Michael Brenner (Hg.): Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis zur Gegenwart. Politik, Kultur und Gesellschaft, München: C.H.Beck 2012, 542 S., 2 Kt., 62 Abb., ISBN 978-3-406-63737-7, EUR 34,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Michael Brenner: Kleine jüdische Geschichte, München: C.H.Beck 2008
Michael Brenner: Israel. Traum und Wirklichkeit des jüdischen Staates von Theodor Herzl bis heute, München: C.H.Beck 2016
Michael Brenner / David N. Myers (Hgg.): Jüdische Geschichtsschreibung heute. Themen, Positionen, Kontroversen, München: C.H.Beck 2002
Das deutsch-jüdische Verhältnis ist ein viel behandelter Teil der deutschen Geschichte; es wird jedoch oftmals auf den Holocaust reduziert. Der Zeit nach 1945 wurde demgegenüber bislang eher weniger Beachtung geschenkt. Gesamtdarstellungen auf überzeugender Quellenbasis sind nach wie vor Mangelware. Insgesamt gibt es überhaupt nur eine Handvoll Bücher, die eine Gesamtdarstellung versuchen.[1] Die Epoche ist lediglich Gegenstand mehrerer Einzelwerke, die Ausschnitte dieser Geschichte beleuchten.[2]
Das vorliegende Werk beginnt nach der Katastrophe und führt den Leser bis zur Beschneidungsdebatte des Jahres 2012. Der Herausgeber ist Professor für jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität München und Internationaler Vizepräsident des Leo Baeck Instituts. Die Autorinnen und Autoren sind renommiert und sachkundig: Dan Diner, Norbert Frei, Lena Gorelik, Constantin Goschler, Atina Grossmann, Anthony Kauders, Tamar Lewinsky und Yfaat Weiss. Das Werk gilt als inoffizieller fünfter Band der "Deutsch-jüdische(n) Geschichte in der Neuzeit", herausgegeben vom Leo Baeck Institut (der vierte Band endete 1945). Dies kann als hoffnungsfrohes Signal verstanden werden, zumal einige Stimmen bestreiten, dass es eine deutsch-jüdische Geschichte nach 1945 überhaupt gibt und die Ansicht vertreten wird, dass der Nationalsozialismus und der Holocaust das deutsche Judentum unwiederbringlich zerstört haben.
Deutschland galt nach 1945 als mit einem Bann belegt, einem "Cherem", der es Juden untersagte, sich in diesem Land aufzuhalten. Nie wieder sollte etwas Jüdisches in diesem "verfluchten" Land existieren. Der Holocaust hatte das mühsam erarbeitete deutsch-jüdische Vertrauen anscheinend radikal zerstört. Der Herausgeber sagte in einem Interview: "Dass nach der Katastrophe, nach dem, was Juden in Deutschland angetan wurde, noch einmal jüdisches Leben hier blühen sollte, war für jüdische Gemeinden [...] eigentlich ein Unding. Das durfte nicht sein."[3] Dennoch gedieh das Jüdische in Deutschland über die folgenden Jahrzehnte, was das vorliegende Werk eindrucksvoll belegt.
Das sehr flüssig geschriebene Buch leitet durch 60 Jahre Geschichte einer organisierten Glaubensgemeinschaft. Es ist in vier Teile gegliedert, die jeweils bedeutenden historischen Abschnitten entsprechen. So behandelt der erste Teil die Zeit nach dem Holocaust bis zur Auflösung der Lager für Displaced Persons (DPs) 1949, Teil zwei verfolgt die Geschichte der jüdischen Gemeinden in beiden deutschen Staaten bis 1967, der dritte Teil beschreibt die Situation bis zur friedlichen Revolution 1989 und der letzte Teil das "Wunder" der russischen Zuwanderung und ihre Folgen. In dreizehn Kapiteln werden umfassend die Geschichte einer religiösen Minderheit und ihre Rolle in Politik, Kultur und Gesellschaft präsentiert.
Die Epochenabgrenzungen sind dabei klar nachvollziehbar. Insbesondere die gelungene Darstellung der wechselvollen Debatten, die jüdisches Leben in Deutschland geprägt haben, vermittelt einen hohen Informationsgehalt. Das insgesamt gut aufgebaute und abwechslungsreich geschriebene Werk hebt sich vor allem durch die innerjüdische Perspektive seiner Autoren hervor. Es liefert einen ergiebigen Anhang, der neben einer Zeittafel und einem Orts- und Personenregister ein besonders hervorzuhebendes Verzeichnis der gedruckten Quellen und Literatur umfasst.
