John Marincola / Lloyd Llewellyn-Jones / Calum Maciver (eds.): Greek Notions of the Past in the Archaic and Classical Eras. History without Historians (= Edinburgh Leventis Studies; 6), Edinburgh: Edinburgh University Press 2012, XIV + 978 S., ISBN 978-0-7486-4396-7, GBP 75,00
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John Marincola (ed.): Greek and Roman Historiography, Oxford: Oxford University Press 2011
Lloyd Llewellyn-Jones / James Robson: Ctesias' History of Persia. Tales of the Orient, London / New York: Routledge 2010
Lloyd Llewellyn-Jones: King and Court in Ancient Persia. 559 to 331 BC, Edinburgh: Edinburgh University Press 2013
Der hier zu besprechende Sammelband geht auf die sechste A. G. Leventis-Tagung zurück, die im November 2009 in Edinburgh stattfand. Das Thema wurde von John Marincola angeregt, der 2009 die A. G. Leventis Gastprofessur für Gräzistik an der Universität Edinburgh innehatte.
In seiner Einführung (1-13) nimmt Marincola zunächst seine bereits an anderer Stelle ausführlicher geäußerte Kritik an Jacobys Modell der Entwicklung der griechischen Historiographie auf, das in der Frage der Priorisierung der panhellenischen Geschichtsschreibung und der überhöhenden Isolierung Herodots nicht befriedige. Ein kurzer Verweis auf die Erinnerungskonzepte Assmanns (heiße Erinnerung) und Gehrkes (intentionale Geschichte) mündet dann in die Formulierung eines Gedankenexperimentes als Thema des Sammelbandes: Was wüsste man über die Vergangenheitsvorstellungen der Griechen, wenn die historischen Werke der klassischen Zeit verloren wären? Diese Fragestellung reiht sich ein in einen breiten Forschungstrend, der in den letzten Jahrzehnten zu einer Entdeckung von Erinnerung als geschichtswürdigem Gegenstand geführt hat. In diesem Zusammenhang haben auch Erinnerungsmedien jenseits der Geschichtsschreibung verstärkt Beachtung gefunden. [1]
Es folgen siebzehn Beiträge, deren Inhalt im Einzelnen hier nur kurz angerissen werden kann. Zahlenmäßig überwiegen die im weiteren Sinne literaturwissenschaftlichen Ansätze: Jonas Grethlein fasst seine Forschungen zur Geschichtskonzeption Homers zusammen und vergleicht diese Ergebnisse mit dem Werk Herodots (14-36). Den hesiodeischen Weltalter- und Pandoramythen widmet Bruno Currie eine eingehende Untersuchung, die die Ambivalenzen betont, die sich einer eindeutig historisierenden Lesart entziehen (37-64). Deborah Boedeker behandelt die Darstellungen Helenas bei den frühgriechischen Lyrikern (65-82). Ewen Bowie sucht (mit weitgehend negativem Ergebnis) nach Spuren einer lokalen Erinnerungskultur in den Werken des Stesichoros und des Ibykos (81-94). Deutlich ergiebiger gestaltet sich der Beitrag von Maria Pavlou zu Pindar (95-112), der zeigt, dass der Dichter nicht mehr als Vermittler göttlichen Wissens über die Vergangenheit, sondern als selbstbewusster Interpret der Überlieferung auftritt. Ruth Scodel (113-126) und Allen Romano (127-143) analysieren die Vergangenheitsbezüge bei den attischen Tragikern, vor allem Euripides und Sophokles. Jeffrey Henderson beschäftigt sich mit Aristophanes (144-159), wobei er in Frage stellt, dass Acharn. 523-529 eine Parodie des Beginns von Herodots Historien darstellt und die Passage mit der Untersuchung der Ursachen des Peloponnesischen Krieges bei Thukydides kontrastiert. In Auseinandersetzung mit Josiah Ober zeigt Jon Hesk auf, wie in attischen Reden der Zeit zwischen 345 und 330 v.Chr. das Wissen über die Vergangenheit und seine Standortgebundenheit problematisiert wurde (207-226). Kathryn A. Morgan behandelt Platons Umgang mit der Vergangenheit (227-252): Einerseits posiert der Philosoph (etwa im Atlantisbericht) als Historiker, der eine tiefere Wahrheit hinter der mythischen Überlieferung erkennt, andererseits ordnet er die historischen Ereignisse in größere kosmologische Zusammenhänge ein, die durch zyklische Weltzerstörungen die Möglichkeiten historischer Überlieferung und damit die Erkenntnismöglichkeiten der Geschichtsschreibung stark relativieren.
