Doris Gerber: Analytische Metaphysik der Geschichte. Handlungen, Geschichten und ihre Erklärung (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft; 2038), Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2012, 308 S., ISBN 978-3-518-29638-7, EUR 15,00
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Die Wellen der Verunsicherung über den Status der eigenen Wissenschaftlichkeit, die der Narrativismus eines Hayden White und Frank Ankersmit oder der Foucaultsche und der literarische Poststrukturalismus in der akademischen Historie geschlagen haben, sind weitestgehend verrauscht. Ein neuer Pragmatismus hat sich breit gemacht, der recht hemdsärmelig eine Rückkehr zu eigentlich fragwürdig gewordenen Gewissheiten praktiziert und im vor allem in filmischen Medienprodukten zur Schau gestellten Anspruch auf größtmögliche "Authentizität" oder einer fast schon als Fetisch beschworenen neuen "Materialität" seinen bisherigen Gipfelpunkt erreicht hat. Eine korrekt eingefärbte Koppelschnalle verbürgt aber noch nicht die "Wahrheit" der mit ihrer Hilfe vielleicht besonders eindrucksvoll erzählten Geschichte.
Die erkenntnistheoretische Debatte in der Geschichtswissenschaft ist dagegen abgeflaut, so als scheuten Historiker heute, sich grundsätzliche Gedanken über die epistemologischen Grundlagen ihrer Disziplin zu machen, nachdem man die oben angesprochenen Verunsicherungen mit dem Verweis auf den "gesunden Menschenverstand" mehr oder minder abgetan oder mit Hinweis auf die nicht abzuleugnende Realität des Holocaust moralisch gewissermaßen tabuisiert hatte. Mit einem solchen wenig reflektierten neuen "Realismus" jedoch sind die erkenntnistheoretischen Probleme der Geschichtswissenschaft, sofern sie weiter den Anspruch verfolgt, als Wissenschaft zu gelten, auf absehbare Zeit nicht gelöst.
So ist das Angebot einer Geschichtsphilosophin wie Doris Gerber, eine solche Grundlagendebatte nicht nur zu führen, sondern auch eine Lösung für jene Probleme in den Raum zu stellen, für Historiker, die mit dem Stand der Diskussion unzufrieden sind, willkommen und interessant. Obwohl mit Metaphysik überschrieben, betreibt Doris Gerbers Tübinger Habilitationsschrift doch eher eine Ontologie der Geschichte. Denn sie setzt der kategorischen Verabsolutierung der Textualität durch Narrativismus und Poststrukturalismus die existenzielle Bindung der Geschichte an Menschen und ihre Seinszustände entgegen. Das ist zunächst ein sympathisches Argument, denn es nimmt das Bedürfnis ernst, das menschliche Akteure nach ihrer Geschichte haben, die demzufolge als "wahr" zu präsentieren ist, um akzeptiert zu werden. Insofern kann Geschichte nicht ein Text unter vielen sein, sondern ist aus guten Gründen eine als solche erkennbare und identifizierbare Textsorte. Nicht nur der "Wahrheitsanspruch", wie auch immer er eingelöst werden kann, setzt Geschichte von anderen Textsorten ab. Vielmehr macht sie besonders, dass sie von Menschen handelt, und dabei nicht von fiktiven Charakteren, sondern von konkreten Personen, die in Raum und Zeit situierbar sind und die tatsächlich existiert haben.
Geschichte zeichnet sich also gegenüber anderen Textgenres durch genau die ontologische Qualität aus, die etwa manche Poststrukturalisten als "Substantialismus" missverstanden haben. Aber dies ist eigentlich eine minimale Ontologie, die keineswegs die Tatsächlichkeit oder gar Dominanz konkreter Sozialformen vorwegnimmt. Doris Gerber freilich fasst diesen Zusammenhang enger und will als Geschichte "Geschichten" als die ontologisch gegebene Form verstanden wissen, in der sich menschliche Akteure über die Vergangenheit verständigen. Damit werden nicht die historischen Personen, sondern die "Geschichten" selbst zu ontologischen Tatsachen.
Das aber bedeutet letztlich die Rückkehr zu einem "Realismus", der ebenso naiv erscheint wie der oben angesprochene theorieabstinente "neue Pragmatismus". Allen Ernstes postuliert Doris Gerber, "dass das historische Geschehen eine reale Struktur hat, die den spezifisch historischen Zusammenhang der Ereignisse konstituiert. Diese reale Struktur ist eine zeitliche und kausale Struktur von Handlungsereignissen." (198) Man mag dabei durchaus noch ein Stück mitgehen und eine strukturierte Vergangenheit annehmen, die von Kausalbeziehungen und Wiederholungsstrukturen geprägt ist. Höchst zweifelhaft aber ist, ob man diese strukturierte Vergangenheit einfach nur freilegen müsse, um sie als "real" zu erkennen, und ob sie in den "Geschichten", die über sie erzählt werden, "realistisch" - und das heißt auch vollständig - repräsentiert sind. Träfe dies zu, wären die Vergangenheit und ihre Repräsentation identisch, würde sich die Vergangenheit in ihren "Geschichten" quasi selbst repräsentieren, und wir Historiker wären doch nichts anderes als ungeschickte und oft betriebsblinde Archäologen.
