Frank Büttner: Giotto und die Ursprünge der neuzeitlichen Bildauffassung. Die Malerei und die Wissenschaft vom Sehen in Italien um 1300, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2013, 175 S., ISBN 978-3-534-25753-9, EUR 39,90
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Hermann Bauer / Frank Büttner / Bernhard Rupprecht (Hgg.): Corpus der barocken Deckenmalerei in Deutschland. Band 7: Freistaat Bayern - Regierungsbezirk Oberbayern, Landkreis Erding. Bearbeitet von Anna Bauer-Wild und Cordula Böhm, München: Hirmer 2001
Frank Büttner / Herbert W. Rott (Hgg.): Kennst Du das Land. Italienbilder der Goethezeit, München / Köln: Pinakothek-DuMont 2005
Frank Büttner / Markus Friedrich / Helmut Zedelmaier (Hgg.): Sammeln, Ordnen, Veranschaulichen. Zur Wissenskompilatorik in der Frühen Neuzeit, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2003
Die Perspektive als produktionsästhetisches Verfahren beschäftigt die Forschung mindestens seit der bahnbrechenden Studie Die Perspektive als 'symbolische Form' (1927) von Erwin Panofsky. Auch Frank Büttner hat sich in mehreren Aufsätzen zu den Anfängen der konstruierten Perspektive im 15. Jahrhundert geäußert. Mit seinem aktuellen Buch Giotto und die Ursprünge der neuzeitlichen Bildauffassung legt Büttner nun aber eine grundlegende Studie über die Vorgeschichte des zentralperspektivischen Bildes vor. Den thematischen Schwerpunkt bilden Giottos Fresken der Arena-Kapelle, an denen die eminente Bedeutung der Optik für die Kunstentwicklung am Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit paradigmatisch nachgezeichnet wird.
Büttners übergreifendes Interesse gilt den Ursachen und Motiven des "epochalen Wandels" (7), der sich in der italienischen Malerei um 1300 vollzieht. Die einleuchtende, stellenweise auch in der älteren Forschung (etwa bei Edgerton) vermutete, bislang aber niemals wirklich bewiesene These lautet, dass in den "Lehren der Optik eine wesentliche Voraussetzung für den Wandel der Kunst um 1300 zu finden ist." (8) Erklärtes Programm ist damit die Verbindung von Wissenschaftsgeschichte und Kunstgeschichte. In der Tat gelingt es Büttner, diese Maßgabe mittels präziser philologischer Arbeit an den Quellen wie auch sensibler Beobachtungen an den Werken Giottos sowie seiner Zeitgenossen einzulösen und damit einen fundierten Zugang zur Kunst und zur Bildauffassung um 1300 zu schaffen.
Unter Rückgriff auf zeitgenössische Quellen (Villani und Boccaccio) akzentuiert Büttner zunächst den Naturalismus der Malerei Giottos, der seit Panofsky allzu oft als Wegbereiter des zentralperspektivischen Bildes gesehen wurde. Man würde Büttners Ansatz jedoch grundlegend missverstehen, falls man die vorliegende Studie als Teil eines teleologischen Argumentationsganges hin zu dem durch Alberti kodifizierten Konstruktionsverfahren begreift. Das Interesse des Autors ist vielmehr wesentlich auf die Funktion von Licht und Farbe bei der Herstellung und vor allem bei der Wahrnehmung von Bildern gerichtet. Denn genau jene beiden Aspekte wurden seit der Mitte des 13. Jahrhunderts in den Lehren von der Physiologie und Psychologie der visuellen Wahrnehmung mit großer Aufmerksamkeit bedacht.
