Rezension über:

Bo Stråth: Sveriges historia. 1830-1920, Stockholm: Norstedts 2012, 712 S., ISBN 978-91-1-302442-4, SKR 514,00
Buch im KVK suchen

Yvonne Hirdman / Urban Lundberg / Jenny Björkman: Sveriges historia. 1920-1965, Stockholm: Norstedts 2012, 686 S., ISBN 978-91-1-302390-8, SKR 514,00
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Thomas Etzemüller
Carl von Ossietzky Universität, Oldenburg
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Thomas Etzemüller: Schwedische Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert (Rezension), in: sehepunkte 13 (2013), Nr. 7/8 [15.07.2013], URL: https://www.sehepunkte.de
/2013/07/23187.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Schwedische Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert

Textgröße: A A A

Hierzulande gibt es mittlerweile eine größere Auswahl an Synthesen zur deutschen Geschichte. In Schweden ist das Genre bislang weniger gefragt. Es gibt mehrbändige Darstellungen der Agrar- und Pressegeschichte, eine Kulturgeschichte des Signum-Verlages, die ihre Themen allerdings eher nach dem Zufallsprinzip addiert hat, außerdem einbändige Darstellungen der Politikgeschichte oder Handbücher für Studierende. Die letzte groß angelegte Gesamtdarstellung der schwedischen Geschichte stammt von dem Publizisten Herman Lindqvist und ist in den 1990er Jahren erschienen. Und jetzt hat der Norstedt-Verlag eine ganze Reihe renommierter schwedischer Historiker versammelt, um in acht Bänden die schwedische Geschichte von - tatsächlich! - 13 000 vor Christus bis zum Jahre 2012 auf dem neuesten Stand der Forschung verfassen zu lassen. Die hier zu besprechenden sechsten und siebten Bände der Gesamtreihe zeigen, dass das Unternehmen insgesamt außerordentlich geglückt ist. Sie umfassen im Wesentlichen den Zeitraum der industriellen Moderne von 1830 bis 1965 und sind im besten Sinne populär-wissenschaftlich für ein breites Publikum und zugleich die Fachgemeinde geschrieben.

Die beiden Bände fassen die aktuelle Forschungsliteratur zuverlässig zusammen und geben auf insgesamt über 1 200 Seiten einen konzisen Überblick über die Politik-, Sozial- und Kulturgeschichte des Landes. Eingefügt in die Darstellung sind eine Reihe vertiefender kulturhistorischer Querschnittsartikel, etwa über die Rolle der Freikirchen, zur Migration, zur Klimageschichte oder zum Zusammenhang von Sport und Demokratie. Jenny Björkman zeichnet im zweiten Band mit ausführlicheren Kapiteln zur Alkoholproblematik und zum Wohnen verantwortlich, die für die schwedische Gesellschaftspolitik des 20. Jahrhunderts eine wesentlich größere Rolle spielten als in Deutschland. Besonders Hirdman und Björkman weben außerdem an vielen Stellen geschickt die Situation der Frauen und die Veränderung der Geschlechterrollenmodelle in die Kultur-, Sozial- und Politikgeschichte ein. Durch Anekdoten, Tagebuchpassagen oder Auszügen aus Schulbüchern verschränken zudem alle vier Autoren immer wieder Makro- und Mikrogeschichte auf plastische Weise.

Das, was deutsche Historiker gerne als "Europäische Geschichte" bezeichnen und oft immer noch als entscheidende Zäsuren "der" modernen Geschichte postulieren, also den Kampf zwischen autoritär/totalitären und westlich-demokratischen Systemen, der zwischen Erstem Weltkrieg und 'Drittem Reich' kulminierte, wird hier relativiert. Für Schweden sind ganz andere Umbrüche von Bedeutung: Die Jahre um 1810 mit einer großen Verfassungsreform, dem Verlust Finnlands und der Union mit Norwegen (Stråth wählt allerdings den Durchbruch des Liberalismus um 1830 als entscheidenden Einschnitt), 1920 mit der Durchsetzung des parlamentarischen Prinzips, 1932 mit dem Beginn der Jahrzehnte währenden Herrschaft der Sozialdemokratie und der Ausgestaltung des "schwedischen Modells" (sowie die 1990er Jahre mit einer schweren Wirtschaftskrise).

Beide Bände zeichnen das Bild eines Landes, das seit dem 19. Jahrhundert einerseits abseits der kontinentalen Großmachtpolitik stand, nachdem es seine Militärmaschine der Frühen Neuzeit verloren hatte, dessen Geschichte andererseits aber ohne den europäisch-amerikanischen Kontext nicht zu schreiben wäre. Das arbeiten die Autoren immer wieder heraus, und sie verweisen mit dem eigentümlichen Stolz, den selbst kritische Wissenschaftler in Schweden nie ganz ablegen können, auf den Einfluss ihrer Nation in der Welt: technische Errungenschaften, die frühe und bemerkenswerte Basisdemokratisierung der Gesellschaft (bei relativ spätem allgemeinen Wahlrecht für Frauen), die europaweit rezipierten kulturpolitischen Debatten um 1900 sowie, natürlich, das weltweit vorbildhafte Sozialstaatsmodell, das bis heute die schwedische Identität entscheidend prägt und hier, gegen die Klischees außerhalb Schwedens, in seiner Komplexität geschildert wird: die mühsame Implementierung, die zahlreichen Konflikte, die "Schattenseiten".

