Anna Marie Johnson / John A. Maxfield (eds.): The Reformation as Christianization. Essays on Scott Hendrix's Christanization Thesis (= Spätmittelalter, Humanismus, Reformation; Bd. 66), Tübingen: Mohr Siebeck 2012, XII + 430 S., ISBN 978-3-16-151723-5, EUR 109,00
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Der Sammelband ist eine "Festschrift" (3) zum 70. Geburtstag von Scott Hendrix (geb. 1942), der zuletzt am Princeton Theological Seminary lehrte und in jungen Jahren ein Schüler von Heiko Augustinus Oberman (1930-2001) in Tübingen gewesen war. Hendrix hatte, grundlegend und ausführlich in seiner 2004 erschienenen Monografie Recultivating the Vineyard. The Reformation Agendas of Christianization die These aufgestellt, die Reformation Luthers sei ebenso wie die radikalen Reformationen sowie die Katholische Reform des 16. Jahrhunderts als "Christianization" zu interpretieren, wobei nicht die Unterschiede, sondern die Gemeinsamkeiten der unterschiedlichen, an das späte Mittelalter und seine Reformbewegungen anknüpfenden Christianisierungsprozesse zu betonen und herauszuarbeiten seien. Leider wurde dieses durchaus wichtige Buch bislang nicht ins Deutsche übersetzt.
Die neunzehn Beiträge greifen, überwiegend ganz direkt, auf diese These zurück und diskutieren und interpretieren sie, wobei nicht alle Autoren sie ganz oder auch nur teilweise teilen. Die Beiträge, alle in englischer Sprache, stammen von teilweise prominenten Reformationshistorikern überwiegend der USA, drei jedoch von deutschen Reformationshistorikern (Irene Dingel, Berndt Hamm, Volker Leppin). Etwas in die Irre führt der Titel des Buchs, denn im Zentrum steht nicht die Reformation in ihrer ganzen Breite, sondern vor allem Luther. Acht Beiträge behandeln explizit den Wittenberger Reformator, obwohl gerade er das schwächste Argument für die Berechtigung der Christianisierungsthese darstellt, wie Carter Lindberg in seinem Beitrag zutreffend resümiert: "The focus for Luther, however, was not' 'to Christianize Christendom', but to proclaim the Word." (55) Dagegen werden diejenigen Reformatoren, mit denen man eigentlich die Christianisierungsthese besonders gut untermauern könnte - Zwingli und Calvin -, nur gestreift.
Dennoch ist der Band sehr interessant und bereichert die Forschung, weil zahlreiche Themenaspekte aufgegriffen werden, die - selbst beim viel behandelten Luther - noch nicht abgegriffen sind, darunter "Luther on the Early Profit Economy" (Carter Lindberg), "Martin Luther and Idolatry" (John A. Maxfield) und "Martin Luther as a Father" (Susan C. Karant-Nunn). Letztere schließt mit der Frage und Aufgabenstellung: "Whether the Lutheran Reformation contained within itself the promotion of closer ties between parents and children is a question still to be posed and explored." (255) Interessant und anregend sind auch Robert Kolbs Untersuchung zum Weinberg-Motiv in der lutherischen Exegese und Predigt des 16. Jahrhunderts (305-320) und Elsie Anne McKees Blick auf Luther "through the Eyes of Katharina Schütz Zell" (213-230). Kolb behandelt neben Luther u.a. Melanchthon, Spangenberg, Bugenhagen, Brenz, Vischer, Dietrich und Musaeus und zeigt, wie gleichermaßen die Kirche und der Einzelchrist als "Weinberg" angesehen und interpretiert werden konnten.
Als originell hervorzuheben ist auch Merry Wiesner-Hanks' Aufsatz "Christianizing the Maternal Imagination", der sich mit der Auslegung von Gen 30 beschäftigt, der Geschichte von Jakob und Laban, in der Jakob durch eine List, indem er vor sich begattenden Ziegen weiße Ruten auslegte, gestreifte, gesprengelte und scheckige Junge "erzeugte" und sich aneignete. Das merkwürdige Ritual wirft, abstrahiert, die Frage auf nach "the role of the maternal imagination in the shaping of offspring" (231) und zeigt, dass, "what mothers - animal and human - saw or experienced during pregnancy affected their offspring" (231). Wiesner-Hanks demonstriert anhand Luthers Auslegungen, dass "Luther used the matriarchs and patriarchs of Genesis to provide models for his students as to how proper Hausväter and Hausmütter should behave" (244). Leider aber machte Luthers moderne, frauenfreundliche, "the influence of the maternal imagination on the fetus" (240) hervorhebende Auslegung dieses Textes keine Schule. Im späteren 16. und im 17. Jahrhundert wurde bei der Auslegung von Gen 30 "the lesson Luther drew from it [...] not [...] part of the standard narrative" (244).
Eng an Hendrix' Christianisierungsthese angelehnt ist der einleitende Beitrag des katholischen Theologen Robert Bireley (11-32). Punkt für Punkt erörtert er Gemeinsamkeiten von Protestanten und Katholiken im 16. Jahrhundert, darunter den "more individualistic style of religion" (18), die "affirmation of the worldly or lay vocation as a Christian way of life" (19), die Betonung des "preaching as a means of Christianization" (21), "catechism and [...] catechetical instruction" (21) und "schooling" (25).
Mehrere Beiträge behandeln die Reformbemühungen des 15. Jahrhunderts als Vorstufe zur Christianisierung im 16. Jahrhundert. Gerald Christianson zeigt, dass zunächst vergebliche Reformanläufe des 15. Jahrhunderts wie die des Konzils von Basel mittel- und langfristig nicht vergeblich waren, sondern direkte Folgen im 16. Jahrhundert hatten, und schließt: "All the reform efforts [...] had more mileage in them than previous generations imagined." (47)
Hendrix hat sich in seinen Forschungen, als einer von nur wenigen, auch mit Urbanus Rhegius näher beschäftigt. Und so schließt sich der Kreis, wenn Ronald K. Rittgers das Thema "Christianization" als "Christianization Through Consolation" (321) am Beispiel von Urbanus Rhegius und seiner "Seelenärtzney für die gesunden und kranken zu disen gefärlichen zeyten" (324) behandelt. "Rhegius's Soul-Medicine was an attempt to reform the ars moriendi tradition along evangelical lines" (329) und "his work influenced the pastoral care - both lay and clerical - of the new evangelical churches" (345). Ein interessanter Beitrag zur Frömmigkeitsgeschichte der Reformationszeit!
Am Schluss des Werkes findet sich, wie in Festschriften üblich, eine Bibliografie der Schriften von Hendrix, ein Verzeichnis der Autoren mit Biogrammen und ein Personen und Sachen erfassendes Register.
Der Band erinnert an die in Deutschland wenig bekannte, aber für den reformationshistoriografischen Diskurs durchaus interessante Christianisierungsthese, er macht mit einer regen, eigene Akzente setzenden amerikanischen Reformationsforschung bekannt und er zeigt, dass es in der Reformationsgeschichtsschreibung, auch im Umfeld Luthers, durchaus noch unentdeckte oder erst wenig behandelte Themenaspekte gibt.
Martin H. Jung