Elisabeth Angermair / Stadtarchiv München (Hgg.): München im 19. Jahrhundert. Frühe Photographien 1850-1914, München: Schirmer / Mosel 2013, 320 S., 278 Abb., ISBN 978-3-829-60654-7, EUR 49,80
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Der vorliegende Band, zusammengestellt aus den Fotosammlungen des Münchner Stadtarchivs, präsentiert eine Vielzahl an Momentaufnahmen aus dem Leben dieser Stadt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und er ist in mehrfacher Hinsicht ausgesprochen informativ: So bietet die Einleitung aus der Feder von Michael Stephan, dem Leiter des Stadtarchivs München, eine knappe Geschichte vor allem der städtebaulichen Entwicklung der bayerischen Haupt- und Residenzstadt von der Thronbesteigung Max I. Josephs bis zu den Jahren des großen Aufschwungs während der sogenannten Prinzregentenzeit, als München zur Großstadt wurde. Besonderen Wert legt Stephan darauf, dem Leser jene Zäsur vor Augen zu führen, die sich Mitte der 1860er-Jahre lokalisieren lässt. Zuvor hatten sich die bayerischen Könige energisch darum bemüht, ihre Residenzstadt selbst architektonisch zu prägen. Am intensivsten betrieb das Ludwig I., man denke nur an die neu errichtete Ludwigstraße mit u.a. dem Odeon, der Bayerischen Staatsbibliothek, dem Universitätsgebäude, dem Siegestor und der Feldherrnhalle. Ludwig II. dagegen zog sich, nachdem seine Pläne für ein Münchner Wagner-Festspielhaus gescheitert waren, gänzlich aus der baulichen Weiterentwicklung der Stadt zurück; das gilt in modifizierter Hinsicht auch für Prinzregent Luitpold sowie für den letzten bayerischen König, Ludwig III. Allerdings ist bei beiden zu berücksichtigen, dass sie nach 1886 weder über die administrativen Möglichkeiten - vor allem seit der Änderung der bayerischen Gemeindeordnung 1869 - noch über das nötige Geld für ein nennenswertes Engagement verfügten. Und so kommt Stephan zu dem Urteil, dass man im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine immer stärkere "Emanzipation der Stadt [München] von der Residenz" (8) beobachten könne.
Den Entwicklungsschub in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts erkennt Stephan als Medaille mit zwei Seiten. Da steht dann das bürgerlich-wohlhabende München, bei dem einige Randgemeinden um Eingemeindung nachsuchten, einem München mit deutlich schlechteren Arbeiterquartieren gegenüber, wenngleich festzuhalten ist, dass die städtische Regierung und Verwaltung einer ungebremsten Industrieansiedlung und somit einer stärkeren Verelendung während dieser Jahre bewusst eine Absage erteilte. Die Liste aber, die Stephan am Ende seiner Einleitung noch anfügt, muss jeden heutigen Münchner Kommunalpolitiker vor Neid erblassen lassen, denn nur ein erheblicher städtischer Wohlstand - jener der Bürger wie der der Kommune - konnte es ermöglichen, dass in kürzester Zeit außerordentlich viele Bauaufgaben gleichzeitig gemeistert wurden: von den Isarbrücken bis zu den großen städtischen Friedhöfen, von öffentlichen Bädern bis zum Ausbau der Trambahn und deren Elektrifizierung, von allein 42 neu gebauten Elementarschulen (Volksschulen) bis zu einer Kanalisation, die München nach den letzten großen Epidemien 1872 (Typhus) und 1873/74 (Cholera) rasch zu einer der gesündesten Städte in Deutschland werden ließ.
