Martin Bemmann: Beschädigte Vegetation und sterbender Wald. Zur Entstehung eines Umweltproblems in Deutschland 1893 - 1970 (= Umwelt und Gesellschaft; Bd. 5), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2012, 540 S., 13 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-31710-5, EUR 69,99
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Die vorliegende, im Rahmen des DFG-Projektes "Und ewig sterben die Wälder. Das deutsche 'Waldsterben' im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik" an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg entstandene Dissertation befasst sich mit der öffentlichen Ver- und Behandlung immissionsbedingter Waldschäden in Deutschland zwischen 1893 und 1970. Der Verfasser erklärt, "wie und warum sich die Interpretation ein und desselben Phänomens im Laufe des 20. Jahrhunderts wandelte" (15). Er fragt nach den Gründen und den Verantwortlichen für diese Veränderung, den Konsequenzen für den Umgang mit Waldrauchschäden und warum diese erst während der "ökologischen Wende" um 1970 als Umweltproblem wahrgenommen wurden.
Bemmann zufolge sind Probleme "auf beobachtete Phänomene bezogene Interpretationen oder Konstrukte". Ein beobachtetes Phänomen wird somit "erst zu einem Problem 'gemacht', also als solches interpretiert" (16). Grundlage dafür sind gesellschaftliche Aushandlungsprozesse: "Ohne gesellschaftliche Kommunikation kann es demzufolge keine gesellschaftlichen Probleme geben" (17). Aufbauend auf der "Kapazitätsthese" von Dawson und Robinson, wonach es bestimmter "Kapazitäten" ökonomischer, wissenschaftlicher, technischer, politischer und institutioneller Art bedürfe, damit Umweltpolitik möglich ist, hält der Verfasser auch bestimmte "Kapazitäten" für die Interpretation von "Umweltproblemen" für erforderlich, hier vor allem die Herausbildung bestimmter Deutungs- und Argumentationsmuster. Anhand von fünf Debatten um immissionsbedingte Waldschäden in Deutschland zwischen 1893 und 1970 vollzieht das Buch deren Entstehung nach.
Der Untersuchungszeitraum beginnt 1893 mit einem großen Gerichtsprozess, der am Anfang der Wahrnehmung in einer weiteren Öffentlichkeit steht, und endet mit einer Tagung von Rauchschadensachverständigen in Essen 1970, bei dem die "Einwirkungen der Luftverunreinigung auf die Funktionen des Waldes" (25) als gesellschaftlich bedeutendes Umweltproblem festgestellt wurde. Bemmann konzentriert sich in seiner Analyse auf die Kommunikation in Fachkreisen, vor allem unter Forstexperten, die populärwissenschaftliche Öffentlichkeit, der er eine wichtige "Mittlerfunktion" beimisst, und die Massenmedien. Die Rolle der verschiedenen Akteure in Wissenschaft, Medien, Verwaltung und Politik und ihr Einfluss auf die Sichtweise von immissionsbedingten Waldschäden wurden dabei jeweils beleuchtet. Bemmann schließt damit an Arbeiten von Frank Uekötter und Franz-Josef Brüggemeier an, betritt jedoch methodisch und konzeptionell Neuland.
Das erste Fallbeispiel ist der so genannte "Monstre-Prozeß" um Waldrauchschäden in Oberschlesien aus den Jahren 1893-97, der vom Umfang und der öffentlichen Aufmerksamkeit her eine besondere Rolle einnimmt. Es folgt eine Debatte im Königreich Sachsen um die Bedrohung rentabler Forstwirtschaft zwischen 1906 und 1916, die durch Klagen von Waldbesitzern ausgelöst wurde und in der die Rolle wissenschaftlicher Politikberatung deutlich wurde. Das dritte Beispiel befasst sich anhand des Siedlungsverbands Ruhrkohlenbezirk in den 1920er Jahren mit einem signifikanten Perspektivenwechsel hin zur Erholungsfunktion des Waldes auch außerhalb der Fachöffentlichkeit. Im vierten Fallbeispiel geht es um die Auseinandersetzungen um Waldrauchschäden in der Zeit des Nationalsozialismus, wobei der Tätigkeit der Forschungsstelle für Rauchschäden in Freiberg sowie der Rechtsprechung besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird.