Doris Gerber begründet diesen "Realismus" mit dem Argument, dass "Geschichten" nicht deswegen eine ontologische Tatsächlichkeit zukäme, weil sie die Form darstellen, in der menschliche Akteure über die Vergangenheit kommunizieren - das würde nur implizieren, dass Geschichte letztlich eine narrative Struktur annehmen muss, um verständlich zu sein. Nein, für Gerber besitzen "Geschichten" eine ontologische Qualität, weil sie von "Handlungsereignissen" berichten, und nur der Mensch sei zu "Handlungen" fähig. Er ist dies, weil "Handlungen" "Intentionalität" voraussetzen, und nur der Mensch, nicht Artefakte oder gar abstrakte "Strukturen", sei ein "intentionales" Wesen. Insofern ist für sie "Intentionalität [...] die Bedingung für Geschichte". (197)
Die soziologische und historische Praxistheorie hat den Handlungsbegriff nicht verworfen, aber relativiert. Das geht zurück bis auf Max Weber, der die Formen des "Handelns" als Grenzphänomene im Strom des "bloßen Sichverhaltens" begriff. Das "Handeln" der Akteure in der Praxistheorie ist ein bewusstes, aber nicht zwingend bewusst gemachtes Steuern kontinuierlicher Praktiken, denen ein komplexes Motivationsmuster unterliegt und die notwendig einen sozialen Kontext implizieren. "Handeln" als eine Sequenz diskreter Einzelakte fasst diese Komplexität sozialer Praxis nicht adäquat - genau diese Vorstellung wird jedoch von Doris Gerber revitalisiert, eine gravierende Engführung des Handlungsbegriffs. Als Nebenbemerkung: Nur wenn man "Handlungsereignisse" in diesem Sinne als scharf abgegrenzte Folge einzelner Begebenheiten versteht, kann man "Geschichten" als limitierte Sequenz solcher "Handlungsereignisse" definieren.
Anthony Giddens hat in seinem praxistheoretischen Angebot "Intentionen" nicht ausgeschlossen, ihre Rolle aber auch stark relativiert. Zum einen laufen sie zumindest teilweise im Strom der Aktivitäten der Akteure ins Leere, insofern diese mit uneingestandenen oder nicht erkannten Handlungsbedingungen und nicht intendierten Nebenfolgen ihres Handelns zu kämpfen haben. Beide Dimensionen des Handelns, die bei Giddens mit entscheidend sind für die Reproduktion sozialer Strukturen, werden von Doris Gerber konsequent heruntergespielt. Zum anderen aber nennt Giddens "Projekte" als einen umfassenderen Aktivitätskomplex, in dem "Intentionen" eine Rolle spielen können, der aber wiederum viele Praktiken umfassen kann, die ihrerseits wenig intentional stimuliert sind. Auch in den "Projekten" - wie etwa dem angestrebten Erwerb eines Hochschuldiploms - müssen nach Giddens Gründe (nach außen) und Motive (nach innen) unterschieden werden; auch spielen "einverleibte", etwa erziehungsbedingte, "Verhaltensprogramme", die im "praktischen Bewusstsein" eingespeichert sind und nur diskursiv werden, wenn man sie ausdrücklich befragt, eine wesentliche Rolle. Alles das ändert nichts daran, dass der menschliche Akteur bei Giddens "a knowledgeable agent" mit beachtlichem Wissen über seine soziale Umwelt ist. Aber er ist kein solipsistischer Gestalter seines eigenen Kosmos.
Das ist er bei Doris Gerber. Zwar definiert sie "Intentionen" zunächst sehr weit als "distinkte intentionale Zustände", die offen lassen, wie bewusst sie sind, um aber im selben Satz stark einzuengen, dass diese "Zustände" "die intendierte Handlung begrifflich repräsentieren". (167) Ja, was denn nun? Der zweite Halbsatz macht "Intentionen" zu einer rationalen Begründung, die der Akteur sich selbst gegenüber, aber auch gegenüber Dritten sprachlich formulieren kann. Was ist, wenn er sich selbst oder anderen etwas vormacht? Solche gemischten Motivationslagen - darunter uneingestandene - und ihre womöglich stark differierenden Begründungen hatte Giddens ins Kalkül gezogen. Bei Doris Gerber müssen sie logisch ausgeschlossen bleiben - denn sonst passt unter Umständen die erzählte "Geschichte" nicht zu den tatsächlichen Handlungsmotivationen. "Intentionen" müssen bei ihr aber "wahre Motivationen" sein, weswegen sie auch - wenig überzeugend - "Gründe", also Begründungen gegenüber Dritten, nur insoweit gelten lassen und von Intentionen unterschieden wissen will, wie diese "motivierender" und nicht "normativer" Natur sind (53, 171f.).
