Rezension über:

Ion Lihaciu: Czernowitz 1848-1919. Das kulturelle Leben einer Provinzmetropole, Kaiserslautern: Parthenon Verlag. Geist und Wissenschaft 2012, 258 S., ISBN 978-3-942994-00-2, EUR 29,80
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Rezension von:
Jan Surman
Herder-Institut, Marburg
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Jan Surman: Rezension von: Ion Lihaciu: Czernowitz 1848-1919. Das kulturelle Leben einer Provinzmetropole, Kaiserslautern: Parthenon Verlag. Geist und Wissenschaft 2012, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 4 [15.04.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/04/25135.html


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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Ion Lihaciu: Czernowitz 1848-1919

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Seit einigen Jahren richtet sich der Blick historisch-literarischer Forschung zunehmend auf die habsburgische Provinzstadt Czernowitz (Cernăuţi, Černivci), die durch Persönlichkeiten wie Paul Celan, Rosa Ausländer, aber auch Karl Emil Franzos die Geschichte der deutschsprachigen Literatur nachhaltig geprägt hat. Das Buch von Ion Lihaciu, Lektor für Germanistik an der Universität Iaşi, bildet den Auftakt zu einer Reihe zur Bukowina-Forschung. Es widmet sich der Entwicklung der Bukowinaer Literaturlandschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert bis zum Ende des Ersten Weltkriegs - einer Zeit, in der Czernowitz von einem unbedeutenden Städtchen im Osten der Monarchie zu einer, wie es im Titel auch anklingt, "Provinzmetropole" aufstieg. Dabei beschäftigt sich Lihaciu nicht nur mit der Literatur, sondern auch mit dem Theater- und Musikleben der Stadt, um im Bourdieuschen Sinne die Entstehung eines vom Zentrum emanzipierten "kulturellen Feldes" zu analysieren.

Vorweg sei angemerkt, dass der vielversprechende Titel etwas irreführend ist. Erstens umfasst die Studie nur das deutschsprachige kulturelle Leben der Provinzmetropole und behandelt das Werk ruthenischer oder rumänischer Autorinnen und Autoren nur dann, wenn diese auf Deutsch publizierten. Zweitens geht es - abgesehen von den drei letzten Kapiteln - hauptsächlich um eine Geschichte der Literaturlandschaft. Dies schmälert jedoch keinesfalls Lihacius Verdienste.

Nach einer anfänglichen Standortbestimmung und einem kurzen theoretischen Abriss über Pierre Bourdieus Feldtheorie analysiert Lihaciu den Aufstieg Czernowitzs von einem Objekt der Beschreibung - meistens in Reiseberichten - zur eigenständigen Literatur- und Kulturlandschaft. Mit der Beilage Familienblätter zur Zeitschrift Hauskalender (1857-1860) und der ersten belletristischen Zeitung der Provinz, dem Sonntagsblatt der Bukowina (1862), etablierte sich die deutschsprachige Literatur in der Czernowitzer Öffentlichkeit. Lihaciu zeigt, dass die ersten kulturellen Unterfangen auf private Initiative hin erfolgten - nämlich durch das Engagement der zwei Gymnasiallehrer und Dichter Ernst Rudolf Neubauer und Adolf Staufe-Simiginowicz. Unterstützt wurde diese Entwicklung durch zwei Institutionen - die 1850 gegründete Landesbibliothek und das Czernowitzer Gymnasium. An dieser Mittelschule wurde unter Neubauer die erste Generation einheimischer literati ausgebildet. Es waren also Lehrer, welche die Literaturszene der Provinz dominierten (93). Dass es sich hierbei nur um eine kleine Zahl von Autorinnen und Autoren sowie Leserinnen und Leser handelte, unterstreichen die von Lihaciu sorgfältig aufgelisteten, meist ephemeren Zeitschriften. Das frühe Literaturleben formierte sich eher durch selbständige Publikationen, die durch Lihaciu untersucht werden und bis dato in der Fachliteratur wenig Erwähnung fanden. Neben den Publikationen der bereits genannten Staufe-Simiginowicz, Neubauer und Franzos werden hier unter anderem die Werke von Johann Kaufmann, Isidor Friedrich Sauerquell, Leon Rosenzweig oder Hans Jaksch besprochen.

