David Gilmour: Auf der Suche nach Italien. Eine Geschichte der Menschen, Städte und Regionen von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart: Klett-Cotta 2013, 464 S., ISBN 978-3-608-94770-0, EUR 27,95
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Um seinen Mut muss man David Gilmour beneiden. Der englische Historiker nimmt nicht nur mehr als 2000 Jahre in den Blick - schon das ist ein fast tollkühnes Unternehmen; der hochdekorierte Autor, einer der führenden "historical writers" Großbritanniens, will auf seiner Suche nach Italien darüber hinaus die Menschen, die Städte und Regionen und am Ende auch noch den Nationalstaat heutigen Zuschnitts behandeln, obwohl das im Titel noch nicht verraten wird.
Wer sich so wuchtigen Herausforderungen stellt, sollte einige Voraussetzungen erfüllen. Er muss das Land kennen - das tut Gilmour, der alle italienischen Provinzen bereist und lange in Italien gelebt hat. Er muss die Forschungsliteratur kennen - auch hier sollte man Gilmour keine Vorwürfe machen; die einschlägigen Veröffentlichungen sind Legion und von niemandem zu überblicken. Und er muss einen Plan haben - eine Fragestellung, so dass er seinen immensen Stoff zergliedern, das Wesentliche vom Unwesentlichen scheiden und dem Leser einen roten Faden der Erzählung bieten kann. Er muss - mit anderen Worten - genau wissen, was er will und was er dem Publikum erklären will.
Gilmour hat sich diese zentrale Frage durchaus gestellt. Er setzt bei den Städten und Regionen an, die Italien noch heute prägen und in seinen Augen so grandios und lebenskräftig sind, dass nie ein kräftiger Nationalstaat entstehen konnte. Ist Italien also ein Irrtum der Geschichte, ein prekäres Kunstprodukt, das über kurz oder lang in seine vitalen Bestandteile zerfallen muss? Gilmour gibt keine klare Antwort auf diese Frage, die er implizit selbst evoziert. Er bleibt im Vagen und spult eine konventionelle historiografische Erzählung ab, die er mit zahlreichen Anleihen aus Kunst und Kultur und vielen eigenen Erlebnissen, Beobachtungen und Anekdoten würzt. Diese plaudernde Mischung soll dem Buch Farbe und Unterhaltungswert geben, verleiht ihm letztlich aber nur einen seltsam unbestimmten Charakter, der den Fachmann ratlos macht und den Laien kaum trösten wird.
Außerdem scheint Gilmour von seinem methodischen Ansatz, die Regionen und Städte in den Mittelpunkt zu stellen, selbst nicht wirklich überzeugt zu sein. Er folgt ihm jedenfalls nur in der ersten Hälfte des Buches, das unter anderem der Macht der Städte, Venedig und dem adriatischen Raum und dem zerklüfteten, vielfach von fremden Mächten besetzten und beherrschten Italien vor der nationalen Einigung von 1860/70 gewidmet ist. Hier (vor allem in Kapitel 9 über "Italien auf dem Weg zur Einheit") löst der Autor seinen Anspruch partiell ein, wenn er auf das Piemont, die Lombardei, Sizilien und Neapel sowie auf Venedig und Rom zu sprechen kommt und deren Eigenarten und Entwicklungspfade skizziert.
Danach, im zweiten Teil des Buches, verliert Gilmour seine Vorsätze fast völlig aus den Augen. Jetzt dominieren die Haupt- und Staatsaktionen und die "Generation der Giganten", wobei das Hauptaugenmerk in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg den großen Männern der Politik und Musik gehört: Cavour, Garibaldi und Verdi - sie beherrschen das Bild, während andere signifikante Leitfiguren wie etwa der FIAT-Gründer Giovanni Agnelli, die für die stürmische Industrialisierung des Nordens stehen, oder Filippo Turati, die Stimme des Sozialismus, nicht ein einziges Mal erwähnt werden.
