Benjamin Seifert: Träume vom modernen Deutschland. Horst Ehmke, Reimut Jochimsen und die Planung des Politischen in der ersten Regierung Willy Brandts (= Göttinger Junge Forschung; Bd. 2), Hannover: Ibidem 2010, 154 S., ISBN 978-3-8382-0105-4, EUR 24,90
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Planung hatte Konjunktur in der politischen Kultur der 1960er Jahre. Auf der Basis des wirtschaftlichen Booms, der ganz neue Handlungsspielräume zu gewähren schien, eines "konsensliberalen" Gestaltungs- und Modernisierungswillens und eines positiv konnotierten Wissenschaftsverständnisses entwickelte sich in den westlichen Industriestaaten der 1960er Jahre ein gestärktes politisches Interesse für Ansätze politischer Planung und Steuerung. Versteht man (politische) Planung als "öffentlichen, verfahrensgestützten Vorgriff auf die Zukunft", der die Ausgestaltung von Gesellschaften zum Gegenstand hat [1], so fiel Planung sicherlich damals nicht vom Himmel, sondern hat lange zurückreichende Wurzeln. Auf jeden Fall begann sie sich mit den Ansprüchen des modernen Sozialstaats, den Erfordernissen der "totalen" Kriegswirtschaft des Ersten und des Zweiten Weltkriegs und dem Geist des social engineering seit dem späten 19. Jahrhundert zunehmend zu verwissenschaftlichen. In den 1960er Jahren avancierte Planung in den westlichen Industriestaaten geradezu zum politischen Leitbild, weil sie eine rationale, wissenschaftliche und in die Zukunft gedachte Herangehensweise an politische Problemlagen versprach. In Wissenschaft, Politik und Medien war die Rede von einem beschleunigten sozialen und technischen Wandel, und das damit verbundene Wachstum sozialer Komplexität schien die Anforderungen an die Politik explosionsartig zu erhöhen. Überkommene Entscheidungs- und Handlungsstrukturen in Regierung und Verwaltung, so war zu lesen, könnten diesen Anforderungen nicht mehr adäquat entsprechen. Insofern schien es erforderlich, dass der Staat den gesellschaftlichen Wandel und seine Implikationen abfing und aktiv steuerte. Im Zeichen einer Modernisierung der Politik müsse sich diese planerischen und wissenschaftlichen Methoden öffnen, um Aufgaben, Verfahren und Ressourcen "rational" zu planen.
Dies ist im Grundsatz bekannt, bezogen auf die Bundesrepublik der 1960er Jahre forschten zu diesem Wandel politischer Konzeptionen vor allem Gabriele Metzler, Winfried Süß und Michael Ruck. [2] Alle drei verwiesen auf Züge einer bundesdeutschen "Planungseuphorie" der 1960er und frühen 1970er Jahre, und zwar mit Blick auf Brandts Kanzleramtsminister Horst Ehmke, der mit technikaffinem Reformelan die Planungspolitik zum bevorzugten Feld seiner Aktivitäten machte. An dieser Stelle setzt die Studie des jungen Politikwissenschaftlers Benjamin Seifert ein. In seiner 150seitigen Abschlussarbeit, im Rahmen der Reihe "Göttinger junge Forschung" erschienen, will er die Planungskonzepte und "organisatorischen Veränderungen im Bundeskanzleramt" (15) genauer in den Blick nehmen. Dies kombiniert er mit einem biographischen Zugriff, indem er "Anschauungen und Handlungen" Ehmkes und des Leiters der Planungsabteilung im Kanzleramt, Reimut Jochimsen, hinterfragt, auch weil beide "die profiliertesten Vertreter einer planvollen Politik in der ersten Regierung Brandt darstellen" (15). In Einleitung und Schluss verweist er auf einen generationengeschichtlichen Ansatz: Ehmke stehe für die "Flakhelfergeneration", die - im Sinne von Dirk Moses - westlichen Ordnungsvorstellungen zuneigte und eine "Rationalisierung des politischen Denkens" bestärkte. Auch wenn Jochimsen, etwas jünger, "nicht mehr direkt in die [...] angesprochene generationelle Verortung zu passen scheint, steht er doch für einen bestimmten Typus des wissenschaftlichen Experten, der sich von früheren Regierungsberatern und Mitarbeitern unterschied" (17). Dass der Bezug auf Rationalität in der Politik - der auch in verschiedene Bedeutungszuschreibungen und Lesarten aufzusplitten wäre - zentrale Bedeutung für die Planungspolitik der 1960er besaß, steht außer Frage; doch weil Jochimsen sich dem generationengeschichtlichen Ansatz nur bedingt zuordnen lässt, bleibt dieser Erklärungsversuch unklar und wird in der folgenden Argumentation auch nicht operationalisiert.
Seifert gliedert seine Arbeit in drei Teile: Nach einem Überblickskapitel zum "Jahrzehnt der Planbarkeit und Machbarkeit", das die Forschungsergebnisse bündelt, widmet er sich den Planungskonzepten von Ehmke und Jochimsen, ehe er die "Politische Planung im Bundeskanzleramt zwischen 1969 und 1972" darlegt. Insbesondere in diesem dritten Teil gelingt es dem Autor, auf der Grundlage unveröffentlichter Quellen die Schaffung der Planungsabteilung im Kanzleramt, die Konzepte der Frühkoordinierung und des Arbeitsprogramms detailliert aufzuzeigen und hier die bisherige Forschung zu ergänzen.
