Bernd Greiner / Tim B. Müller / Klaas Voß (Hgg.): Erbe des Kalten Krieges (= Studien zum Kalten Krieg; Bd. 6), Hamburg: Hamburger Edition 2013, 507 S., ISBN 978-3-86854-258-5, EUR 35,00
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Weder von Edward Snowden und seinen Enthüllungen zur Reichweite der globalen Überwachung durch die Vereinigten Staaten noch von dem amerikanisch-russischen Streit über das syrische Chemiewaffenarsenal konnten Bernd Greiner, Tim B. Müller und Klaas Voß Anfang 2013 wissen. Dennoch zeigen diese Ereignisse eindrücklich die Relevanz des Sammelbandes "Erbe des Kalten Krieges". Von der "Präsenz des Gestern im Heute" (9), der fortwährenden Relevanz des Kalten Krieges handelt das im Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung erschienene Buch. Es vollendet die aus sechs Bänden bestehende Serie "Studien zum Kalten Krieg" des Instituts mit dem Versuch, die Nachwirkung des Kalten Krieges in verschiedensten Gesellschaftsbereichen aufzuzeigen. Die Herausgeber gliedern ihr Werk in vier Abschnitte zum "Nationalen Sicherheitsstaat" in den USA, "Außen- und Sicherheitspolitik", "Gesellschaft, Wirtschaft und Recht" und "Staatsbildung- und Staatenzerfall". Insgesamt haben sie eine beeindruckende Sammlung von 28 Beiträgen vorgelegt, die von Machtstrukturen in der US-amerikanischen Administration über europäische Außenpolitik, Veränderungen in Umwelt- und Menschenrechtspolitik bis hin zu Staatenstrukturen im Globalen Süden die vielseitigen Auswirkungen des Kalten Krieges behandeln.
Insbesondere im ersten Teil zur Geschichte und den Charakteristika des nationalen Sicherheitsstaates in den Vereinigten Staaten wird der Leser vom Einfluss des Kalten Krieges auf bestehende Strukturen in den USA überzeugt. Bernd Greiners Einführung zur "Imperialen Präsidentschaft" zeichnet nach, wie die realen oder vermeintlichen Bedrohungen dieser Zeit zu einer stetigen Zunahme der Macht des Präsidenten und seiner Berater führte. "Sobald ein Präsident politisch relevante Informationen mit dem Hinweis auf die 'nationale Sicherheit' unter Verschluss hält", so Greiner, "laufen Forderungen nach demokratischer Transparenz zuverlässig ins Leere." (81) Auch Robert McMahons Kapitel zu "Unsicherheitsdebatten in den USA" liest sich wie ein Diskussionsbeitrag zur NSA-Affäre. Er erinnert daran, dass der Hinweis auf die Bedrohung der nationalen Sicherheit schon seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein effektives Mittel politischer Eliten darstellte, um öffentliche, bürokratische und parlamentarische Zustimmung zu erhalten. Mit anderen Beiträgen, u.a. zur "Rhetorik des Krieges gegen den Terror" liefert dieser erste Teil des Buches Antworten auf die Fragen, die sich seit dem Bekanntwerden der illegalen Abhöraktionen der US-Geheimdienste zumindest in Europa immer mehr Menschen stellten: Wieso protestieren die Amerikaner nicht stärker gegen ihre Überwachung? Woher kommt diese aus europäischer Sicht unstimmige Balance zwischen nationaler Sicherheit und Privatsphäre? Dadurch, dass die genannten Kapitel Antworten auf diese Fragen vorlegen, belegen sie das Hauptargument des Sammelbandes: Der Kalte Krieg wirkt auch heute noch nach.
