigen Krieg intensivierten Handelsbeziehungen nach Irland und zum anderen auf die Aufnahme der Hanse in England, die seit dem späten 14. Jahrhundert verstärkt im Nordseehandel tätig war. Die Quellenanalyse kann deutlich machen, dass die Aktivitäten der Hanse in England auch positiv gesehen wurden; zumindest von einer differierenden Haltung innerhalb Englands und damit je nach Region ist auszugehen. Zugleich lässt sich zeigen, dass für das Spätmittelalter die Bedeutung der Piraten auf der Nordsee von der älteren Forschung überschätzt worden war. Ein Aufsatz zu technologischen Änderungen im Schiffsbau hat zum Ergebnis, dass die fortwährende Erprobung von Techniken und der dauernde Austausch der mobilen Schiffe im Mittelalter große technologische Entwicklungen in Gang setzen konnte.
In der Einleitung wie im zusammenfassenden Beitrag am Ende des Sammelbands wird die These formuliert, dass es im Spätmittelalter über die "British Seas" einen großen Austausch und enge Kontakte gegeben habe. In der englischen Geschichte sei das Verbindende des Meeres häufiger als das Trennende zu beobachten, das Meer hätte weniger als eine Grenze, sondern vielmehr als eine Verbindungsstraße fungiert (10). Das Meer sei somit für England im Spätmittelalter von großer Bedeutung gewesen, was den Zeitgenossen jedoch nicht klar gewesen sei. Diese Hypothesen wird die zukünftige Forschung überprüfen. Außerdem betont der Herausgeber in seinem Vorwort gegenüber den Positionen einer World History, dass die regionale und nationale Perspektive weiter wichtig sei, da allein sie eine kohärente Sicht bieten könne (3-5). Dieser Herausforderung wird eine transnational beziehungsweise global ausgerichtete Geschichtsschreibung zu begegnen haben. Schließlich entwickelten die Beiträger dieses Sammelbands ihre Positionen vor allem mit dem Instrumentarium der Militär- und Wirtschaftsgeschichte. Bei einer Bewertung der Hypothesen sind weitere maritime Themenfelder einzubeziehen, so die Geschichte der Migration, der Entdeckungsreisen oder der Nutzung der Meere zum Beispiel durch den Fischfang. Ergänzende Zugriffe bieten die Kommunikationsgeschichte, die Raumforschung, die Erforschung der Kartographie oder die Historische Semantik, schließlich andere Disziplinen wie die Archäologie, die Literatur- und Bildwissenschaften oder die Naturwissenschaften.
Andreas Bihrer