Vollends an seine Grenzen stößt Gilmour im 20. Jahrhundert. Auch sein Plauderton ist hier völlig deplatziert. Die Spannungen vor dem Ersten Weltkrieg, die blutige interne Konfrontation danach und der Aufstieg der Faschisten, die 1922 an die Macht gelangten - diese grundstürzenden Ereignisse werden ebenso wenig analysiert und erklärt wie die Etablierung und das Wesen des faschistischen Regimes, das als harmlose Variante einer Diktatur erscheint, die nur in den afrikanischen Kolonien gelegentlich über die Stränge schlug. Auch Benito Mussolini wird von Gilmour nicht ernst genommen. Dass der faschistische Diktator seine Kontrahenten drangsalieren und ermorden ließ, dass er blutige Kriege vom Zaun brach, dass sein Rassismus in Afrika Hunderttausende Todesopfer forderte und dass er im eigenen Land die Juden verfolgte - Gilmour ignoriert diese Themen nicht, er tippt sie aber nur an und huscht dann rasch über sie hinweg. In seinen Augen war Mussolini ein Aufschneider und Opportunist. Die Rassengesetze von 1938 seien "ganz klar von Deutschland beeinflusst" (323) gewesen.
So verwundert es auch nicht, dass keine der großen historiografischen Debatten der letzten dreißig Jahre aufgenommen wird, nicht der Streit über den Grad der Zustimmung zum Faschismus, nicht die Diskussion über das Gewaltpotenzial und den Rassismus. Selbst die intensive, im Grunde seit den 1920er Jahren nie erlahmte Kontroverse über den Faschismus als Gattungsbegriff, die in den vergangenen Jahrzehnten gerade aus Großbritannien fruchtbare Anstöße erhalten hat (Roger Griffin), hinterlässt in Gilmours Buch nicht die geringste Spur.
Ähnlich unbeschwert geht es in der Nachkriegszeit weiter. Die Ministerpräsidenten kamen und gingen, die Christdemokraten hatten ein Dauerabonnement auf die Regierung, und die Kommunisten scharrten vergeblich vor den Toren der Macht. "Politisches Handeln war damit praktisch unmöglich" (354) - eine absurde Behauptung, weil die Mitte-Rechts-Regierungen der 1950er Jahre und die Mitte-Links-Regierungen der 1960er und 1970er Jahre grundlegende Weichenstellungen trafen, die Italien - bei allen beklagenswerten Defiziten - in ein prosperierendes modernes Land verwandelten. Gilmour lässt sich darauf nicht ein. Anekdoten ersetzen Analysen, und wo dieser Notbehelf versagt, werden des langen und des breiten Filminhalte referiert. "Die ersten Szenen sind geradezu erhebend", so heißt es über Bernardo Bertoluccis Klassiker "Neunzehnhundert". "Bauern mit asketisch edlen Gesichtszügen rackern sich auf den Feldern ab, zwischendurch tanzen sie im Schatten der Pappeln. Das Gemeinschaftsgefühl ist allumfassend und bezieht sogar den alten, von Burt Lancaster gespielten Großgrundbesitzer ein, einen exzentrischen Aristokraten, der sich gegenüber seinen Landarbeitern in der Pflicht fühlt. Die Lage hat sich verschlechtert." (362) Gut zwei Seiten geht es in diesem Ton dahin.
Die Lektüre lohnt sich auch im letzten Kapitel über "Das moderne Italien" nicht. Der Absturz der Christdemokraten bleibt ebenso unerklärt wie der Niedergang der Kommunisten und die Implosion des gesamten Parteiensystems; diese, eine Zäsur sondergleichen, wird trotz ihrer Dramatik nicht einmal zum Thema gemacht. Silvio Berlusconi, der 1994 in dieses Vakuum stieß, wird zwar mit einem Unterkapitel bedacht. Mehr als das, was selbst der oberflächlichste Zeitungsleser über ihn weiß, erfährt man darin aber nicht. Er sei "eben ein italienischer Mann", sagen sich die italienischen Frauen und sehen ihm alles nach. Und: "Er sprach die Männer an, weil er sie glauben machte, dass er - anders als Intellektuelle wie Prodi oder Veltroni - an denselben Dingen Spaß hatte wie sie, besonders Fußball, Sex und Geldverdienen". (390)
Wer sich mit solch simplen An- und Einsichten begnügen und seine alten Vorurteile über Italien behalten will, ist mit Gilmours Buch bestens bedient. Wer hingegen wirklich "Auf der Suche nach Italien" ist, wer wissen will, warum Berlusconi trotz allem so großen Rückhalt genießt, und wer mehr über die Ursachen und Dimensionen der aktuellen Krise in Italien erfahren will, wird von Gilmour bitter enttäuscht.
Hans Woller