Rezension über:

Hartmut Kühne / Enno Bünz / Thomas T. Müller (Hgg.): Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation in Mitteldeutschland. Katalog zur Ausstellung "Umsonst ist der Tod", Petersberg: Michael Imhof Verlag 2013, 416 S., 457 Farbabb., ISBN 978-3-86568-921-4, EUR 29,95
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Rezension von:
Bernadette Burchard
Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf
Redaktionelle Betreuung:
Philippe Cordez
Empfohlene Zitierweise:
Bernadette Burchard: Rezension von: Hartmut Kühne / Enno Bünz / Thomas T. Müller (Hgg.): Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation in Mitteldeutschland. Katalog zur Ausstellung "Umsonst ist der Tod", Petersberg: Michael Imhof Verlag 2013, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 3 [15.03.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/03/24360.html


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Hartmut Kühne / Enno Bünz / Thomas T. Müller (Hgg.): Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation in Mitteldeutschland

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Der Band "Alltag und Frömmigkeit am Vorabend der Reformation in Mitteldeutschland" stellt den Katalog zur Ausstellung "Umsonst ist der Tod" dar, die vom 28. September 2013 bis zum 15. Februar 2015 nacheinander und jeweils regionalspezifisch erweitert in Mühlhausen, Leipzig und Magdeburg zu sehen ist. Der von Hartmut Kühne, Enno Bünz und Thomas T. Müller konzipierte Katalog will dem oft von Vorurteilen und Unkenntnis geprägten Bild der Vorreformation als einer Zeit der Krisen, kirchlichen Missstände und sozialer Unruhen den neusten Forschungsstand entgegenstellen.

Ein besonderer Reiz entsteht durch die geografische Begrenzung auf Mitteldeutschland (hier verstanden als das Gebiet der Bundesländer Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg), der Region, die als "Mutterland der Reformation" (5) gilt. Dort haben sich trotz der religiösen Umbrüche vielerorts zahlreiche Objekte aus den letzten Jahrzehnten vor der Reformation erhalten. Diese sollen in Katalog und Ausstellung - entgegen den traditionellen Fokussierungen auf die theologischen Strömungen, institutionellen Entwicklungen der Kirche oder Ordensreformen - einen Blick auf das religiöse Alltagsleben der spätmittelalterlichen Gesellschaft ermöglichen.

Dem Schüsselbegriff der 'Frömmigkeit' ist die von Enno Bünz und Hartmut Kühne verfasste Einleitung gewidmet. 'Frömmigkeit' wird hier Berndt Hamm folgend als gelebter Glaube (praxis pietatis) verstanden; als aneignender Vollzug von Religion durch eine bestimmte Lebensgestaltung sowohl individuell als auch kollektiv (17). Ausdrücklich ist Frömmigkeit "also auch da zu fassen, wo es um traditionelle, ritualisierte, von der Familie oder der Umwelt erlernte und eingeübte religiöse Lebensformen geht" (17). Dem damit klar umrissenen Thema nähert sich der Katalog in sieben Kapiteln, die dabei explizit "keine stringente Abfolge im Sinne einer inhaltlichen oder zeitlichen Entwicklung suggerieren" (22) sollen, sondern unterschiedliche Blickwinkel auf das Gesamtphänomen bieten.

Begonnen wird mit der Pfarrkirche, die als Ort des Sakramentsvollzugs (Taufe, Messe, Beichte, Eheschließung und Versehgang) den Alltag der Christen im Spätmittelalter bestimmte. Der in der Gemeinde bestehenden und durch vielfältige Formen der Jenseitsvorsorge (Totengedenken, Memoria, Bruderschaften) realisierten Gemeinschaft der Lebenden und der Toten ist das zweite Kapitel gewidmet. Wie intensiv man auch im Alltag versuchte, sich stets des himmlischen Beistands zu versichern, wird im dritten Kapitel gezeigt. Über die Objektgattung der Votive wird die Überleitung zum nächsten Kapitel geschaffen, das sich mit dem Pilgerwesen und den Wallfahrtsorten beschäftigt. Dabei werden die drei großen Ziele Rom, Jerusalem und Santiago de Compostela ebenso behandelt wie die regionalen Wallfahrtskirchen, deren Netz im Spätmittelalter immer dichter wurde. In Berichten kommen die Pilger selbst zu Wort, aber auch die Mechanismen, Motive und Medien des Pilgerwesens werden vorgestellt. Die Kapitel fünf, "Laien machen Kirche", und sechs, "Frömmigkeit: Hörbar, sichtbar, fassbar", beschäftigen sich mit den Möglichkeiten der Einflussnahme auf und Mitgestaltung der Laien am kirchlichen Leben (Kirchenpflegschaft, Stiftungen, Bruderschaften) und dessen performativen Akten (geistliches Spiel, Prozessionen, Predigt, liturgische Inszenierungen) sowie der Partizipation an der Diskussion der Glaubensinhalte durch die Übersetzung der Bibel und theologischer Texte in die Volkssprache. Das siebte und letzte Kapitel beschäftigt sich schließlich mit dem Ablasswesen, wobei der Fokus auf dessen Medien und Funktionsweisen liegt. An das letzte Kapitel angeschlossen ist ein Exkurs zur Mühlhausener Korrespondenz-Ausstellung "Frömmigkeit in Schrift und Bild", die sich mit illuminierten Sammelindulgenzen im mittelalterlichen Mühlhausen beschäftigt.

