Rezension über:

Julia Cholet: Der Etat des Deutschen Reiches in der Bismarckzeit, Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2012, 505 S., ISBN 978-3-8305-3057-2, EUR 74,00
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Rezension von:
Marc Buggeln
Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Marc Buggeln: Rezension von: Julia Cholet: Der Etat des Deutschen Reiches in der Bismarckzeit, Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2012, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 2 [15.02.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/02/23139.html


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Julia Cholet: Der Etat des Deutschen Reiches in der Bismarckzeit

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Der Etat gilt Forschern seit vielen Jahrzehnten als ein hervorragendes Mittel, um die Machtverteilung in einem Staat zu ergründen. So schrieb Joseph Schumpeter schon 1918 zum Etat: "Welches Geistes Kind ein Volk ist, auf welcher Kulturstufe es steht, wie seine soziale Struktur aussieht, was seine Politik für Unternehmungen vorbereiten mag - das und vieles andere noch steht phrasenbereinigt darin. Wer ihre Botschaft zu hören versteht, der hört da deutlicher als irgendwo den Donner der Weltgeschichte." [1]

Auch Julia Cholet schließt sich dieser Auffassung an und will in ihrer hier nun gedruckt vorliegenden Dissertationsschrift, die an der Universität Leipzig verteidigt wurde, mit Hilfe einer Etatauswertung die Machtverhältnisse im Deutschen Reich während der Kanzlerschaft Bismarcks untersuchen. Allerdings schränkt die Autorin ihren Fragehorizont sogleich deutlich ein. Es geht ihr keineswegs darum, den Etat als Werkzeug der Sozialgeschichte zu nutzen, sondern ausschließlich darum, zwei sehr enge politikhistorische Fragen zu beantworten. Zum einen will sie die Stellung und Bedeutung Bismarcks und zum anderen das Verhältnis zwischen Reich und Ländern ergründen.

In ähnlicher Weise entscheidet sich Cholet auch für eine strikte Begrenzung der Quellenauswertung. Sie nutzt vor allen Dingen die in gedruckter Form vorliegenden Rechenschaftsberichte und Etatpläne. Bei den ebenfalls gedruckt vorliegenden stenographischen Protokollen des Reichstags analysiert sie nur die in den Abstimmungsergebnissen vorliegenden Mehrheitsverhältnisse, verzichtet aber auf die Auswertung der Wortbeiträge und der jeweils benutzten Argumente (35).

Im ersten Kapitel behandelt die Autorin die Finanzverfassung des Norddeutschen Bundes, die in vielerlei Hinsicht dann 1870/71 zur Grundlage für die Reichsverfassung wurde. Der Norddeutsche Bund war wie später das Reich weitgehend ein Kostgänger der Länder. Während die Länder die direkten Steuern einnahmen, standen Bund/Reich nur Zölle und indirekte Steuern zu. Deswegen blieb die Zentralgewalt auf die Matrikularbeiträge der Länder angewiesen, was eine dauernde Kompromisssuche mit den Ländern erforderte.

Im zweiten Kapitel erfährt der Leser detailliert, wie die verwaltungstechnische Praxis der Etataufstellung und -bewilligung aussah. Zu Recht weist Cholet dabei auf das große Gewicht des Bundesrates hin, der jede Zentralisierungstendenz verhindern konnte, wenn er wollte. Im dritten Kapitel wird dann die konkrete Praxis bei der Etataufstellung betrachtet. Dabei stellt sich heraus, dass der Bundesrat von seinen umfassenden Befugnissen wenig Gebrauch machte und den Haushalt fast immer mit höchstens geringfügigen Änderungen billigte. Anders sah dies bei Versuchen des Reiches aus, die eigene Einnahmeposition durch neue Steuern zu verbessern. Diese Versuche scheiterten fast immer am Einspruch der Länder, weil diese das Reich in ihrer Abhängigkeit halten wollten. Preußen nahm auch beim Etat eine Sonderrolle im Reich ein (Kapitel 4). Unter anderem verhinderten die Länder die Entstehung eines Reichsrechnungshofes, weswegen die Haushaltsprüfung durch die Preußische Oberrechnungskammer vorgenommen wurde. Die Matrikularbeiträge der Länder an das Reich (Kapitel 5) blieben von 1871 bis 1884/5 weitgehend stabil und stiegen erst danach parallel zur Ausgabenentwicklung des Reiches deutlich an. In den Kapiteln 6 bis 10 untersucht die Autorin dann die Entwicklung der zentralen Ausgabenbereiche (Verwaltung, Militär, Fonds, Reichsschuld), während in den Kapiteln 11 bis 13 die zentralen Einnahmebereiche folgen. Abgerundet wird die Arbeit durch eine kurze Zusammenfassung.

Leider ist es in weiten Teilen eine erhebliche Mühsal, das Buch zu lesen. Da die Autorin nahezu auf alle narrativen Elemente verzichtet hat, gerät vieles zur reinen Zahlenhuberei, deren genauerer Sinn mitunter nicht entschlüsselt wird. Die beiden sehr eng gefassten Hauptfragen beantwortet Cholet in der Zusammenfassung kaum, eher werden Ansätze hierzu im Buch verteilt. Fragen nach dem sozialen Hintergrund und den sozialen Machtgruppen hinter bestimmten Entscheidungen tauchen nur dann auf, wenn sie in der bereits vorhandenen Literatur gestellt werden - vor allem bei den Steuern -, und selbst dabei fällt die Autorin eher hinter den Stand der Forschung zurück, unter anderem, weil sie das zentrale Werk von Mark Spoerer nicht zur Kenntnis genommen hat. [2] Bei aller Kritik hat das Buch aber auch einen großen Vorteil: Es stellt ein hervorragendes Nachschlagewerk und Zahlenkompendium für die öffentlichen Finanzen während der Bismarckzeit dar; nicht mehr, aber auch nicht weniger.


Anmerkungen:

[1] Rudolf Goldscheid / Joseph A. Schumpeter: Die Finanzkrise des Steuerstaats, hg. von Rudolf Hickel, Frankfurt am Main 1976, 256.

[2] Mark Spoerer: Steuerlast, Steuerinzidenz und Steuerwettbewerb. Verteilungswirkungen der Besteuerung in Preußen und Württemberg (1815-1913), Berlin 2004.

Marc Buggeln