Rezension über:

Dagmar Hirschfelder / León Krempel (Hgg.): Tronies. Das Gesicht in der frühen Neuzeit, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2014, 135 S., 60 Abb., 15 Farbtafeln, ISBN 978-3-7861-2694-2, EUR 59,00
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Rezension von:
Lilian C.A.M. Ruhe
Radboud Universität, Nimwegen
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Lilian C.A.M. Ruhe: Rezension von: Dagmar Hirschfelder / León Krempel (Hgg.): Tronies. Das Gesicht in der frühen Neuzeit, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2014, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 4 [15.04.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/04/24489.html


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Dagmar Hirschfelder / León Krempel (Hgg.): Tronies

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Nach dem für das Thema "Tronie" [1] richtungsweisenden Symposium in Den Haag im Jahr 2000 erschienen 2008 und 2011 zwei monografische Untersuchungen über diesen wichtigen Bildtypus der frühneuzeitlichen Malerei. [2] Seitdem hat sich die Tronie eine vollwertige Position im kunsthistorischen Kanon erobert. [3] Bis heute konzentrierte sich die Tronie-Forschung hauptsächlich auf das späte 16. und 17. Jahrhundert und auf die Malerei der Niederlande. [4] Insbesondere Dagmar Hirschfelder hat in ihrem opus magnum über die Tronie das reiche Material diskutiert und versucht zu kategorisieren.

Der vorliegende Band, dessen Ausgangspunkt ein 2011 in München abgehaltenes Symposium ist, beschränkt sich weitgehend auf die Tronie bis in die Zeit um 1800 mit Jean-Honoré Fragonard (gestorben 1806) als jüngstem Künstler. Der Verzicht auf jüngere Arbeiten ist bedauerlich, zumal die Tagung anlässlich der Ausstellung "Tronies - Marlene Dumas und die Alten Meister" stattfand, in der zeitgenössische Kunst mit Alten Meistern konfrontiert wurde. Der Band vermag es folglich nicht, die Forschungslücke zur Tronie zwischen frühneuzeitlicher und moderner Kunst zu schließen und verzichtet somit wahrscheinlich auf ein größeres Publikum. Doch entschädigt er andererseits durch den interdisziplinären Ansatz und die fachübergreifende Forschung zum Thema der Tronie.

Der Band enthält (kunst)theoretische Beiträge über die Darstellung von Gesichtern und Affekten, über die Tronie in verschiedenen literarischen Genres und über die Rezeption der Tronie des 17. Jahrhunderts im 18. Jahrhundert. Darüber hinaus präsentiert er mehr traditionelle Fallstudien zu Tronies und verwandten Werken im Œuvre alter Bekannter wie Rubens, Lievens und Vermeer, aber auch dem weniger bekannten Dilettanten Nicolas Lagneau (circa 1600-1650).

Anders als in Ulrich Rehms Buch über Gestik und Körpersprache [5] ist das Thema des Beitrags von Thomas Kirchner der Gesichtsausdruck. Kirchner bietet - wie bereits an anderer Stelle - einen kompakten und für verschiedene Genres nützlichen Überblick über die Kunsttheorie der Affekte und deren Darstellung im menschlichen Antlitz. Das Spektrum reicht von der Stoa bis zu den häufig zitierten, kanonischen Schriftsteller-Künstlern wie Alberti, Van Mander und Lebrun. [6] Damit erweitert Kirchner den in den oben genannten Tronie-Monografien gewählten Zeitraum. Er betont die Rolle des Künstlers als Kommunikator von Affekten, ein Thema, das auch in der Literatur über das "Selbstporträt in der Assistenz" zur Sprache kommt.

