Patricia Hertel: Der erinnerte Halbmond. Islam und Nationalismus auf der Iberischen Halbinsel im 19. und 20. Jahrhundert (= Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit; Bd. 40), München: Oldenbourg 2012, 256 S., 22 s/w-Abb., ISBN 978-3-486-71661-0, EUR 34,80
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Die Dissertation von Patricia Hertel untersucht die Iberische Halbinsel als historische Kontaktzone mit dem Islam und fragt nach Interpretationen, Vorstellungen und Bildern der islamischen Vergangenheit im 19. und 20. Jahrhundert; insbesondere geht es um die Wandlungen des Islambildes und ihren Einfluss auf nationale Fremd- und Selbstbilder. Obwohl im 19. Jahrhundert der Islam auf dem europäischen Kontinent kaum mehr eine territoriale Bedrohung darstellte, hatte er immer noch einen prominenten Platz im europäischen Mythenrepertoire inne. Ein als einheitlicher Gegner empfundener Islam galt als Verkörperung von Europas Antagonist schlechthin, da mit dem politisch-territorialen zugleich ein religiös-kultureller Gegensatz verbunden war. Häufig wurde die muslimische Welt zu einem exotischen Gegenbild der als phantasielos, nüchtern oder prüde empfundenen Gegenwart stilisiert.
Im 19. Jahrhundert wurden in Spanien Cervantes´ Don Quijote und in Portugal Camões´ Os Lusiadas zur literarischen Verkörperung der jeweiligen Nation und ihrer Tugenden, zu politischen Mythen, die auf den Bedarf reagierten, das junge Ordnungsmodell der Nation mit deren angeblichen langer Geschichte zu legitimieren. Eine Schlüsselrolle hatte im nationalen Denken der Kampf gegen den Islam inne, aus dem der kastilische und der portugiesische Nationalismus die Vergangenheit und Gegenwart begründeten. "Der erinnerte Halbmond war konstitutiv für die Entwürfe nationaler Identität auf der Iberischen Halbinsel" (21); die Erinnerungen an die islamische Vergangenheit spiegelten die Suche nach dem Selbstbild der Nation.
Untersucht wird das Islambild auf drei Ebenen: Zuerst geht es darum, wie die mittelalterliche muslimische Präsenz auf der Iberischen Halbinsel erinnert wird; sodann wird auf einer zweiten Ebene die Frage gestellt, welche Mechanismen von Inklusion und Exklusion des Islam und des muslimischen Erbes vorherrschten; schließlich wird auf einer dritten Ebene das Islambild in spanischen und portugiesischen Nationsentwürfen verglichen.
Im 19. und 20. Jahrhundert entwarfen die spanischen Historiker ihre Nationsbilder vor dem Hintergrund politisch-gesellschaftlicher Spaltung des Landes. Gemeinsam war ihnen lediglich die Suche nach (in der Gegenwart nicht vorhandener) Einheit. Dabei galt das Mittelalter als wichtige Formierungsphase der Nation, und der Kampf gegen islamische Gegner ("Reconquista") erschien als nationale Heldentat. Die zugrunde gelegten Islambilder verweisen auf unterschiedliche und miteinander konkurrierende Nationsentwürfe. Nach 1898 wurde in Spanien das muslimische Mittelalter in seiner Bedeutung für die Geschichte nicht mehr bestritten, während in Portugal das muslimische Mittelalter nicht die Epoche war, an der sich historische Diskussionen entzündeten.
Im 19. Jahrhundert musste die wissenschaftliche Arabistik in beiden Ländern um Anerkennung ringen, was auch mit der Geringschätzung der muslimischen Vergangenheit zusammenhing. Allerdings stand der von Nationalisten entwickelte Topos vom spanischen Islam bereit, so dass später der Franquismus daraus legitimatorisches Kapital schlagen konnte. Währenddessen rückte in Portugal die Arbeit der Arabistik mit Errichtung der Diktatur in den Hintergrund. In muslimischen Bauwerken manifestierten sich in Spanien Herrschaftsansprüche; daher musste die Herkunft der Bauwerke hispanisiert werden, um ihre Konservierung zu legitimieren.