Die Einführung von Elisabeth Angermair in die eigentliche Thematik des Bandes verknüpft anschließend biografische Hinweise zu den in München während des 19. Jahrhunderts tätigen Fotografen mit knappen Erläuterungen zur rasch voranschreitenden Technik der Fotografie sowie Bemerkungen zu den verschiedenen Fotosammlungen des Münchner Stadtarchivs. Im Mittelpunkt steht bei Angermair Georg Böttgers elfteilige Panoramafotografie der Stadt München, aufgenommen 1858 vom Turm der Peterskirche. Den elf Panoramasegmenten werden anschließend in elf Kapiteln - betitelt etwa mit "Über das Hackenviertel bis zur Theresienwiese" oder "Vom Viktualienmarkt in die Au nach Giesing" - aus anderen Sammlungsbeständen Fotos aus den Jahren von 1858 bis 1914 zugeordnet. Das führt zwar nicht zu einer direkten Vergleichbarkeit, da keine Fotoserien gezeigt werden, gezeigt werden können, die ein und dieselbe Straße, ein und denselben Platz immer wieder, jeweils im Abstand von einigen Jahren abbilden. Gleichwohl lässt sich zumeist auch so das gesellschaftliche und soziale Klima, das in den einzelnen Stadtquartieren herrschte, gut erkennen. Außerdem geben diese Fotografien sehr deutliche Hinweise, worauf die Stadtentwicklung damals zielte, wenn sie die Errichtung der Sankt-Anna-Pfarrkirche 1889 (226), Straßenbauarbeiten in der Prinzregentenstraße 1899 (234) oder den Bau der Corneliusbrücke über die Isar 1902/03 (301) dokumentieren.
Die hier versammelten Fotografien sind darüber hinaus für weitere Entdeckungen gut, denn sie machen u.a. klar, wie ländlich München auch am Ende des 19. Jahrhunderts vielerorts - trotz des Übergangs zur Großstadt - noch immer geprägt war; als Gemüsegärten genutzte Innenhöfe, unzählige Pferdefuhrwerke, aber auch eine Gänseherde auf der Tegernseer Landstraße 1905 (311) zeugen davon. Die Bilder einer öffentlichen Speisehalle für Bedürftige (85) und von Wohnverhältnissen, die heutzutage als eher prekär gelten müssten, belegen, dass der vorliegende Band nicht den Nostalgiker bedienen soll, der leicht sepiafarbene Abbildungen zumeist als Beweis für die angeblich so gute alte Zeit interpretiert. Neidisch dagegen können den heutigen Großstädter jene Aufnahmen machen, die Szenarien aus der Innenstadt oder vom Oktoberfest auf der Theresienwiese ablichten, auf denen aber partout keinerlei Gedrängel und keine Atemnot verursachenden Menschenaufläufe zu sehen sind. Darüber hinaus versteht man - nach der Lektüre und Betrachtung des Bandes - zuletzt viel besser, wie die Wachstumsdimensionen der Stadt beschaffen waren, wie sich architektonische Neuschöpfungen in die urbane Struktur funktional einfügten und welche topografischen Zentren heute noch das innere Gefüge Münchens bestimmen.
Zu wünschen bleibt bei diesem Band, der mithilfe der ausgewählten historischen Fotografien dokumentieren, der aber keine umfassende gelehrte Abhandlung sein will, nur wenig. Dazu gehört freilich eine Literaturliste, die mit einigen wenigen Titeln dem Interessierten geeigneten Stoff zur weiteren Lektüre an die Hand geben würde; die wenigen Anmerkungen am Ende von Angermairs Einführung bieten in dieser Hinsicht zu wenig. Wünschen würde man sich zudem einige moderne Stadtpläne - unter Umständen mit farbigen Markierungen -, auf denen das, was die Fotos der Jahre 1858 bis 1914 zeigen, im heutigen Stadtbild nachvollziehbar würde. Illusionär freilich muss der Wunsch der Rezensentin nach Farbfotos bleiben. Dennoch wird man die grundsätzliche Überlegung festhalten, dass Farbbilder die Kluft, die die leicht verfärbten Schwarz-Weiß-Bilder des 19. Jahrhunderts vermitteln, abschwächen könnten, dass uns dann das 19. Jahrhundert nicht in erster Linie als ferne, fremde Zeit erscheinen würde, sondern sich wahrscheinlich viel vertrauter und leichter erfahrbar präsentieren würde.
Katharina Weigand