Die unverrückbare Bindung von "Handlungsereignissen" an "Intentionen" ist dem Argument geschuldet, dass Doris Gerber zwar eine kausale Beziehung zwischen "Intention" und "Handlung" voraussetzen muss, die Gefahr, in eine deterministische Sichtweise abzugleiten - Kausalität als Gesetzmäßigkeit - aber unbedingt vermeiden will. Sie will dies deshalb, weil Geschichte für sie kein linearer Entfaltungsprozess ist, sondern ein kontingentes Geschehen, das an jeder Weggabelung "Möglichkeiten" beinhaltet. Allein diese Kontingenz macht ja Geschichte als das Erzählen konkreter "Geschichten" notwendig und produktiv. Die "Möglichkeiten" - eigentlich eine ex negativo-Bestimmung von Kausalität - sind für sie ein erster Rechtfertigungsgrund für ihren Begriff der "Intentionalität": "Geschichten implizieren Möglichkeiten und Möglichkeiten implizieren Intentionalität." (25) "Intentionalität" steht somit für die historische Wahlmöglichkeit der Akteure und die Offenheit des historischen Prozesses. Die "Geschichten" künden dann von getroffenen Wahlen und der situativen Schließung eines eigentlich offenen historischen Vorgangs.
Natürlich sind diese Probleme unter dem Stichwort der "Handlungsspielräume" schon seit langem in der Geschichtswissenschaft verhandelt worden. Aber Doris Gerber meidet eine solche Begrifflichkeit, weil sie zu sehr an die Vorherrschaft abstrakter "Strukturen" erinnerte, wie sie überhaupt meint, dass die praxistheoretischen Vorschläge zur konzeptionellen Ausbalancierung von "structure" und "agency" doch nichts anderes als verkappte Fortschreibungen der Strukturdominanz seien. Ihre Behandlung von praxistheoretischen Ansätzen wie dem aus der Feder Anthony Giddens' ist freilich, um es gelinde zu sagen, unterkomplex. Aber ihr geht es darum, auch sozial aggregierte Verhältnisse wie Gesellschaften oder so etwas wie kollektives Handeln in ihrem Sinne anders zu erklären als durch Rückführung auf "Strukturen". "Es sind nicht abstrakte Strukturen, die auf geheimnisvolle Weise Menschen beeinflussen", sagt sie an einer Stelle, "sondern es sind intentional handelnde Personen, die sich beeinflussen lassen." (291) Nun würde jeder Praxistheoretiker der These zustimmen, dass "Strukturen" außerhalb der Praxis der Akteure keinen Raum haben, aber bei Doris Gerber geht das Argument ja weiter, nämlich, dass "Strukturen" dem "intentionalen Handeln" der Akteure keine Schranken setzen können, es sei denn, sie sind so blöd, daran zu glauben.
Hintergrund dieser Auseinandersetzung ist, wie gesagt, der Versuch, aggregiertes oder kollektives Handeln anders zu erklären denn als Vollzug von Strukturzwängen. Deshalb experimentiert sie mit dem hochproblematischen Konzept der "kollektiven Intention", das nicht implizieren soll, dass das Kollektiv der Träger der "Intention" ist, wie im sprichwörtlichen Begriff des "Klasseninteresses". "Kollektive Handlungen" seien vielmehr "mentale Zustände von individuellen Personen; es gibt keine kollektive Entität, die als solche eine Intention haben könnte." (287) Kollektive Handlungen müssten sich somit aus einem Aggregat gleichlaufender individueller Intentionen erklären lassen - die Forschung zu sozialen Bewegungen, das wäre die simpelste Form kollektiver Handlungen, betont dagegen den Grad von Organisation, der notwendig ist, ein scheinbar "kollektives" Handlungsmuster wie eine Demonstration zustande zu bringen, sowie Prozesse der Gruppendynamik, die unterschiedlichste Motivationen zur Aktion drängen lassen, von "Intentionen" als begründungsfähige begriffliche Repräsentationen ganz zu schweigen.
Schriebe man Geschichte nach dem Rezept, das Doris Gerber empfiehlt, wären wir wieder bei einer Geschichte alter weißer Männer, einer Geschichte, die sich in Episoden abgrenzen lassen müsste und deshalb vielleicht schon als solche vorformuliert worden sind. Es wäre eine Geschichte der Sieger, denn Scheitern ist nicht vorgesehen, und Intentionen ohne anschließenden Handlungsvollzug lassen sich laut Giddens nicht erfassen. Eine magere Ereignisgeschichte großer Persönlichkeiten würde wieder zum beherrschenden Muster. Selbst dann: Können wir eine Geschichte des Jahres 1942 anhand der Intentionen Adolf Hitlers schreiben? Was ist, vom Scheitern abgesehen, dort Begründung, was Motiv? ("Ich wollte an die Wolga kommen, an einem bestimmten Platz ...").
Aber empirische Geschichtsschreibung ist nicht Doris Gerbers Referenzpunkt. Sie entwickelt ihre Argumentation ganz aus den logischen Schlüssen einer analytischen Philosophie. Das bleibt hermetisch. Vielleicht ist es doch nicht ratsam, die erkenntnistheoretische Debatte in der Geschichtswissenschaft den Philosophen zu überlassen.
Thomas Welskopp