"Le sac de farine" von Kadija Leclere, 92 Minuten, Belgien/Marokko 2012

Von Assia Maria Harwazinski


Der Eröffnungsbeitrag des diesjährigen Filmfestes "Frauenwelten" ist das Filmdebüt der jungen, aus Marokko stammenden Belgierin Kadija Leclere. Sie führte zur Eröffnung persönlich in ihren stark autobiographisch geprägten Beitrag an. Es ist die Geschichte der kleinen Sarah, die in einem katholischen Internat in Belgien von Ordensschwestern erzogen und im Alter von acht Jahren von ihrem leiblichen Vater entführt wird. Kadija Leclere schildert darin ihre eigene Erfahrung, als ihr als kleines Mädchen dieses Schicksal widerfuhr, das offenbar häufiger vorkam, als man gemeinhin ahnt. Kadija Leclere spielt darin selbst die Rolle von Sarahs Mutter Halima.

Der Film beginnt mit Aufnahmen des Mädchens Sarah (wundervoll: Rania Mellouli aus Brüssel) im Beichtstuhl, wo sie dem Pater ihre kleinen Sünden beichtet, die damit zu tun haben, dass sie ihre Eltern nicht kennt und sich phantasievoll in Konkurrenz zu den anderen Mädchen einfach eine schöne Mutter erdenkt, die sie sich aus Zeitungsfotos zusammenschnippelt und eingerahmt den Anderen als ihre eigene präsentiert. Der Pater tröstet sie im Beichtstuhl liebevoll, meint, sie würde eines Tages, wenn sie erwachsen sei, alles verstehen, und es sei nicht nötig, täglich mehrfach deswegen zu büßen und zu beten.

Eines Tages wird sie von einer der Ordensschwestern aus dem Unterricht herausgeholt und einem Ehepaar präsentiert; es ist ihr Vater aus Marokko (Smain Fairouze, Schauspieler in Paris seit 1983, Bewunderer Verlaines und Rimbauds), mit einer jungen Frau, der sie über das Wochenende zu sich nach Paris holen möchte. Sarah werden zur Beruhigung Pillen verabreicht, die sie artig mit dem Tee aus der Thermoskanne einnimmt, sodass sie schließlich einschläft. Die Fahrt ist lang, und das Aufwachen geschieht nicht in Paris, sondern in Marokko, im Haus des Vaters, der dort mit mehreren Frauen, seiner Mutter und einigen Kindern zusammenlebt. Der Schock der Kleinen über ihre Entführung äußert sich in einem Fluchtversuch in den Gassen des Dorfes, wo sie verzweifelt nach der ihr vertrauten Ordensschwester ruft; ein Dorfbewohner fängt sie ein und bringt sie nach Hause. Sarah lernt, sich zu arrangieren; ihr bleibt nichts Anderes übrig. Ihr hilft dabei als Trost das Gebet, das sie im katholischen Internat gelernt hat. Es wird zum Ventil der ersten schweren Glaubenskrise: "Wozu dient das alles eigentlich, wenn Du, Gott, mir nicht helfen kannst! Existiert Du überhaupt?" Der Vater kehrt zurück nach Frankreich, wo er als Gastarbeiter den Lebensunterhalt verdingt. Das Mädchen wird in die Dorfschule gebracht, wo sie mit Anderen ihres Alters Stricken, Nähen und dergleichen lernt. "Und was ist mit Mathematik, mit Geographie, Französisch und den anderen Fächern?" Eines Tages fährt man sie in die Wüste, außerhalb des Dorfes, zu einer Felsengrotte und ruft nach Halima; sie soll sie kennen lernen. Schließlich erscheint eine verhüllte, verwahrlost scheinende Frau und fragt, was sie wollen, sie habe weder Geld noch einen Sack Mehl. "Sarah, das ist Deine Mutter. Halima, das ist Deine Tochter." So lernen die Beiden sich kennen.