Im zweiten Teil des Bandes präsentieren die Herausgeber eine durchmischte Sammlung an Beiträgen zur "Außen- und Sicherheitspolitik", die sich größtenteils der Politik westlicher Staaten, insbesondere der Niederlande, Deutschland, Großbritannien und - noch einmal - der USA widmen. Unter anderem enthält dieser zweite Teil auch Gerd Hankels Kapitel zur "Karriere" des Konzeptes der Humanitären Intervention. Hankel gibt einen soliden Überblick über die Hintergründe der heute noch andauernden Diskussionen zur Vereinbarkeit staatlicher Souveränität und dem Schutz von Bevölkerungen vor schwersten Menschenrechtsverbrechen. Sein Kapitel ist jedoch auch beispielhaft für die Oberflächlichkeit, die in einem solch breit angelegten Sammelband kaum zu vermeiden ist. So wird zum Beispiel nicht deutlich, dass sich die 2005 von den Vereinten Nationen verabschiedete Version des Konzepts der Schutzverantwortung ("Responsibility to Protect") deutlich von der ursprünglich von einer kanadischen Kommission erdachten Idee unterscheidet. Die von Hankel vorgestellten Kriterien zur militärischen Anwendung des Konzeptes fanden in den UN-Dokumenten nie Erwähnung. Auch die Diskussion zur Überdehnung des Mandates des Sicherheitsrates durch die NATO bei ihrer Intervention in Libyen ist zu verkürzt dargestellt. [1] Ob es schließlich gerade in Deutschland, wo das Konzept fast ausschließlich unter diesen Gesichtspunkten diskutiert wird, an den von Hankel geforderten Moral- und Rechtsdebatten fehlt, ist ebenfalls fraglich. [2]
Während der erste und zumindest in Ansätzen der zweite Teil des Buches schlüssig die Auswirkungen des Kalten Krieges auf die gegenwärtige Politik verschiedener Staaten nachzeichnet, wirkt der Zusammenhang zwischen dem Kalten Krieg und der Gegenwart im dritten Teil des Buches zum Thema "Gesellschaft, Wirtschaft und Recht" zuweilen sehr konstruiert. Zu nennen ist hier beispielsweise der Beitrag von Melanie Arndt zu den Kindern, die nach der Katastrophe von Tschernobyl vorübergehend in Deutschland aufgenommen wurden. Die Autorin weist in ihrem Fazit darauf hin, dass dieser Aufenthalt der Kinder "zumindest teil- und zeitweise" (382) für einen Austausch von im Kalten Krieg entfremdeten Kulturen führte, was jedoch nicht schlüssig begründen kann, weshalb das Thema in diesen Sammelband gehört. Noch weiter hergeholt ist Stefanie van de Kerkhofs Beitrag zur "Kontinuität militärstrategischen Denkens in Management und Consulting." Obwohl Greiner in der Einleitung des Sammelbandes die gewagte These aufstellt, es sei "zweifelhaft", dass sich strategische Managementmodelle ohne die "konfrontative Umwelt [des Kalten Krieges] ähnlich erfolgreich entwickelt und durchgesetzt hätte[n]" (35), macht van de Kerkhof nicht einmal den Versuch, dies ernsthaft zu belegen.
Im letzten Teil zu "Staatenbildung und Staatszerfall" zeigen die Herausgeber ihr Verständnis dafür, dass der Kalte Krieg nicht nur im Westen nachwirkte. Der "globale Süden" und Südostasien werden ebenso behandelt wie Chinas wirtschaftliche Entwicklung und der "Umbau von Kriegsgesellschaften in Eritrea, Kurdistan und Nicaragua". Umso problematischer und enttäuschender ist deswegen aber die fehlende Thematisierung Russlands und Osteuropas, die mit Ausnahme eines einzigen Beitrags zum sowjetischen Atomwaffenarsenal in diesem Sammelband nicht erwähnt werden. Dies ist eine unübersehbare gravierende Lücke bei der Themenauswahl. Kurz gesagt fehlt es ohne jede Erklärung oder Rechtfertigung an der anderen Seite des Kalten Krieges, während den USA allein schon ein Viertel des Bandes gewidmet ist. Gerade in einer Zeit, in der Russland u.a. mit seiner Syrienpolitik den Status einer Weltmacht beansprucht, wäre eine Analyse der Auswirkungen des Kalten Krieges - und dessen Ende - auf die Russische Föderation unverzichtbar gewesen. Robert Legvolds Sammelband "Russian Foreign Policy in the Twenty-first Century and the Shadow of the Past" [3] ist nur ein Beispiel dafür, dass auf diesem Feld durchaus geforscht wird.
Wegen dieser gravierenden Unterlassung und einigen schwächeren Einzelbeiträgen ist dieses Werk insgesamt nur in Ausschnitten zu empfehlen. Nicht nur für Historiker, auch für Politikwissenschaftler ist zumindest der erste Teil lesenswert, da der Leser hier nicht nur mehr über die historische Epoche des Kalten Krieges lernt, sondern auch die Gegenwart besser verstehen wird.
Anmerkungen:
[1] Lars Brozus / Christian Schaller: Über die Responsibility to Protect zum Regimewechsel, SWP-Studie, Juni 2013.
[2] S. zuletzt Peter Rudolf: Schutzverantwortung und humanitäre Intervention. Eine ethische Bewertung der "Responsibility to Protect" im Lichte des Libyen-Einsatzes, SWP-Studie, März 2013; s.a. Gregor Hofmann: Politische Bekenntnisse ohne Folgen, HSFK Standpunkte, 6/2013, Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung.
[3] Robert Legvold (ed.): Russian Foreign Policy in the Twenty-first Century and the Shadow of the Past, New York 2007.
Sarah Brockmeier