Dieter Bingen / Maria Jarosz / Peter Oliver Loew (Hgg.): Legitimation und Protest. Gesellschaftliche Unruhe in Polen, Ostdeutschland und anderen Tranformationsländern nach 1989 (= Veröffentlichungen des Deutschen Polen-Instituts Darmstadt; 31), Wiesbaden: Harrassowitz 2012, 314 S., ISBN 978-3-447-06562-7, EUR 29,80
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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So hilfreich eine Dokumentation von Tagungsbeiträgen sein mag, so wenig folgen die daraus hervorgehenden Veröffentlichungen den herkömmlichen Regeln gezielt zusammengestellter Sammelbände - von Monografien ganz zu schweigen. Das vorliegende Buch ist aus einer Tagung hervorgegangen und trägt die entsprechenden Merkmale eines unvollständigen Mosaiks, dessen Teile weder auf einer Ebene liegen noch die gleiche Oberflächenstruktur haben und nur teilweise ineinandergreifen. Seine siebzehn Beiträge behandeln auf unterschiedliche Art und Weise verschiedene Aspekte eines zudem sehr breit gefassten Themas. Dennoch ist der Titel "Legitimation und Protest" mehr als eine Klammer, die den Beiträgen äußerlich bleibt, oder die Angabe eines kleinsten gemeinsamen Nenners. Er benennt vielmehr einen Zusammenhang, in den sich dieses Potpourri von Aufsätzen sinnvoll stellen lässt und deutet die Aktualität und Größe der Fragen an, die hinter den Beiträgen stehen.
Zugespitzt lässt sich formulieren, dass es bei diesen Fragen um die Legitimierungsfähigkeit der nach 1989 eingerichteten Gesellschaftsordnung und ihrer Politik geht. Die Herausgeber rücken die von ihnen durchgeführte Tagung in den Kontext der sogenannten "Bewegungsforschung". Zu Recht wird in der Untersuchung sozialer Bewegungen in Polen und anderen ostmitteleuropäischen Ländern für die Zeit nach der Zäsur von 1989 ein Desiderat gesehen. Nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems und der Herrschaft der Kommunistischen Parteien kamen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft rapide Wandlungsprozesse in Gang, die die private und berufliche Situation von vielen Millionen Menschen ebenso verändert haben wie die Struktur ihrer sozialen Beziehungen, das öffentliche Leben und die Verteilung politischer Macht, Einflussmöglichkeiten und Abhängigkeiten. Die Frage danach, was für Protestbewegungen sich in diesem Kontext bilden und wogegen sie antreten, erscheint richtig und wichtig, da sie Einblicke in die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse und Problemkonstellationen der östlichen EU-Mitgliedsländer versprechen.
Trotz einiger allgemein gehaltener Beiträge sowie Ausführungen zu Protestbewegungen in Ungarn, Ostdeutschland und der Ukraine bildet der polnische Fall den eindeutigen Schwerpunkt des Buches, dessen Bezugsrahmen eher von den Visegrád-Staaten als von Ostmitteleuropa insgesamt gebildet wird. Die Aufsätze präsentieren sich dem Leser in vier Rubriken: "Populismus, Protest und Systemtransformation", "Rechtsradikalismus und Antisemitismus", "'Alter' und 'neuer' sozialer Protest" sowie "Legitimität und Erinnerungskultur". Die Gruppierung der Aufsätze und ihre inhaltliche Durchsicht lassen ein Bild entstehen, in dem vor dem allgemeinen Hintergrund der politischen und wirtschaftlichen Neuordnung verschiedene Facetten "gesellschaftlicher Unruhe" ausgelotet werden. Diese reichen von rechtskonservativen Rekursen auf das als bedroht wahrgenommene Eigene in der Parteipolitik über spontan organisierten Protest einzelner Interessengruppen gegen die sozialen Kosten der Umstrukturierung bis hin zu linksalternativen Bewegungen, die sich ähnlich wie in anderen Ländern der Welt gegen spezifische Benachteiligungsstrukturen von Frauen wenden, die ökologischen Auswirkungen lokaler Industrialisierungsprozesse nicht hinnehmen möchten oder für eine sozialverträglichere Form des wachsenden weltweiten Wirtschaftsverkehrs eintreten. Im letzten Abschnitt werden zudem noch die gerade in Polen recht massiven Konflikte hinsichtlich des nationalen Erbes und der Bewertung der jüngeren (und ferneren) Vergangenheit thematisiert.
