Oliver von Wrochem (Hg.): Skandinavien im Zweiten Weltkrieg und die Rettungsaktion Weiße Busse. Ereignisse und Erinnerung (= Reihe Neuengammer Kolloquien; Bd. 2), Berlin: Metropol 2012, 360 S., div. s/w-Abb., ISBN 978-3-86331-060-8, EUR 24,00
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Die "Weißen Busse" sind in der KZ-Geschichte zu einer positiven Erinnerung geworden, ihre Fahrer zu wahren Helden. Erinnerungen der Geretteten und die spektakulären Befreiungsaktionen wurden gleich nach dem Kriegsende in erste Veröffentlichungen aufgenommen. Eine museale Zeichensetzung fand jedoch erst 50 Jahre nach der Befreiung statt, als einer der Rettungsbusse im April 1995 am ehemaligen Lagertor von Ravensbrück stand, drei der schwedischen Fahrer zu den Gästen der Feierlichkeiten gehörten und eine eigens erarbeitete Ausstellung "Ich grüße Euch als freier Mensch" präsentiert werden konnte. Die "Aktion Weiße Busse" wurde in Deutschland zunächst nur wenig wissenschaftlich erforscht. Erst der 50. Jahrestag gab dazu einen wichtigen Anstoß. Der vorliegende Band ist gleichsam ein Meilenstein, weil er wissenschaftliche Forschungen und Zeitzeugenberichte zusammenführt, die auf einer Tagung in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme im Mai 2010 im Diskurs analysiert wurden. Der Titel der Tagung wurde für den Band übernommen. Der Untertitel "Ereignisse und Erinnerung" zeigt das Grundanliegen, nämlich den bisherigen Kenntnis- und Vermittlungsstand kritisch zu hinterfragen. Dies erwies sich als notwendig, da Forschungen zur sogenannten Aktion Bernadotte in Skandinavien kein ausschließlich positives, vielmehr ein umstrittenes Bild ergeben hatten.
Mit dem Überfall Deutschlands auf Dänemark und Norwegen 1940 entwickelte sich einerseits Widerstand gegen die Besatzer, zumal Skandinavier in deutsche Konzentrationslager deportiert wurden. Am Ende des Krieges versuchten einzelne skandinavische Behörden, sich für die KZ-Häftlinge "vor Ort" einzusetzen oder sie im Rahmen der "Aktion Weiße Busse" ab der zweiten Märzhälfte 1945 aus Konzentrationslagern wegzutransportieren. Andererseits kam es zur Kollaboration mit den Besatzern und zum freiwilligen Einsatz für die SS in den Lagern. Fokussiert auf dieses Spektrum zwischen historischen Geschehnissen und Handlungen einzelner gegen das Regime oder mit ihm, auf kollektive Erinnerungen und auf Erinnerungen einzelner Akteure ergibt der Band ein wissenschaftlich fortgeschrittenes wie kritisch-differenziertes Bild, das in drei Kapitel gegliedert ist.
Das erste Kapitel umfasst unter der Überschrift "Skandinavier unter deutscher Herrschaft - als Opfer und als Täter" acht Beiträge, die sich mehrheitlich auf das KZ Neuengamme und dessen Außenlager beziehen. Michael Grill und Ulrike Jensen legen die Problematik des "Skandinavienlagers" offen, jenes als Schonungsblock bezeichneten Steingebäudes an der Lagerstraße, "in dem sich Tausende Kranke und Sterbende befanden" (78), die mit "Weißen Bussen" in Außenlager nach Salzgitter-Watenstedt und Hannover transportiert wurden, um Platz zu machen für skandinavische Häftlinge. Schließlich erfolgte die vorzeitige Befreiung der dänischen und norwegischen Gefangenen mit den "Weißen Bussen", die zwischen dem 9. und 20. April 1945 großräumig organisiert war. Die Befreiten wurden nach Schweden verbracht. Ihre Sonderstellung in der Haftzeit hatte ihnen auch jetzt lebensrettende Privilegien eingeräumt (93).