Weitere Beiträge sind nicht-literarischen Erinnerungsmedien gewidmet: H. Alan Shapiro behandelt die Darstellung attischer Heroen auf Vasen des 5. Jahrhunderts v.Chr. (160-182). Der Rolle der Familie in der griechischen Erinnerungskultur wendet sich Lin Foxhall zu (183-206). Während die Feststellung, dass Frauen in genealogischen Listen kaum eine Rolle spielten, eine interessante Beobachtung darstellt, erschließt sich die Relevanz der ausführlich vorgestellten gestempelten Webgewichte aus Metapont für das Rahmenthema kaum. [2] Stephen D. Lambert erschließt anhand einer Liste die Vergangenheitsbezüge in den attischen Inschriften des 4. Jahrhunderts v.Chr. (253-275). Es zeigt sich, dass explizite Verweise auf eine weiter zurückliegende Vergangenheit erst ab etwa 350 v.Chr. erscheinen. Julia L. Shear behandelt ebenfalls anhand von Inschriften die Verarbeitung der innenpolitischen Umstürze der Diadochenzeit in der athenischen Erinnerungskultur (276-300). Während die Umdeutung dieser inneren Konflikte in eine Abwehr äußerer Einmischungen an Vorbilder im 5. Jahrhundert v.Chr. anknüpft, müssen die Dekrete des 3. Jahrhunderts v.Chr. doch anerkennen, dass Athen nun keine weitgehend autonome Großmacht mehr darstellte. Der Heranziehung von Opferritualen als Indizien für archaische Ernährungspraktiken durch griechische Gelehrte ist der Beitrag von Emily Kearns gewidmet (301-316). Abschließend analysiert Lloyd Llewellyn-Jones anhand von Bildquellen die Konstruktion eines idealtypischen Bildes des persischen Großkönigs (317-346). Der Band schließt mit Kommentaren von Simon Goldhill, Suzanne Saïd und Christopher Pelling (347-365).
Schon die Liste der Autoren bürgt für Qualität und in den einzelnen Beiträgen wird viel Wertvolles geboten. Dennoch befriedigt die Lektüre des Gesamtbandes nicht völlig, weil trotz der abschließenden Kommentare nicht klar wird, welche übergreifenden Erkenntnisse sich aus den Einzelbeiträgen ergeben sollen: Die Gewichtung von Marincolas Einleitung könnte zunächst den Eindruck vermitteln, als ginge es um das Gewinnen eines weiteren Kontextes für das Entstehen der griechischen Geschichtsschreibung. Einige Autoren bieten denn auch Vergleiche mit Herodot oder pauschal den "Greek prose historians" (ausführlich Grethlein und Henderson, knapp Boedeker und Pavlou). Schon die chronologische Erstreckung der Einzelthemen auch auf die spätklassische und hellenistische Zeit passt aber nicht zu dieser Fragestellung. Das von Marincola ebenfalls in Auseinandersetzung mit Jacoby angesprochene Verhältnis von lokaler und panhellenischer Geschichtsschreibung wird, mit Ausnahme des Beitrags von Bowie, überhaupt nicht weiter verfolgt. Es bleibt also das in der Einführung nur knapp (11-13) entwickelte Konzept der Vergangenheitsvorstellungen außerhalb der Geschichtsschreibung. Damit ist jedoch im Grunde das gesamte Feld der Geschichtskultur als Gegenstand benannt. Es versteht sich, dass aus diesem ungeheuren Feld nur eine mehr oder weniger repräsentative Auswahl geboten werden kann. [3]