Nach dem Krieg saß zwar der Großteil der Juden in Deutschland auf den vielzitierten gepackten Koffern, aber dies oft nur in der ersten Generation. Die meisten Juden waren DPs aus Osteuropa, von denen der Großteil eigentlich fort wollte, doch mit der Auflösung der letzten DP-Lager blieben sie dennoch. Bis 1949 waren die Alliierten der Ansprechpartner für ihre Angelegenheiten, danach prägten die beiden deutschen Staaten die Geschichte immer mehr. Die Beziehungen der beiden deutschen Staaten zum ebenfalls neu gegründeten Staat Israel wurden zu einem großen Thema der deutsch-jüdischen Geschichte. Und der deutsche Umgang mit der Jüdischen Gemeinde - insbesondere im Hinblick auf etwaige antisemitische Tendenzen - wurde von den Siegermächten genauestens beobachtet. Antisemitismus galt als Alarmsignal für ein etwaiges antidemokratisches Denken der Deutschen, deren Umerziehung man anstrebte. Gleichwohl war jüdisches Leben kaum in der Öffentlichkeit präsent, Synagogen fand man beispielsweise häufig in Hinterhöfen. Seit den späten sechziger Jahren kam es zumindest in Westdeutschland zu einer intensiven Beschäftigung mit der NS-Zeit, wohl auch geprägt durch eine neue Generation. Damit einhergehend entwickelte sich ein zunehmendes Interesse an allem Jüdischen.
Zwanzig Jahre später veränderte der Mauerfall die jüdische Geschichte in Deutschland völlig. "Der größte Wandel in der deutsch-jüdischen Existenz nach dem Holocaust kam jedoch völlig unerwartet 1989 ausgerechnet an jenem 9. November, an dem 51 Jahre zuvor in ganz Deutschland die Synagogen brannten." (13) Einer der letzten Volkskammerbeschlüsse erlaubte osteuropäischen Juden ein Zuzugsrecht, so dass Deutschland das Land mit der höchsten Wachstumsrate der jüdischen Gemeinden weltweit wurde. So gab es nicht nur mehr Juden, auch der Altersdurchschnitt sank signifikant. Darüber hinaus kam es zu neuen Fragestellungen, etwa: Wie soll sich das Zusammenleben der Eingesessenen und Neuankömmlinge gestalten?
Der letzte Teil des Buches ist als vorläufige Bestandsaufnahme der Gegenwart zu sehen, wobei auch die Beschneidungsdebatte 2012 thematisiert wird. Die Schlussfolgerung, dass die Geschichte (und die Gegenwart) der Juden in Deutschland eine ungewöhnliche bzw. noch nicht normale ist, lässt sich kaum bestreiten. Frei nach Ignatz Bubis: Die einzige Normalität besteht darin, dass es keine Normalität gibt.
Die "Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis zur Gegenwart" ist das Standardwerk zum Thema, kein anderes Buch vermittelt einen so guten Überblick. Es ist gut lesbar und ermöglicht durch den Anhang eine eigene wissenschaftliche Beschäftigung mit der Thematik. Natürlich ist der Holocaust vielfacher Bezugspunkt dieser Geschichte, aber es geht vorrangig um andere Aspekte deutsch-jüdischer Geschichte: Wie war das Leben in den DP-Camps? Was hatte es mit dem Fassbinder-Streit auf sich? Wie fühlten sich die osteuropäischen Juden im "neuen" Deutschland? Sowohl die persönliche als auch die strukturelle Geschichte der Juden in Deutschland wird sachkundig und facettenreich dargestellt.
Allein bei der Darstellung der Entwicklung der jüdischen Gemeinden in West- und Ostdeutschland wird der westdeutsche Standpunkt des Betrachters deutlich sichtbar, allein schon wegen der intensiveren Behandlung der westdeutschen Gemeinde. Dies hat aber angesichts der sehr unterschiedlichen zahlenmäßigen Verteilung der Gemeindemitglieder in der Bundesrepublik und der DDR durchaus seine Berechtigung. Das Buch wird in jeder Fachbücherei verfügbar sein; aber auch über die Fachbibliothekswelt hinaus kann es den interessierten Leser bereichern.
Anmerkungen:
[1] Die vielleicht beste Gesamtdarstellung stammt von Arno Herzig: Jüdische Geschichte in Deutschland. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 2. Aufl., München 2002.
[2] Olivier Guez: Heimkehr der Unerwünschten. Eine Geschichte der Juden in Deutschland nach 1945, München 2011; Stephanie Tauchert: Jüdische Identitäten in Deutschland. Das Selbstverständnis von Juden in der Bundesrepublik und der DDR 1950 bis 2000, Berlin 2007.
[3] Vgl. www.dradio.de/dlf/sendungen/andruck/1932797/ (Michael Brenner in einem Interview am 26. November 2012).
Murat Akan