Eine Synthese der über Monografien und Artikel verstreuten Erkenntnisse zur Tronie in der Kunst des 18. Jahrhunderts bietet Dagmar Hirschfelder. [7] Der Blick auf die internationale Verarbeitung und Rezeption der Tronie in dieser Zeit ist eine willkommene Ergänzung und Erweiterung zu ihren früheren Veröffentlichungen. Hirschfelder verdeutlicht die Rolle der Tronie in so gegensätzlichen Strömungen wie der Rembrandtnachahmung, dem zuvor unerreichten Detailrealismus der "Porenmalerei" und der skizzenhaften Virtuosität eines Fragonard oder Tiepolo. Zu Recht korrigiert die Autorin Marc Wellmanns Bezeichnung der Dennerschen Köpfe alter Menschen als "Studienköpfe". [8] Besonders für Balthasar Denners und Christian Seybolds akribische Feinmalerei - die, anders als zu deren Lebzeiten, später negativ rezipiert wurde - finden sich in der Literatur zuweilen Erklärungsversuche, die außerhalb der Malerei liegen und über ikonografische und kunsttheoretische Implikationen hinausgehen. Denners und Seybolds nahezu lebensgroße "Porentronies" werden isoliert betrachtet, wie in Malerei übertragene physikotheologisch-literarische [9] oder empirisch-(natur)wissenschaftliche Prinzipien (Mikroskopie, Thematisierung des Sehens und der Optik); Phänomene, die mehr oder weniger gleichzeitig auftraten. Diese, Ende des letzten Jahrhunderts stipulierten Interpretationen und der angeblich daraus folgende Paradigmenwechsel für die Tronie, sind meiner Meinung nach fraglich. [10] Hirschfelders informativer Beitrag wird zweifellos Diskussionen über das Thema in der Kunst des 18. Jahrhunderts anregen.

Ungeachtet der Einführung von weniger gängigem, aber unbedingt interessantem Quellenmaterial, wie zum Beispiel Steckbriefen, hält sich die in der Einleitung des Bandes versprochene Bereicherung der kunsthistorischen Tronie-Forschung durch die literatur- und geschichtswissenschaftlichen Beiträge von Lia van Gemert, Rudolf Dekker und Ariane Baggerman in Grenzen. Sie untersuchen das Gesicht als Ausdrucksträger von Charaktereigenschaften in den Quellen und der Literatur des 17. Jahrhunderts. Die Ergebnisse bestätigen dabei im Wesentlichen bereits Bekanntes, so etwa die Einsicht, dass das (un)ästhetische Äußere eines Menschen sein (un)ethisches Inneres widerspiegelt. Die von van Gemert festgestellte Verwendung von Stereotypen in der komischen Literatur findet in den gemalten und radierten Genretronies des 17. Jahrhunderts eine Parallele. Vertiefung und Ergänzung hätte das Eingehen auf weitere wichtige Veröffentlichungen bringen können, die mit der Thematik zusammenhängen. Zu nennen wären etwa Gregor Webers Ausführungen zum "Lobgedicht über die Malerei", Ernst van de Weterings Diskussion der (schriftlichen) "Autobiografie" und "das Selbst" im 17. Jahrhundert sowie die Publikationen von Herman Roodenburg, insbesondere sein Artikel über die Auswirkungen der zeitgenössischen Etikette-Bücher in Bezug auf die Kontrolle des Ausdrucks der Emotionen. [11]

Die Beiträge von Peter Black über Rubens, Jan Muylle über Lagneau, Jan Nicolaisen über Lievens und León Krempel über Vermeer bieten verschiedene neue Erkenntnisse, manchmal anregende Interpretationen, wie diejenige von Krempel, der Vermeers Tronie-Paar in Washington als Allegorien von Ecclesia und Synagoge deutet.

Obwohl die beiden wegbereitenden Tronie-Monografien einen neuen Auftakt zur Tronie-Forschung schufen und auch die Einleitung zum vorliegenden Band dessen Inhalt rechtfertigt, fällt auf, dass die frühere Debatte über die Definition der Tronie und die Abgrenzung von verwandten Bildformen keine Rolle spielt. Das hier verfolgte Ziel, in der Einleitung übrigens nicht spezifizierte Forschungslücken zu schließen, könnte vielleicht erst durch eine substantiellere Ausdehnung des Forschungszeitraums in umfassenderer Weise realisiert werden.

Abschließend stellt sich die Frage, für wen das Buch eigentlich gedacht ist. Gemessen an dem Titel (und dem Preis) könnte der Käufer ein aktualisiertes Kompendium über die Tronie erwarten. Doch wer eine umfassende Übersicht über die Tronie in der Frühen Neuzeit sucht, wird auch in Zukunft auf die beiden Standardwerke von Hirschfelder und Gottwald nicht verzichten können. Dennoch enthält der vorliegende Band anregende und interessante Forschung zur Rezeption und Bedeutung "des Gesichts". Er vermag den "Hunger nach Gesichtern" [12] zu stillen und die Kenntnis über diese und ihre künstlerische Verarbeitung auf 135 Seiten zu vertiefen.