Problematisch erscheint zudem, dass das Konzept des Bandes, wie es sich im Untertitel "History without Historians" ausdrückt, in gewisser Weise eben jene Genregrenzen stabilisiert, die zumindest von Marincola selbst eigentlich in Frage gestellt werden. [4] "Die Historiker" erscheinen nämlich als eine selbstverständlich vorausgesetzte und homogene Gruppe, die sich von anderen Formen der Auseinandersetzung mit Vergangenheit einfach abgrenzen lässt. Es kommt hinzu, dass der Begriff "Vergangenheit" sehr inklusiv verstanden wird und alle Stufen des Vergangenen von der in Ehrendekreten verarbeiteten Zeitgeschichte politischer Parteikämpfe bis hin zur antiquarisch erschlossenen Urgeschichte umfasst. Das ist insofern berechtigt, als (was man als Altertumswissenschaftler leicht verdrängt) gerade die später als klassisch erachteten griechischen Geschichtsschreiber eigentlich "Zeithistoriker" waren. Gleichwohl waren Funktionen und Überlieferungswege der unterschiedlichen Vergangenheiten doch sehr unterschiedlich. Insofern wäre eine stärkere Differenzierung zwischen verschiedenen Formen der Geschichtsschreibung sowie verschiedenen Zeitebenen der Erinnerung wünschenswert und hätte für eine stärkere Fokussierung des Themas nutzbar gemacht werden können.
Alles in Allem lässt sich festhalten, dass der Edinburgher Sammelband in seiner Fragestellung zu unscharf bleibt, um in der Summe eine kohärente These zu vermitteln. Der Wert des Bandes liegt demnach vorrangig in der Zusammenstellung hochkarätiger Beiträge zu einem aktuellen Forschungsfeld, die für sich genommen sicher auf die weitere Forschung wirken werden.
Anmerkungen:
[1] Für den Bereich der Dichtung und der Rhetorik ist in diesem Zusammenhang bereits auf die Monographie von Jonas Grethlein: The Greeks and the Past: Poetry, Oratory and History in the Fifth Century BCE, Cambridge 2010 zu verweisen. Zu Erinnerungsorten und -objekten vgl. beispielsweise Michael Jung: Marathon und Plataiai. Zwei Perserschlachten als "lieux de mémoire" im antiken Griechenland (Hypomnemata; 164), Göttingen 2006 und Andreas Hartmann: Zwischen Relikt und Reliquie. Objektbezogene Erinnerungspraktiken in antiken Gesellschaften (Studien zur Alten Geschichte; 11), Berlin 2010 sowie den Sammelband Matthias Haake / Michael Jung (Hgg.): Griechische Heiligtümer als Erinnerungsorte. Von der Archaik bis in den Hellenismus, Stuttgart 2011. Zu Kultbauten und Ritualen vgl. Beate Dignas / R. R. R. Smith (eds.): Historical and religious memory in the ancient world, Oxford 2012.
[2] Die ebenso affirmative wie unkonkrete Feststellung, dass "[s]uch objects almost certainly attracted stories connecting them with other people and places, past and present" (205), vermag das Fehlen aussagekräftiger Quellen nicht zu verdecken.
[3] Je nach dem Feld der eigenen Expertise wird der Leser daher zwangsläufig manches vermissen: Der Rezensent hätte sich beispielsweise eine angemessene Würdigung echter und imaginierter materieller Überreste der Vergangenheit gewünscht. Man könnte fortfahren mit Mythographie, Periegese und der gelehrt-aitiologischen Dichtung des Hellenismus, Weihedenkmälern in Heiligtümern usw. Natürlich ließen sich mit derlei Wünschen leicht mehrere Sammelbände füllen. Umso mehr hätte man sich in der Einleitung eine Begründung der Auswahl der behandelten Themen gewünscht.
[4] Vgl. auch die kritischen Bemerkungen zu diesem Titel in Simon Goldhills Kommentar (347-353).
Andreas Hartmann