Die einzelnen Kapitel werden je durch einen längeren Text eingeführt, auf den die Objektbeschreibungen folgen. Dabei sind immer wieder Unterthemen eingeschoben, die ebenfalls durch einen längeren Text eingeführt und durch Objektbeschreibungen ergänzt werden, so besteht beispielsweise das erste Kapitel zur Pfarrkirche aus sieben Unterkapiteln, die freilich nicht im Inhaltsverzeichnis erscheinen. Dieser Aufbau vermittelt beim Lesen das Gefühl, sich virtuell durch eine Ausstellung zu bewegen, und ermöglicht eine dichte Verknüpfung des Textes mit den beschriebenen Ausstellungsstücken. Der Nachteil besteht allerdings darin, dass auch für die längeren Einführungstexte auf Fußnoten zugunsten kurzer Literaturangaben verzichtet wurde, was das Nachschlagen von einzelnen Sachverhalten und Details erschwert. Angenehm fällt die Einbeziehung neuer Medien auf, so ist in den Literaturangaben vermerkt, wenn und wo ein Ausstellungsstück als Digitalisat im Internet verfügbar ist. Die Bebilderung ist üppig und von durchgängig sehr guter Qualität. Nur in wenigen Fällen lassen die Abbildungen das Nachvollziehen der im Objekttext beschriebenen Sachverhalte nicht zu. Ein Blick in die 22-seitige Bibliografie lässt kaum Wünsche übrig.

Die Qualität der Katalogtexte ist durchgängig hoch, sie geben den aktuellen Stand der Forschung wieder und sind inhaltlich gut aufeinander abgestimmt. Die Herangehensweise, sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln derselben Sache zu nähern, führt nur selten zu Wiederholungen, die dann auch eher vertiefend als überflüssig wirken. Die ausgewählten Objekte nehmen über Kapitelgrenzen hinweg immer wieder aufeinander Bezug, sodass eine dichte Beschreibung der religiösen Verhältnisse entsteht. Da die Erforschung der Vorreformationszeit auf vielen Gebieten noch Desiderat ist, ergeben sich inhaltlich manche Gewichtungen aus den Forschungsschwerpunkten der Autoren (Hartmut Kühne: Pilgerzeichen, Johannes Tripps: handelnde Bildwerke) ohne jedoch zu dominant zu werden. Leider wird auf Funktionsweisen der im Katalog mit einigen Exemplaren vertretenen Spiegelzeichen nicht näher eingegangen. Sie hätten Anlass gegeben, die für das Verständnis der spätmittelalterlichen Frömmigkeit und ihrer Sachzeugen wichtigen Bild- und Sehtheorien zu thematisieren, fand doch in Bezug der Bewertung der Sinne in der Reformation ein folgenreicher Umbruch vom Sehen auf das Hören statt. [1]

Es bleibt festzustellen, dass das gesetzte Ziel, mit dem Bild der Vorreformation als Krisenzeit aufzuräumen und eine Darstellung des Alltags und der Frömmigkeit der spätmittelalterlichen Menschen auf dem neusten Forschungsstand zu geben, als erreicht bezeichnet werden kann. In klarer und verständlicher Art und Weise wird in diesem Ausstellungskatalog ein schillerndes Bild von der Vielfalt des religiösen Lebens vor der Reformation gezeichnet. Die teils neu entdeckten oder bisher museal wenig beachteten Sachzeugnisse bereichern das Verständnis der spätmittelalterlichen Alltagskultur. Insgesamt handelt es sich um einen großartig gelungenen Ausstellungskatalog, der sowohl für den Laien als auch für den sachkundigen Leser mit Gewinn zu lesen ist.


Anmerkung:

[1] Thomas Lentes: Inneres Auge, äußerer Blick und heilige Schau. Ein Diskussionsbeitrag zur visuellen Praxis in Frömmigkeit und Moraldidaxe des späten Mittelalters, in: Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen, hg. v. Klaus Schreiner, München 2002, 179-220.

Bernadette Burchard