Karl-Wilhelm Welwei: Nachlese. Kleine Schriften zur Sozial- und Herrschaftsgeschichte in der griechischen und römischen Welt. Herausgegeben von Iris Samotta, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012, XI + 415 S., ISBN 978-3-515-09939-4, EUR 62,00
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David Engels / Carla Nicolaye (Hgg.): Ille operum custos. Kulturgeschichtliche Beiträge zur antiken Bienensymbolik und ihrer Rezeption, Hildesheim: Olms 2008
Der dritte Band der Kleinen Schriften Welweis [1], diesmal unter der Ägide von Iris Samotta herausgegeben, wartet mit jüngeren Aufsätzen auf, die wieder einmal die Interessen- und Forschungsbreite des großen und nach wie vor in steter Schaffenskraft agierenden Althistorikers widerspiegeln. Diesmal stehen Welweis Untersuchungen zur Verkettung von antiken Sozial- und Herrschaftsstrukturen im Mittelpunkt der Betrachtungen.
In einem ersten Block werden der Orient und das frühe Griechentum mit insgesamt fünf Aufsätzen abgehandelt (3-125). Während Welwei zu Beginn die Seuchenfurcht orientalischer Herrscher in den Blick nimmt (3-16), die reale Gefahr einer herrschaftsbedrohenden Epidemie insbesondere aufgrund geographischer Bedingungen (Zersiedelung) jedoch zu Recht niedrig einschätzt, behandelt er in den folgenden Beiträgen das Los unfreier bzw. abhängiger Personen. Zuerst beschreibt er die ganz unterschiedlichen Praktiken des Menschenraubs und der Deportation von Personen in frühen Kulturen (17-39), wobei er die unterschiedlichen kulturellen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Beweggründe in methodologisch präziser Weise systematisiert. Den verschiedenen Formen der Unfreiheit im antiken Griechenland widmet er sodann dreifache Aufmerksamkeit: Zunächst arbeitet er wiederum in seiner Systematik wegweisend die unterschiedlichen Rechtsstellungen der unfreien Landbevölkerung in verschiedenen griechischen Poleis auf (41-92). Hernach widmet er sich spezieller der in der Forschung vieldiskutierten Rechtsstellung der thessalischen Penesten (93-111) und vermag insbesondere zu zeigen, dass eine angenommene Freiheit dieser Personengruppe durch Heeresdienst in der thessalischen Armee auf dem Missverständnis einzelner Quellenzeugnisse beruht. Seine "Überlegungen zur frühen Helotie in Lakonien" (113-125) greifen abschließend vor allem die alte Forschungsthese an, dass der Helotenstatus ein von Anfang an von den spartanischen Eroberern verfolgtes Konzept gewesen sei, und setzt demgegenüber eine situative Entwicklung von Abhängigkeitsverhältnissen an, die im Zuge des Zweiten Messenischen Krieges in ein geschlossenes Konzept des Helotenstatus überführt worden seien.
Der zweite Teil behandelt den Kosmos Sparta mit insgesamt vier Beiträgen: Zunächst wendet sich Welwei der spätarchaischen Zeit Spartas zu, die wiederholt in der Forschung als Zeit des Wandels hin zum spartanischen Heerlager tituliert worden ist (129-144). Hier kann er, auch gegen die neuere Forschungsthese eines Wandels erst im 5. Jahrhundert v.Chr., zeigen, inwieweit durch die Eroberungen und Helotisierung der Messenier im 7. Jahrhundert v.Chr. die verschiedenen Polisorgane Spartas Schritt für Schritt innen- wie außenpolitisch stärker in die Verantwortung gezogen wurden und sich die charakteristische "Verfassung" Spartas herausbildete. Hernach dekonstruiert er einen Teil des Sparta-Mythos, nämlich dass es eine krypteia mit regelrechter Jagd auf Heloten gegeben habe, indem er die späte Entstehung dieser Legende sowie die Widersprüche innerhalb der verschiedenen Erzählungen darüber nachweist (145-158). Ebenso kann er zeigen, wie im 5. und 4. Jahrhundert v.Chr. ein oligarchischer Verfassungstypus für Sparta als Gegenbild zur demokratischen Polis Athen konstruiert wurde, was jedoch hinsichtlich des fein austarierten Machtverhältnisses zwischen den verschiedenen spartanischen Institutionen wie der politischen Realitäten so nicht haltbar ist (159-175). Im vierten Artikel analysiert er die Machtkämpfe und das schmutzige Konkurrenzverhalten im Sparta des endenden 6. und beginnenden 5. Jahrhunderts v.Chr., das in der öffentlichen, von den Konkurrenten bewusst gesteuerten Diffamierung zweier Exponenten, Kleomenes I. und Pausanias, mündete, die zu Unrecht von der antiken Überlieferung und der modernen Forschung als machtbesessen klassifiziert worden seien (177-192).