Das anschließende Kapitel unterbricht die chronologische Abfolge der Beispiele, um zu erörtern, inwiefern Waldbesitzer und Forstleute versuchten, die Widerstandsfähigkeit von Wäldern gegen schädliche Immissionen zu erhöhen. Das fünfte und letzte Beispiel hat die Auseinandersetzung mit immissionsbedingten Waldschäden in der Bundesrepublik Deutschland in den 1950er und 1960er Jahren zum Gegenstand, wobei der Schwerpunkt auf Nordrhein-Westfalen liegt. In dieser Phase setzte sich die Interpretation als ein soziales und ökologisches Problem durch. In einem abschließenden achten Kapitel wird die Frage erörtert, warum die "Waldsterbensdebatte" erst in den 1980er Jahren in der westdeutschen Öffentlichkeit einsetzte, obgleich immissionsbedingte Waldschäden bereits zehn Jahre zuvor als Umweltproblem erkannt wurden. Die Ursache sieht Bemmann in seinem Fazit in einem evolutionären Prozess der "Umweltproblematisierung" (468), der in den "langen 1960er Jahren" zum Durchbruch kam. Ausschlaggeben dafür waren das zunehmende Wissen um globale Zusammenhänge der Umweltproblematik, die wachsende Aufmerksamkeit politischer Akteure, die Bereitschaft von Fachwissenschaftlern zur Teilnahme am öffentlichen Diskurs und nicht zuletzt eine erstarkte und politisch aktive Umweltbewegung.
Die methodisch gut fundierte und gründlich erarbeitete Studie ist in vieler Hinsicht wegweisend und gelangt zu wichtigen Erkenntnissen. Bemerkenswert ist beispielsweise die Tatsache, dass die meisten Argumente, die in den Auseinandersetzungen vorgebracht wurden, bereits früh, manchmal schon seit dem 19. Jahrhundert bekannt waren, so auch der Begriff "Waldsterben" in Zusammenhang mit Waldrauchschäden schon zu Beginn der 1920er Jahre (253). Was sich veränderte, war nicht die Problemsicht, sondern die Rangfolge der Interpretationen von einem vorrangig ökonomischen Problem zum primären Umweltproblem. Waren die immissionsbedingten Waldschäden im gesamten Untersuchungszeitraum in erster Linie Experten-Debatten, so änderte sich dies seit den 1980er Jahren. Erstaunlich ist auch das Ergebnis, dass Rauchschadensexperten zwar viele der einschlägigen Debatten dominierten, für den Wandel der Interpretationen immissionsbedingter Waldschäden jedoch "kaum verantwortlich" (466) waren.
Der Verfasser reflektiert den Forschungsstand und legt in den einzelnen Fallbeispielen die jeweils zeitgenössische Problemsicht dar. Allerdings ergeben sich aufgrund des auf Fallbeispielen beruhenden Aufbaus der Arbeit und des langen Untersuchungszeitraums strukturelle Probleme. Aus regionalen Diskursen ergibt sich nur schwer eine Prozesssicht über viele Jahrzehnte mit historischen Umbrüchen hinweg. Daher sind Rückblicke erforderlich, um Hintergründe darzulegen und Sachverhalte zu kontextualisieren, etwa am Beispiel der Ideologisierung des Waldes (240f.). Dies macht die Lektüre nicht einfach und setzt bei der Leserschaft ein hohes Fachwissen voraus. Gelegentlich werden wichtige Aspekte auch verkürzt dargestellt. Kann man von einer "originär nationalsozialistische[n] Interpretation der Waldrauchschäden" (46f.) sprechen oder wurde nicht vieles fortgesetzt, was schon in den Jahren vorher angelegt war? Vor allem aber fehlt die Einbettung in die internationale Diskussion. So wurden internationale Aspekte zwar gelegentlich angesprochen, die Frage der Erörterung immissionsbedingter Vegetationsschäden in anderen Ländern aber nicht thematisiert. Diese Anmerkungen sollen die beeindruckende Leistung des Verfassers jedoch nicht schmälern. Seine Arbeit stellt einen wichtigen und innovativen Beitrag zur Umweltgeschichte, aber auch zur Wissensgeschichte dar, den die künftige Forschung zur Kenntnis nehmen muss.
Michael Wettengel