Mit Buchenblätter von Wilhelm Cappilleri beginnt für Lihaciu die Zeit der literarischen Anthologien (1864-1875), die zwar von einem eigenständigen, bereits vom Bürgertum dominierten literarischen Feld der Bukowina zeugen, gleichzeitig jedoch auch auf die inhärente Dependenz der Peripherie vom Zentrum durch Kontakte mit Autorinnen und Autoren außerhalb der Bukowina hindeuten. Trotz der sich institutionalisierenden Literaturlandschaft, die seit 1890 mit Im Buchwald (1890-1891) und Theater-, Kunst- und Literatur-Zeitung (ab 1895) professionelle Medien aufwies, welche die alte und junge Generation vereinigten, blieb für viele, wie Lihaciu unterstreicht, der Weg aus der Provinz die attraktivere Alternative. Um die Jahrhundertwende bedingten auch Konflikte zwischen den "bildungsbürgerlichen Ideen der 'traditionellen' Beamtenschaft" und "modernistisch gesinnten" jungen Autorinnen und Autoren eine weitere Auswanderungswelle in die Zentren nach Wien, Berlin oder Leipzig (163).

Ergänzt wird die Geschichte der Literaturlandschaft durch Kapitel zum Pressewesen, zum Theater und zur Musik in Czernowitz, in denen die Verdichtung sowohl lokaler Netzwerke der Kulturproduktion als auch des Publikums beschrieben wird. Obwohl interessant und faktenreich, bilden diese kurzen Studien einen Bruch mit der am "Feld"-Begriff orientierten Argumentation. Auch im Schlusswort wird auf sie nicht eingegangen. Dort zeichnet Lihaciu vielmehr nach, wie sich dieses Literaturfeld entlang der Meilensteine 1862, 1890, Moderne und Expressionismus (das Jahr 1919 und die Zeitschrift Der Nerv) herausgebildet hat.

Das bereits angesprochene Missverhältnis zwischen Titel und Inhalt prägt leider das gesamte Buch - nicht nur aufgrund der Ausblendung der Vielfalt des kulturellen Lebens in Czernowitz, sondern auch deswegen, weil der Schwerpunkt auf die Entwicklung des Literaturfeldes gelegt wird, dem Musik und Theater nur beigefügt werden. Um dem Bourdieuschen "Feld"-Begriff gerecht zu werden, hätte das Buch daher im Titel nur auf das deutschsprachige Literaturleben Bezug nehmen sollen. Besonders problematisch erscheint, dass der Begriff "Kultur" nur für die deutschsprachigen Akteure reklamiert wird. So heißt es etwa in der Einleitung, dass die deutsche Sprache als konfliktmildernde lingua franca einen Beweis "für das Gelingen sui generis der 'österreichischen Mission im Osten'" geliefert habe (7). Auf die Produktivität in anderen Sprachen, die in der Provinz gebräuchlich waren, wird hingegen nur dann hingewiesen, wenn die jeweiligen Autorinnen und Autoren auf Deutsch publizierten. Auch die konfessionelle Zugehörigkeit der Autorinnen und Autoren findet keine Erwähnung, obwohl der "Feld"-Begriff von Bourdieu durchaus dazu geeignet wäre, Positionierungskämpfe im multikonfessionellen Feld und den damit verknüpften Habitus nachzuzeichnen.

Letztlich gibt es auch eine Reihe handwerklicher Mängel. Mehr als einmal bekommt der Leser den Eindruck, dass die Arbeit eine Kompilation verschiedener Artikel darstellt, die nur vom "Feld"-Begriff zusammengehalten werden. Zumindest bei den Kapiteln zu Musik und Theater handelt es sich um erneute Abdrucke von bereits veröffentlichten Publikationen [1], ohne dass darauf im Literaturverzeichnis hingewiesen wird. Auch wenn der Artikel von 2009 leicht überarbeitet wurde, ist das Fehlen entsprechender Hinweise bedenklich. Auch in anderen Kapiteln wurden einige Passagen aus früheren Veröffentlichungen übernommen. Trotz der einwandfreien Sprache wäre auch ein gründliches inhaltliches Lektorat sinnvoll gewesen, da auf diese Weise oft wortwörtlich wiederholte Kurzinformationen über Zeitschriften und redundante biografische Notizen hätten vermieden werden können. Dass sich von den Familienblättern keine Exemplare mehr auffinden lassen, ist eine durchaus wichtige Information, muss jedoch nicht mehrfach wiederholt werden.

Trotz dieser Einwände stellt Lihacius Studie ein sehr fundiertes und inhaltsreiches Werk zum kulturellen Leben in Czernowitz dar, das nicht nur für Germanisten interessant ist. Bukowina-Spezialisten werden jedoch sicherlich viele Ergebnisse bereits aus früheren Studien des Autors kennen.


Anmerkung:

[1] Ion Lihaciu: Der Anfang des Theaterlebens in der Bukowina wiederspiegelt in der wiener satyrischen Zeitschrift der "Humorist" und in der amtlichen "Czernowitzer Zeitung", in: Acta Iassyensia Comparationis 7 (2009), 126-135; Ders.: Die Entwicklung der Musikszene in der Bukowina, ebenda 9 (2011), 151-157.

Jan Surman