Im dritten Teil wendet sich Welwei dem Thema "Athen - Demokratie und Machtpolitik" mit vier Beiträgen zu. Die Entwicklung hin zur athenischen Demokratie unter der Berücksichtigung zahlreicher neuer Forschungsansichten - etwa zur archaischen Gesellschaftsordnung in Attika oder der Dekonstruktion der "guten" Tyrannis des Peisistratos als notwendigem Schritt hin zur demokratischen Ordnung - bietet ein konziser Überblicksartikel (195-216). Den neuen Aspekt der geringen Anzahl an verschuldeten Athenern vor den solonischen Reformen zeichnet der Aufsatz zu "Ursachen und Ausmaß der Verschuldung attischer Bauern um 600 v.Chr." aus (217-231). Wiederum die Absprache einer die demokratische Entwicklung befördernden Funktion der athenischen Tyrannis des Peisistratos und dessen Söhnen enthält die folgende Untersuchung (233-248). Zuletzt widmet sich Welwei der Entwicklung des Gerichtswesens und zeigt daran die Besonderheit der athenischen Demokratie als Polisordnung, auf die moderne Konkurrenz-Demokratie-Vorstellungen wie Gewaltenteilung nicht angewendet werden können (249-263).
Der vierte Teil, mit "Rom und Europa" überschrieben, bietet ein Sammelsurium verschiedener Beiträge von der frührömischen Epoche bis in die Spätantike. Die kritisch wertende Rezension zu zwei neuen Forschungswerken zu den gentes und tribus in Rom erweist, wie fruchtbar die Übertragung von Analyserastern aus der griechischen Forschung, hier zur Funktion von génē , Phratrien und Phylen, auf die römischen Verhältnisse sein kann, auch wenn aufgrund der Quellenlage die gentes nicht immer genau umschrieben werden können, jedoch auf jeden Fall von den gentiles zu scheiden sind (267-271). Der vielfach wechselnden römischen Expansions- und Herrschaftsstrategie im germanischen Raum in der Frühen Kaiserzeit widmen sich gleich zwei Aufsätze, wobei neuere, insbesondere archäologische Forschungsergebnisse, etwa zur Dauer des Bestandes des Legionslagers Haltern oder den Funden einer römischen Siedlung in Waldgirmes, kritisch gewürdigt werden (273-309; 311-322). Bezüglich Konstantin d. Gr. konstatiert Welwei einen längeren, nicht allein an der ausführlich diskutierten Erscheinung vor der Schlacht an der Milvischen Brücke festzumachenden Übergang hin zur Förderung des Christentums und legt weitere wegweisende Entscheidungen des Kaisers, etwa die Einweihung der neuen Residenzstadt Konstantinopel, für das spätere Europa dar (323-342). Die beiden letzten Aufsätze widmen sich dann einem juristischen Phänomen, nämlich dass die römischen Juristen trotz der Anerkennung des ius naturale als höherer Rechtsinstanz an der Sklaverei, begründet durch ius gentium, festhielten und sich auch in der römischen Gesellschaft abgesehen von Einzelereignissen sowie der stoischen Ethik kein kollektiver Abolitionismusgedanke etablierte (343-353, 355-367).
Zu den Originalbeiträgen sind kleinere Corrigenda ebenso aufgeführt (369f.) wie Zusammenfassungen in deutscher wie englischer Sprache gegeben (371-385). Ein Schriftenverzeichnis mit Ausweis der in die Kleinen Schriften aufgenommenen Beiträge (386-403), Register zu Personen, Orten und Begriffen / Institutionen (404-415) runden den vorbildlich produzierten Band ab.
Wie schon die ersten beiden Bände zeugt die "Nachlese" nicht nur von der schier unglaublichen Forschungstätigkeit Welweis, sondern stellt diese oft grundlegenden, jedenfalls immer hervorragend als Ausgangspunkt für weitere Forschungen dienenden, aber sonst nur verstreut wahrnehmbaren Beiträge für eine zu erhoffende breite Rezeption in der Wissenschaftslandschaft zur Verfügung.
Anmerkung:
[1] 1. Band: Polis und Arché. Kleine Schriften zu Gesellschafts- und Herrschaftsstrukturen in der griechischen Welt, hrsg. v. Mischa Meier, Stuttgart 2000 (=Historia-Einzelschriften; 146); 2. Band: Res publica und Imperium. Kleine Schriften zur römischen Geschichte, hrsg. v. Mischa Meier und Meret Strothmann, Stuttgart 2004 (=Historia-Einzelschriften; 177).
Sven Günther