Ohne in allen Beiträgen explizit Thema zu sein, zieht sich der Aspekt "Populismus" wie ein roter Faden durch das Buch, und obwohl auch linkspopulistische Bewegungen angesprochen werden, überwiegen die Ausführungen zu rechtspopulistischen und rechtsradikalen Parteien und Einstellungen deutlich. Dabei werden Populismus und Rechtsradikalismus zwar in thematisch voneinander getrennten Abschnitten behandelt, treten aber aus inhaltlichen Gründen nicht nur in einem engen Zusammenhang mit dem Systemumbruch, sondern auch in einer gewissen Nähe zueinander auf. Populismus stellt sich hier wiederholt als parteipolitische Argumentationsstrategie dar, die ein in Teilen der Bevölkerung verbreitetes Misstrauen gegenüber den Eliten und der von ihnen repräsentierten Ordnung artikuliert, ohne die demokratische Rechtsstaatlichkeit unmittelbar zu bedrohen. Demgegenüber wird der Rechtsradikalismus vor allem am Beispiel der von der Jobbik angeführten, radikalen und teilweise offen militanten Protestbewegung in Ungarn thematisiert, die durch eine große Anzahl subkultureller Organisationen getragenen wird und nur vor dem Hintergrund einer massiven politischen Krise parteipolitische Repräsentanz erlangen konnte. Allerdings: So entscheidend und eindeutig die Differenzen zwischen rechtem Populismus und Radikalismus einerseits sind, so fließend können die Übergänge bei den verwendeten Argumentationsschemata und den Einstellungsmustern potenzieller Wählergruppen andererseits sein. Im vorliegenden Sammelband schlägt sich diese reale Nähe in zahlreichen Überschneidungen zwischen Beiträgen in den ersten beiden Abschnitten nieder.
In diesen Überschneidungen ist ebenso wenig ein Zufall zu sehen wie in der Tatsache, dass den reaktionären Strömungen recht viel Platz eingeräumt wird. Denn unabhängig vom Grad ihrer Radikalität kommt den Bewegungen, die sich gegen die Entscheidungsträger der Übergangszeit und die Strukturen der neuen Ordnung wenden, in Politik und Gesellschaft ein relativ großes Gewicht zu. Dies gilt derzeit vor allem für Polen und Ungarn, findet sich weniger ausgeprägt und in anderer Form aber auch in Tschechien und der Slowakei. Demgegenüber scheinen die Bewegungen, die in relativem Einklang mit den neuen Verhältnissen für legitime Gruppeninteressen oder alternative Lösungen für anerkannte Gegenwartsprobleme eintreten, eher marginalen Charakters zu sein. Solche Protestbewegungen werden im vorliegenden Sammelband als "neuer" sozialer Protest in eine Traditionslinie mit den "alten" Bürgerbewegungen gestellt, unter denen hier die demokratischen Oppositionsbewegungen gegen den Kommunismus zu verstehen sind. Aus den entsprechenden Beiträgen geht hervor, dass etwa frauenemanzipatorische oder ökologische Proteste auch in Ostmitteleuropa inzwischen nicht mehr sonderlich "neu" sind. So hat es unter anderem in Polen bereits in den 1980er Jahren nicht nur lokale Mobilisierungen gegen ökologisch bedenkliche Infrastrukturprojekte, sondern auch umfassendere Umweltschutzbewegungen gegeben. Allerdings wurden sie, wie so vieles andere auch, in der Zeit des Kommunismus von gewichtigeren Konflikten in den Schatten gestellt. Durch die politischen Mehrheitsverhältnisse in den neuen Demokratien, die grob verallgemeinernd durch liberale und konservative Grundhaltungen dominiert werden, setzt sich die Untauglichkeit klassischer links-rechts Einteilungen in gewisser Weise bis heute fort. Denn in den von schnell voranschreitenden Modernisierungs- und Individualisierungsprozessen betroffenen Transformationsgesellschaften sind es nicht die partizipationsorientierten Protestbewegungen, die die öffentlichen Diskussionen immer wieder zu dominieren wissen, sondern rechtspopulistische Invektiven.
Durch die Vielfalt der in ihrer Qualität naturgemäß variierenden Beiträge ermöglicht "Legitimation und Protest" insgesamt nicht nur Einblicke in mehr oder weniger interessante Einzelphänomene, sondern ist vor allem als Abbildung einer spezifischen Gemengelage informativ. Da von den Herausgebern weder eine bewusste Zusammenstellung noch eine prüfende, sich auf den gesamten Inhalt beziehende Abwägung stattgefunden hat, darf diese tour d'horizon zwar nicht mit einem repräsentativen Überblick oder gar einer allgemeinen Analyse verwechselt werden. Trotzdem ist die Tagungsdokumentation instruktiv, vor allem wenn man die Einzelbeiträge in ihrem Zusammenspiel liest.
Lisa Bonn