Die Grenzen der Studie zeigen sich im Hinblick auf die wissenschaftlichen und planungstheoretischen Grundlagen des Planungsdiskurses. So macht der Autor in einer Überschrift "Kybernetik und Sozialwissenschaften" als "Ideen für die Zukunft" (62) aus, um dann in diesem Kapitel die Kybernetik aber nicht zu erläutern.
Dass Seifert die Probleme der Umsetzung auch darin begründet sieht, dass Ehmke und Jochimsen "ungeeignet für die Realisierung einer solch diffizilen Aufgabe" gewesen seien, speist sich offensichtlich aus dem biographischen Zugriff, überzeugt aber nur bedingt. Der Autor argumentiert, Ehmke sei - laut Brandt-Biograph Schöllgen [3] - mit allen im Kabinett auf Kollisionskurs gegangen und habe deshalb kein "integratives Planungssystem" etablieren können. Jochimsen sei ein "politikferner Theoretiker" gewesen, dem "Gespür für Machtstrukturen in der Verwaltung und der Bürokratie fremd war" (136f.). Die Mitarbeiter der Planungsabteilung, auch jene, die schon länger im Kanzleramt gewirkt hätten, seien gegenüber den planerischen Maßnahmen größtenteils aufgeschlossen gewesen, ebenso wie die Mitarbeiter der Fachabteilungen in den Ressorts. Erst durch "das häufig inkonsequente und in Teilen auch rücksichtslose Vorgehen von Seiten des Kanzleramts" sei die Zustimmung geschwunden (138).
Sicherlich trat Ehmke als "Macher" auf und versuchte sich so als möglicher Nachfolger Brandts in Szene zu setzen. Doch geriet die Planungsabteilung im Kabinett auch grundsätzlich unter Druck, nicht zuletzt durch Helmut Schmidt, der ein Gegner ausgreifender Planungskonzepte war. Was Reimut Jochimsen betrifft, so gelangte dieser zwar aus der Wissenschaft in die Planungsabteilung, aber um eben jene wissenschaftliche und sachverständige Expertise einzubringen, der die Planung nach damaligem Verständnis bedurfte. Grundsätzlich unterschätzt der Autor, der die Überlieferungen des Kanzleramts und der Ministerien aus dem Bundesarchiv nicht konsultierte, hier systemische Aspekte der Planungs-Probleme. Dies gilt neben den Autonomiebestrebungen der Ressorts gegenüber der Planungsabteilung (die der Autor an anderer Stelle auch anführt) auch für die zunehmend knappen Verteilungsspielräume angesichts der freigebigen Reformpolitik (auf die bereits Süß verwies); und dies gilt für die innere Signatur des Planungsprogramms, die sehr stark auf wissenschaftliche Expertise setzte, von einem überzogenen Vertrauen in die Prognose- und Steuerungskapazitäten ausging und hier die unterschiedlichen Rationalitäten von Wissenschaft und Politik zu wenig beachtete. So sorgten differierende Sprach- und Denkmuster zwischen großen Teilen der Ministerialbürokratie des Bundes, die noch vor allem mit Juristen besetzt war, und den von Jochimsen engagierten wissenschaftlichen Beratern, die neue, aus der Kybernetik und aus den Sozialwissenschaften kommende Prognose- und Planungskonzepte einbringen sollten, für Abstimmungsschwierigkeiten. So scheiterte das Planungsprogramm nicht in erster Linie an Personen, sondern an einem Steuerungsverständnis, das aus einem als "modern" perzipierten, oftmals kybernetisch gespeisten Prognose- und Planungswissen entsprang und dabei einem mechanistischen Leitbild folgte - ein Leitbild, das sich kaum auf die ministeriale Struktur der Bundesrepublik anwenden ließ.
Etwas problematisch ist schließlich, dass sich der Autor mehrmals sehr nah an der Forschungsliteratur bewegt (und auch gleiche direkte Zitate setzt), aber missverständlich zitiert, so dass der Eindruck entsteht, er setze sich von eben jener Forschungsmeinung ab (wie etwa auf Seite 43 zur Planung als "Tochter der Krise" und nicht als Ausdruck von "steuerungsoptimistischen Machbarkeitsvorstellungen", was eine Paraphrase von Süß darstellt, obwohl nur das zweite Zitat als von Süß kommend ausgewiesen wird). Dies mindert etwas den Gesamteindruck des sehr gut lesbaren Bandes, der die Forschung - wie im Rahmen der Buchreihe deklariert - konzis für ein interessiertes, fachfremdes Publikum aufbereitet.
Anmerkungen:
[1] Dirk van Laak: Planung. Geschichte und Gegenwart des Vorgriffs auf die Zukunft, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), 305-326, hier 306.
[2] Vgl. Gabriele Metzler: Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt. Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft, Paderborn 2005; dies.: "Geborgenheit im gesicherten Fortschritt". Das Jahrzehnt von Planbarkeit und Machbarkeit, in: Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, hgg. von Matthias Frese / Julia Paulus / Karl Teppe, Paderborn 2003, 777-797; Winfried Süß: "Wer aber denkt für das Ganze?". Aufstieg und Fall der ressortübergreifenden Planung im Bundeskanzleramt, in: ebd., 349-377; Michael Ruck: Westdeutsche Planungsdiskurse und Planungspraxis der 1960er Jahre im internationalen Kontext, in: Aufbruch in die Zukunft. Die 1960er Jahre zwischen Planungseuphorie und kulturellem Wandel. DDR, CSSR und Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, hgg. von Heinz Gerhard Haupt / Jörg Requate, Weilerswist 2004, 289-325.
[3] Gregor Schöllgen: Willy Brandt. Die Biographie, Berlin / München 2001.
Elke Seefried