Im zweiten Kapitel befassen sich vier Beiträge mit Hintergründen der vorzeitigen Befreiungsaktion sowie mit ihrer Rezeptionsgeschichte und den Erinnerungskulturen in Deutschland und Dänemark. Die Schwedin Ingrid Lomfors legt hier einen "Blind Fläck" [1] offen. Sie zeigt pointiert das praktische Dilemma der Rettungsaktion, dass kranke und sterbende Häftlinge für Skandinavier Platz machen mussten und mit schwedischen Fahrern wegtransportiert wurden. Ferner verweist sie auf das moralische Dilemma, die Last der Geretteten, die mit einer Überlebensschuld weiter leben mussten. Lomfors fragt zudem nach dem "Swedish hero" Folke Bernadotte, nach dessen Rolle in der Befreiungsaktion. Er habe mit Heinrich Himmler und Walter Schellenberg verhandelt, und Schellenberg, den ehemaligen SS-Brigadeführer, nach dem Kriegsende verteidigt (148). Bernadotte sei es zudem nicht allein gewesen, dem die erfolgreiche Rettung als Ehre gebühre. Wir wüßten heute, "that other people, organisations and countries played down their own importance" (148). Aber trotz aller Kritik bleibt er in Schweden ein Held des Zweiten Weltkriegs.
Es ist ein besonderes Verdienst einzelner Autorinnen und Autoren des Bandes, die unliebsamen, jahrzehntelang verdrängten, negativen Seiten der letzten Rettungsaktionen kontextual sowie mit der entsprechenden Terminologie aufgenommen zu haben. Jörg Wollenberg verweist deutlich auf die Verhandlungen, die parallel zu den Räumungen der Lager in Auschwitz und den nachfolgenden Todesmärschen verliefen. Himmler zielte auf einen Separatfrieden mit den Westmächten. Dafür nutzte er die KZ-Insassen als "Trumpfkarte", bezeichnete er Juden als "bestes Kapital". So glichen die Verhandlungen "Schachergeschäften um Menschenleben" (160 f.). Zahlreiche jüdische Häftlinge durften nicht in die "Weißen Busse" steigen; sie kamen für Zwangsarbeiten zum Einsatz. Wollenberg benennt auch die "Doppelspiele" Schwedens, die Ministerpräsident Göran Persson vor dem Stockholmer Parlament 2006 als Versagen der schwedischen Behörden bezeichnete.
Inwieweit Folke Bernadotte Schuld auf sich lud, als er es beispielsweise am 26./27. März 1945 ablehnte, Juden und Nicht-Skandinavier nach Schweden zu transportieren, oder ob seine Rettungsbemühungen konsequent den Anweisungen der schwedischen Regierung folgten, die erst ab dem 27. März die Beschränkungen lockerte (177 f.), darf ebenso weiteren Forschungen vorbehalten bleiben wie die Antwort auf die Frage von Wollenberg, ob der spätere Kalte Krieg schon vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann. Izabela A. Dahl nimmt das Problem überzeugend auf. Sie verortet die "Weißen Busse" und fragt nach dem Erinnern/Nicht-Erinnern daran. Weder in den drei großen ostdeutschen KZ-Gedenkstätten noch in den westdeutschen habe es bis 1990 eine museale Präsentation gegeben (186 f.). Im vereinigten Deutschland sei die Aktion inzwischen "selbstverständlicher Teil des Befreiungsgeschehens". Sie bleibe "insgesamt jedoch ein akademisches Thema" (197). Dass es sich dabei keineswegs nur um eine schwedische Rettungsaktion gehandelt habe, vielmehr auch um eine dänische, gehöre in diesen akademischen Diskurs.
Das dritte Kapitel bietet Raum für 13 Zeitzeugenberichte, die den Band wertvoll ergänzen (209-349). Es handelt sich um dänische und norwegische KZ-Überlebende. Außerdem kommen mit Axel Molin und Sten Olsson zwei Fahrer der "Weißen Busse" aus Schweden zu Wort, die auch Frauen aus dem KZ Ravensbrück nach Schweden gebracht haben. Trotz aller Erinnerungslast kehrten sie im April 1995 nach Ravensbrück zurück, stolz angekleidet mit den nachgeschneiderten Uniformen von damals, die sie am Steuer der "Weißen Busse" trugen. Die originalen Uniformen werden in Schweden museal aufbewahrt.
Den Initiatoren der Tagung wie den Autorinnen und Autoren des Bandes gebührt Dank für diesen Meilenstein beziehungsweise für einen Staffelstab, den andere KZ-Gedenkstätten übernehmen sollten. Dann wäre aber auch der Frage nachzugehen, wie die "Aktion Bernadotte" im Königreich Schweden seit 1945 vermittelt wird.
Anmerkung:
[1] Vgl. Ingrid Lomfors: Blind Fläck. Minne och glömska kring Svenska Röda Korsets hjälpnsats i Nazityskland 1945, Stockholm 2005.
Sigrid Jacobeit