Die Bände konzentrieren sich nicht nur auf die Sozialgeschichte sowie eine chronologische Erzählung der (politischen) Ereignisgeschichte. Vielmehr bemühen sie sich darum, die alltags- und gesellschaftsgeschichtliche Bedeutung der teils fundamentalen technischen Entwicklungen und kulturellen Prozesse herauszuarbeiten. Das gelingt besonders in den kulturhistorischen Querschnittsartikeln und Björkmans Kapiteln, die sich auf eine gute Forschungslage stützen können. Sie zeigen, dass Freilichtmuseen, Alkoholfrage oder Geschmackserziehung seit dem 19. Jahrhundert konstitutive Elemente des inneren nation building und der schwedischen Identität waren und teilweise die Politik bis heute prägen. Aber auch Stråth und Hirdman meistern, je nach Forschungslage und persönlicher Kompetenz, diese Verflechtung an zahlreichen Stellen sehr gut. Dadurch verkommt "Kultur" nicht zum Anhängsel einer vermeintlich "eigentlichen" Geschichte.

Weil solche Synthesen freilich die Geschichte der Nation als Ganzes in den Blick nehmen, die politischen Prozesse und die großen Debatten vor allem in den (Haupt-)Städten stattfanden, außerdem technologisch-kulturelle Prozesse oft das gesamte Reich betrafen, kommen auch hier, wie bei uns, die Regionen und das Land etwas kurz. Was unterschied beispielsweise die lokalen Mikrokosmen Göteborg oder Malmö von Stockholm? Wie sah das politische Verhältnis Norrlands [Nordlands], dem "Amerika Schwedens" zur Zentralmacht in der unbeliebten Hauptstadt Stockholm aus? Spielten Regionalismen eine Rolle für das politische Funktionieren des Staates? Wie veränderten sich Lebensformen und die Identität Schwedens, seit im Zuge der Industrialisierung die Landschaft neu modelliert wird und die demografische Struktur sich verschiebt? Interessante Hinweise auf diese Fragen finden die Leser in beiden Bänden eine ganze Reihe, aber das Verhältnis von Land und Reich bleibt ein gewisses Defizit (es wird allerdings im achten Band der Reihe von Kjell Östberg knapp, aber instruktiv behandelt).

Konzeptionell lehnt Stråth sich an Max Webers Unterscheidung von Politik, Wirtschaft und Kultur an, ohne sie aber als drei streng voneinander getrennte Bereiche behandeln zu wollen. Hirdman, Lundberg und Björkman interessiert eine solche Konzeptionalisierung kaum, ebenso wenig eine Begründung der Zäsuren ihres Bandes - vielleicht weil diese Daten in Schweden ähnlich markant sind wie etwa das Jahr 1949 für die Geschichte der deutschen Nachkriegsstaaten. Beide Bände versuchen, die Widersprüchlichkeit historischer Prozesse einzufangen, tendieren aber dazu, ihre Geschichte doch stringent nach vorne zu erzählen. Hirdman, Lundberg und Björkman charakterisieren ihre Epoche am Ende sogar unverhohlen als Fortschrittsgeschichte, weil alles besser geworden sei. Stråth spricht dagegen von einer "Übergangsgesellschaft in ständigen, konfliktgeladenen Verhandlungen, wie die Zukunft gestaltet werden soll" (646), als Zeit, in der die schwedische Nation sich ausbildete und eine "Symbiose mit dem [sic] Modernen" (19) einging. Bei Stråth spielen Monarchie und Liberalismus, in Hirdmans Band die Sozialdemokratie die tragenden Rollen, denn das waren die großen politischen Akteure, die in der Moderne die Gesellschaftspolitik maßgeblich geprägt haben. Der Anlage der Gesamtreihe geschuldet, reißen Themenstränge manchmal ab oder werden, je nach Präferenzen der Autoren, mit anderen Schwerpunkten fortgeführt. Während Stråth beispielsweise Gutshäuser (auch) als symbolische Ordnungen skizziert, konzentriert sich Hirdman eher auf die Gesindewohnungen als Ausdruck sozialer Ungerechtigkeiten.

Die Bände sind reich bebildert, gut zu lesen und bieten ein breites, facettenreiches Panorama der schwedischen Geschichte. Eine Neuinterpretation dieser Geschichte gegen die bisherige Forschungsliteratur setzen sie nicht, vielleicht, weil sie sich nicht gegen konkurrierende Synthesen absetzen müssen. Aber sie bilden wichtige Bausteine auf dem Weg zu einer europäischen Geschichte der Moderne, die deren Vielfalt ernst nehmen müsste, statt sie auf ein "Zeitalter der Extreme" zu reduzieren. Eine Übersetzung dieses Werkes wäre sehr wünschenswert.

Thomas Etzemüller