Romain Descendre: L'État du monde. Giovanni Botero entre raison d'État et géopolitique (= Cahiers d'Humanisme et Renaissance; Vol. 87), Genève: Droz 2009, 384 S., ISBN 978-2-600-01190-7, EUR 34,16
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Giovanni Botero ist als bedeutender politischer Theoretiker der Staatsräson bekannt, er steht jedoch im Schatten von Persönlichkeiten wie Machiavelli, Bodin oder Lipsius. Dies belegt nicht zuletzt der Mangel neuerer Monographien zu Botero, insbesondere zur Gesamtinterpretation seines Werkes. Romain Descendre hat sich dieses Desiderats mit einem dichten und durchdachten Buch angenommen, das Botero als facettenreichen, aber im Kern konsistenten Denker vorstellt. Angesichts der Vielzahl der Fächer, in denen Botero als Begründer oder Autorität selektiv rezipiert wird (Politische Theorie, Geographie, Anthropologie, Demographie), ist die Frage der Kohärenz schon immer zentral für die Bewertung seines Œuvres gewesen. Descendre identifiziert zwei Elemente, die Boteros Denken strukturieren und zusammenhalten: erstens den kämpferischen und weltumspannenden Reformkatholizismus, in dessen Dienst sich Botero zeit seines Lebens sah; zweitens die "geopolitische" Betrachtung der Politik, die sich sowohl auf die globale Perspektive bezieht wie auf die Tatsache, dass bei Botero die Territorien zur Basiseinheit der politischen Analyse und Intervention werden. Diesen übergreifenden Elementen spürt der Autor in Boteros wichtigsten Schriften nach: den "Cause della grandezza delle città" (1588), der "Ragion di Stato" (1589) und den "Relazioni universali" (1591-1596). Bei dem anzuzeigenden Buch handelt es sich also um eine biographie intellectuelle, die Person selbst wird nur so weit behandelt, als sie wichtig für das Denken und Schreiben des "Intellektuellen" (23) ist.
Der erste Teil beschäftigt sich mit dem Lebensweg Boteros und den ideengeschichtlichen Voraussetzungen seiner katholischen Staatsräson. Descendre präsentiert Botero als Jesuiten, Sekretär und Diplomaten - drei prägende Typen der politischen Kultur des 16. und 17. Jahrhunderts. In diesen Rollen lernte Botero die politische Theorie und Praxis kennen, wie sich im jederzeit realistischen Zugriff seiner Hauptwerke zeigt. Anders - also rein idealistisch - wäre eine erfolgreiche Auseinandersetzung mit den konkurrierenden Theorien Machiavellis und Bodins auch nicht möglich gewesen. Dem Verhältnis Boteros zu Machiavelli nähert sich Descendre über eine detaillierte semantische Analyse der Übernahmen aber auch Umdeutungen und Transformationen der "florentinischen politischen Sprache" (89). Somit entgeht er dem alten Streit um die Frage, ob die Staatsräson durch Machiavelli begründet worden sei, was Botero zu einem heimlichen Gefolgsmann des Florentiners macht (Meinecke, Croce) oder ob er derjenige war, der gerade mit der Staatsräson den Bruch mit Machiavelli vollzogen habe (Vasoli, Senellart). Letztlich neigt Descendre der von Foucault inspirierten Forschungsmeinung zu, die mit Botero eine neue "art de gouverner" erwachsen sieht, auch wenn diese auf florentinischer Semantik aufbaut.
Diese Regierungskunst steht im Zentrum des zweiten Teils, der sich unter den Begriffen "Macht", "Wirtschaft" und "Territorium" mit den Schriften zur Staatsräson und zur Stadtgröße beschäftigt. Botero entwickelt eine Theorie der Machterhaltung und -steigerung, die auf Steuerung und Vermehrung des materiellen Machtpotenzials beruht. Die "forze" sind nicht mehr nur Geld und Soldaten, sondern die Menge der Einwohner und deren ökonomische Prosperität. Für Descendre wird Botero hier zum ersten Theoretiker des Wachstums. Dieses sollte der Sicherung der machtpolitischen "independenza" (135) dienen, die der Italiener der von der Kirche abgelehnten rein rechtlichen Souveränitätslehre Bodins entgegen stellte. Die Politik der ökonomischen und demographischen Vermehrung setzt freilich die Existenz des Territoriums als Verfügungsraum voraus. Nach Descendre geht es bei dieser boteroschen "territorialisation de la politique" weniger um die Grenzziehung als die innere Verwaltung, also die Mittel "de l'appropriation, du contrôle, de l'aménagement et du développement de l'espace par l'Etat" (214).
Der dritte Teil wendet sich schließlich dem anderen Aspekt der Geopolitik zu, der Beschreibung, Ordnung und Interpretation der gesamten bekannten Welt in den Relazioni universali. Descendre interpretiert die Relazioni als durch und durch katholisches Unternehmen, die der Reformationserzählung die Erfolgsgeschichte einer "katholischen Globalisierung" (263) entgegenstellt. Dabei verbindet sich die geographische Beschreibung mit einem politisch-zeitgeschichtlichen Blick, der der Geschichte nur eine untergeordnete Rolle zuschreibt. In der konkreten Analyse erweist sich Botero einmal mehr als Empiriker, Analytiker und Komparatist, der anhand der amerikanischen Ureinwohner ein Entwicklungsmodell von Zivilisationen entwirft, das an die Menschheitsgeschichten der Aufklärung erinnert.
L'Etat du monde ist ein kluges und differenziertes Buch. Romain Descendre bietet häufig sehr detaillierte Textexegese, die den Leser am Prozess des Erkenntnisgewinns teilhaben lässt und dabei für abweichende Lesungen offen ist. Zuweilen wäre der stärkere Einbezug zeitgenössischer Diskurse und Autoren über das Dreigestirn Machiavelli-Bodin-Botero hinaus zu wünschen gewesen; dies hätte jedoch zugleich den spezifischen Charakter des Buches verändert. Abschließend sei noch ein für den deutschen Leser auffallender Punkt angemerkt: die starke Betonung der Verbindung von neuzeitlicher Politik und Säkularisierung bei gleichzeitigem Erstaunen über einen Kirchenmann als Denker der Staatsräson und der Staatsbildung. Mit großem Eifer versucht Descendre seinem Publikum immer wieder deutlich zu machen, dass die Gleichungen Bodin gleich Säkularisierung der Politik und Beginn des modernen Staates auf der einen Seite und katholische Kirche gleich apolitischer, unmoderner Universalismus auf der anderen die Realität nicht treffen. Nach dreißig Jahren Konfessionalisierungsforschung ist dies für den deutschen Leser nicht unbedingt eine Überraschung, wobei sich die Differenz wohl eher aus dem französischen Konzept des säkularen Staates als aus der Forschung zum 16. Jahrhundert speist. Denn gerade in den letzten zwei Jahrzehnten hat sich in Frankreich eine sehr lebendige Forschung zur politischen Theorie des konfessionellen Zeitalters entwickelt. Descendres Buch über Botero ist ein glänzendes Beispiel dieser Richtung. Es wäre zu wünschen, dass sie in Deutschland stärkere Beachtung fände.
Justus Nipperdey