Im 20. Jahrhundert traten, angesichts ihrer politischen Schwäche, iberische Kolonialpolitiker die Flucht nach vorne an und pflegten die Vorstellung, dass das islamische Gegenüber in den Kolonien aus der Geschichte zur Genüge bekannt sei. In den kolonialen Diskursen kam der Wechsel von einem negativ zu einem positiv besetzten Islambild zum Vorschein. Der Franquismus etwa entdeckte die "Brüder von der anderen Seite der Meerenge" als Verbündete im Kampf gegen republikanischen Atheismus, gemeinsame kulturelle Elemente konnten als politisches Kohäsionsmittel gelten. Der Islam gab in Spanien ebenso wie in Portugal seine Rolle als Feindbild an den Kommunismus ab.
Die in Geschichtsschreibung, Wissenschaft und Kolonialpolitik entworfenen Islambilder zirkulierten nicht nur im Kreis der Eliten, sondern sie waren auch für ein größeres Publikum gedacht. Diese Islamvorstellungen für breitere Bevölkerungsschichten werden von Patricia Hertel anhand von Schulbüchern und Jubiläumsfeiern untersucht. Im Falle Spaniens war es so, dass die Schulbuchautoren des Franquismus den Islam in seiner religiösen Dimension klar unter dem Katholizismus einordneten, das muslimische Kulturerbe jedoch hispanisierten und zu einem weiteren Ruhmesblatt spanischer Geschichte stilisierten. In Inszenierungen der Jubiläumsfeiern (Covadonga 718-1918, Las Navas de Tolosa 1212-1912) wiederum wurden hauptsächlich traditionelle, anti-islamische Stereotype produziert. Im Falle Portugals muss bei den Islambildern von ausgesprochener Heterogenität gesprochen werden: Angesprochen wurden die positiven Auswirkungen der arabischen Zivilisation auf das mittelalterliche Hispanien ebenso wie Abwertungen des Islam als Religion. Im Estado Novo erteilte das Regime die einflussreichsten Geschichtslektionen in den Jubiläumsfeiern (800-Jahr-Feier der Schlacht von Ourique 1939, Eroberung Lissabons von den Mauren 1947), welche die heilsgeschichtliche Dimension portugiesischer Geschichte betonten. Der Islam erschien dabei nicht mehr als Feindbild.
Das letzte Kapitel beschäftigt sich mit rituellen Festen; anhand der Beispiele von Neves in Portugal und Alcoy in Spanien werden zwei Arten dieser Spiele untersucht und aufgezeigt, wie das Bild eines mit dem Islam assoziierten Gegners die lokale Identität stabilisieren kann. In Portugal galten die Feste lange als Beweis für ein ursprüngliches Brauchtum, heute sind die mouriscas eine verschwindende Tradition. Insgesamt lässt sich sagen, dass auf der Iberischen Halbinsel im 19. und 20. Jahrhundert unterschiedliche Bilder des Islam koexistierten, deren Spektrum von Abwehr und Marginalisierung bis zur Aneignung und Überhöhung reichte. Das Islambild war (und ist) ein aussagekräftiger Seismograph für das nationale Selbstbild.
Die Studie von Patricia Hertel ist eine sorgfältig recherchierte, gut belegte und abgewogen argumentierende kulturwissenschaftliche Arbeit, die ein wichtiges Thema solide analysiert. Besonders hervorzuheben ist die komparative Sichtweise auf Spanien und Portugal; im Falle beider iberischer Länder werden Islam und Nationalismus in Beziehung zueinander gesetzt und schließlich miteinander verglichen. Dabei treten mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten zutage, was den differierenden Verlauf des Nationsbildungsprozesses in den zwei Ländern unterstreicht. Die Argumentationen sind nachvollziehbar, auch sprachlich bewegt sich die Arbeit auf hohem Niveau, bleibt gleichwohl stets gut lesbar. Zwei kleinere kritische Anmerkungen in Zusammenhang mit den Literaturangaben: Es bleibt unerfindlich, nach welchen Kriterien Literatur, die in den Anmerkungen zitiert wird, in die Endbibliographie aufgenommen worden ist (oder nicht). Und: Genauso wenig nachvollziehbar ist die Unterscheidung (in der Bibliographie) zwischen "Monographien und Artikel" einerseits und "Literatur" andererseits. Petitessen bei einer so guten Arbeit!
Walther L. Bernecker