Sarah wächst heran unter ihren neuen Geschwistern und den weiteren Frauen des Hauses (die Rolle der 17jährigen Sarah wird hervorragend von Hafsia Herzi interpretiert, die bereits in einigen jüngeren Produktionen glänzte und durch ihr intensives schauspielerisches Talent auffiel). Sie strickt inzwischen hervorragend, doch die Erinnerung an andere Möglichkeiten ist tief in ihr verwurzelt. So verliebt sie sich irgendwann in einen jungen revolutionären Mann, Nari (gespielt von Mehdi Dehbi) aus Liège), der sie anspricht. Man verabredet sich heimlich, zusammen mit zwei anderen Mädchen derselben Altersstufe. Für Sarah, die sich aufgrund des Klatsches älterer Mütter, die ihre Söhne verheiraten wollen, einen schlechten Ruf wegen ihrer Aufmüpfigkeit einheimst und in Verdacht gerät, keine Jungfrau mehr zu sein ("Das Wichtige ist die Liebe, nicht die Jungfräulichkeit"), muss sich in Begleitung der zurückgebliebenen ältesten Frau des Hauses (Hiam Abbass, geboren in Israel, seit Ende der achtziger Jahre in Frankreich lebend) der unangenehmen Jungfräulichkeitsuntersuchung unterziehen. Es entspinnen sich zwei parallele zarte Liebesgeschichten, gestört von den politischen Unruhen im Land, getragen von einer jungen linken Opposition, die im Untergrund agiert und ihre Rechte einfordert. Sarah genießt es, von ihrem jungen Liebhaber Nari begehrt zu werden, der ihre intellektuellen Fähigkeiten und ihre über das Stricken hinausgehenden Interessen entdeckt und schätzt, zumal er sie für eine politische Zusammenarbeit nutzen kann, die sie ihm gewährt.

Die Bedeutung des Titels "Le sac de farine" erschließt sich eines Tages, als Sarah mit ihrem ersten kommerziellen Strickerfolg - dem Verkauf eines sehr groß geratenen grünen Pullovers - gleich weitere Strickaufträge für eine Serie roter Pullover erhält, die bereits im Voraus bezahlt wurden. Dieser erste, unerwartete eigene Verdienst aus ihren selbst entworfenen Strickproduktionen ermöglicht ihr eine Eigenständigkeit und Emanzipation, die sie sich durch die Tätigkeit des Strickens nicht hätte erträumen lassen. Sarah ist nun in der Lage, zum Familienunterhalt beizutragen und bringt große Säcke Mehl aus eigenem Verdienst nach Hause. Mit trotzigem Selbstbewusstsein sucht sie ihre leibliche Mutter auf, die völlig schwarz verhüllt in der Einsamkeit ihrer Felsengrotte vor sich hin vegetiert und wütend und ängstlich Steine nach ihr wirft. Sarah will das Gesicht von Halima sehen; es gelingt ihr nach einem Zweikampf, ihr den Schleier herunter zu ziehen, darunter kommt ein schönes, verhärmtes Gesicht hervor.

"Le sac de farine" ist ein vielschichtiger, erfreulich kitschfreier Erstling einer viel versprechenden jungen Regisseurin, der weder die Männer noch die Frauen ihrer islamisch geprägten Heimat holzschnittartig schildert, sondern durch seine poetische Tiefe und Sensibilität besticht. Die Gesellschaftskritik kommt unter der autobiographischen Schilderung selbst durch: Die Geschichte einer muslimischen Frau, die offenbar unehelich einst ein Kind gebar, das zur Adoption freigegeben werden musste, während sie selbst durch diese "Schande" entehrt und in die Isolation geschickt wurde. Geschichten, wie man sie von türkischen und arabischen Regisseuren bereits kennt und wie sie in europäischen und anderen Kontexten weltweit vorkamen, nur nicht in dieser sanft-spröden Klarheit von einer Frau erzählt. Er läuft voraussichtlich demnächst in den Kinos an, in Arabisch und Französisch, mit englischen Untertiteln. Die Besetzung der Hauptrolle ist mit Rania Mellouli (Sarah im Alter von acht Jahren) und Hafsia Herzi (Sarah im Alter von 17 Jahren) herausragend.

Kadija Leclere, die eine Theaterausbildung genossen hatte, hat mit diesem Debüt ihr Ziel erreicht: "I want to tell the difference, a beautiful story on the confrontation of two very different cultures. I had this immense privilege to see the world through Sarah's eyes, a bit like when you would like to be a tiny mouse, to be the direct witness of a story. Let me explain: I had the 'luck' to live part of this story, to be kidnapped and locked up for two years, four months, ten days, and I am really happy to be where I am today. I have the immense privilege of having been allowed to go back to school, to know how to read, write, to discover literature. Then, the world of the theatre, and years later, that of the cinema, opened their doors for me to work there, which allows me to earn my living. For all the girls who haven't had the luck to come back 'to their country', I want to tell this story." Kadija Leclere muss heute zum Lebensunterhalt nicht mehr stricken. Leclere hat bereits mit mehreren renommierten Regisseuren als Schauspiel-Direktorin zusammengearbeitet, darunter Rachid Bouchareb (Indigènes), Véra Belmont (Survivre avec les loups), Jaco Van Dormael (Mr. Nobody) und Olivier Masset-Depasse (Illégal).

Anmerkung:
Zitate und Informationen entnommen aus dem Programm-Begleitheft zu "The bag of flour", La Cie Cinématographique Europénne, Gaëtan David.