Anmerkungen:

[1] Der Terminus "Tronie" stammt aus dem Niederländischen des 16. und 17. Jahrhunderts und bedeutete 'Kopf', 'Gesicht' oder 'Miene'. In der Kunstgeschichte gehören dazu Köpfe, Brustbilder oder Halbfiguren nach lebendem, doch anonymisiertem Modell, oft im Fantasiekostüm, vor zumeist neutralem Hintergrund, die durch effektvolle Beleuchtung und virtuosen Pinselduktus gekennzeichnet sind.

[2] Dagmar Hirschfelder / Hans-Joachim Raupp: Tagungsbericht: 'Tronies' in de Italiaanse,Vlaamse en Nederlandse schilderkunst van de 16de en 17de eeuw, Symposium, Den Haag, Königliche Bibliothek, 19.-20. Oktober 2000, in: Kunstchronik 54 (2001), 197-202; Dagmar Hirschfelder: Tronie und Porträt in der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, Berlin 2008; Franziska Gottwald: Das Tronie - Muster, Studie und Meisterwerk. Die Genese einer Gattung der Malerei vom 15. Jahrhundert bis zu Rembrandt, Berlin / München 2011.

[3] Die konsequente Anwendung in der kunsthistorischen Praxis ist jedoch noch nicht üblich. In Künstlermonografien werden Tronies manchmal noch in der Rubrik "Porträt" oder "Genre" - selten als eigene Bildaufgabe diskutiert.

[4] Zeitlich weiterreichend ist z.B. Teste di fantasia del Settecento veneziano, Ausst.Kat. Venedig, Galleria di Palazzo Cini a San Vio, Venedig 2006.

[5] Ulrich Rehm: Stumme Sprache der Bilder. Gestik als Mittel neuzeitlicher Bilderzählung, München / Berlin 2002.

[6] Mit Übertragungsfehlern in einem Van Mander-Zitat in Anm. 20: statt "r" steht mehrfach "z", statt "y" "p".

[7] Dass "die bisherige Tronieforschung über das 17. Jahrhundert nicht hinausging" (9), ist etwas irreführend, siehe z.B. Seite 47 im rezensierten Band. Momentan bereiten Ute Mannhardt über Balthasar Denner und die Rezensentin über Christian Seybold Dissertationen vor. Beide Künstler sind zu den wichtigen Troniemalern des 18. Jahrhunderts zu zählen.

[8] Ein Begriff, der unter anderem Werkstatt-Vorlagen bezeichnet. Dass die Definition allerdings nicht immer konsequent anzuwenden ist, belegt Denners "Gelehrter" von 1739 (35 × 31,4 cm, versteigert 2012 bei Van Ham) - eine Genredarstellung, für die wiederum eine von Denners Hamburger Männer-Tronien als Modell diente.

[9] Zum Beispiel Barthold Hinrich Brockes' "Irdisches Vergnügen in Gott", eine Gedichtsammlung (1721-1748), in der die Details der Natur - als Gottesbeweis - minutiös beschrieben werden.

[10] Dies diskutiere ich in meiner Doktorarbeit. Auf Seite 49 des Artikels (Anm. 20) wird anstatt SKD Dresden, KHM Wien als Aufbewahrungsort eines Seybold-Bildes erwähnt.

[11] Gregor J. M. Weber: Der Lobtopos des "lebenden Bildes". Jan Vos und sein "Zeege der Schilderkunst" von 1654, Hildesheim u.a. 1991; Ernst van de Wetering: The various functions of Rembrandt's self-portraits, in: Rembrandt's hidden self-portraits. Ausst.Kat. Amsterdam, Rembrandthuis, Amsterdam 2003, hier 30-32; ders.: Rembrandt's self-portraits: problems of authenticity and function, in: A Corpus of Rembrandt-Paintings. Foundation Rembrandt Research Project, bearb. v. Josua Bruyn u.a., 5 Bde., Den Haag u.a. 1982-2011, Bd. 4 (2005), 89-31; Herman Roodenburg: Over scheefhalzen en zwellende heupen: enige argumenten voor een historische antropologie van de zeventiende-eeuwse schilderkunst, in: De zeventiende eeuw: cultuur in de Nederlanden in interdisciplinair perspectief 9 (1993), Nr. 2, 152-168.

[12] Siehe Raupp / Hirschfelder (wie Anm. 2), 202: "das künstlerische Interesse [an Tronies trägt] einem anthropologischen Bedürfnis, einem 'Hunger nach Gesichtern' Rechnung".

Lilian C.A.M. Ruhe