"Die Aufwertung und Erforschung der visuellen Wahrnehmung" (15-27) ist dann auch das Thema des zweiten Kapitels, welches die kulturgeschichtlichen Voraussetzungen für den um 1300 einsetzenden Wandel in der Kunst beleuchtet. Die optischen Lehren von Alhacen und seiner mittelalterlichen Nachfolger (Roger Bacon, John Pecham und Witelo) werden dabei vor allem auf die kognitive Verarbeitung des Seheindrucks hin befragt. Diese summarische Einführung in die Wissenschaftsgeschichte gründet hauptsächlich auf der längst zum Klassiker avancierten Studie von David Lindberg. [1] Besonders aufschlussreich ist jedoch Büttners Hinweis auf die Rolle des päpstlichen Hofes in Viterbo als Ort der Wissensvermittlung: Hier konzentrierte sich im 13. Jahrhundert die Optikforschung der Franziskaner und von hier aus betrieben die Päpste ihre Kunstförderung. So wird durch das rekonstruierte Netzwerk der Akteure und Kommunikationswege plausibel, wie die Künstler der großen Freskenzyklen der Franziskaner überhaupt mit der neuen Theorie der visuellen Wahrnehmung in Kontakt kommen konnten.
Das dritte Kapitel behandelt den spätmittelalterlichen Wandel der Auffassung von den Aufgaben und dem Status des Bildes (28-37). Hier greift der Autor auf einen eigenen, bereits 1998 publizierten Aufsatz zurück. Unter Rekurs auf Thomas von Aquin und Bonaventura sowie durch Hinweise auf geistliche Schauspiele und das Aufkommen lebensgroßer, polychromer Skulpturen verdeutlicht Büttner, dass der Naturalismus der Kunst um 1300 seinen Ursprung im Wunsch nach Vergegenwärtigung des Heilsgeschehens hatte. Diese neue Erwartungshaltung ist, so Büttner, der entscheidende Stimulus, der auch die Maler zur Weiterentwicklung ihrer Darstellungsmittel anregte.
Entsprechend ist das vierte Kapitel dem Wandel der Körperdarstellung in der Malerei um 1300 gewidmet (38-50). Der kontrastierende Vergleich von Cimabue und Giotto macht deutlich, dass Giotto als erster von den wahrnehmungstheoretischen Implikationen der neuen Empfangstheorie Kenntnis genommen hat. Mehr noch: Giotto musste begriffen haben, dass die Malerei mit der Skulptur auf dem Gebiet der Vergegenwärtigung fortan nur dann würde konkurrieren können, wenn ein Gemälde genauso beschaffene "species" auszusenden vermochte, wie es die Objekte selbst tun. Entscheidend ist dabei, dass sich mit dem Modell der Sehpyramide auch die Erkenntnis durchsetzt, dass jene Punkte eines Objekts, die von den Sehstrahlen auf kürzerem Weg erreicht werden, eine größere Helligkeit aufweisen, während bei jenen Punkten, die auf einem längeren Weg erreicht werden, das Gegenteil der Fall ist. Das Ergebnis ist eine neuartige, mittels der stufenlosen Helldunkelmodulation erzielte plastische Wirkung der Figurenkörper. Natürlich wird hier das Chiaroscuro nicht zum ersten Mal als bedeutsamer künstlerischer Entwicklungsschritt um 1300 beschrieben. Büttners Akzent liegt jedoch weitaus stärker auf den rezeptionsästhetischen Implikationen des Sehpyramidenmodells, welche zentral für das Verständnis der rilievo-Wirkung auf einen Bildbetrachter sind.
Im fünften Kapitel steht Giottos Bemühen um eine raumhaltige Gestaltung architektonischer Körper wie auch einer Fernwirkung von Landschaftsgründen im Zentrum des Interesses (51-71). An den Fresken der Arena-Kapelle weist Büttner nach, dass Giotto ganz bewusst die räumlichen Relationen im Bild in Abhängigkeit zum Standort des Betrachters konzipiert. Es wird gezeigt, dass Giotto eine häufige Schrägstellung der Architekturkörper konsequent mit dem Prinzip der Tiefenverdunklung verschränkt, um so durch Lage (situs) und Verdunkelung der Körper den Eindruck räumlicher Tiefe zu forcieren. Ausführlich wird auch Giottos Umgang mit der Tiefenverkürzung behandelt, bei der er sich zwar dem Grundsatz nach an den Lehren Euklids und Witelos orientiert, jedoch das geometrisch noch nicht ganz exakte Verkürzungsverfahren wiederholt den Anforderungen der Komposition unterordnet. Auch hier stehen also nicht die Anwendung perspektivischen Regelwissens im Vordergrund, sondern die Auseinandersetzung Giottos mit der zeitgenössischen Wissenschaft vom Sehen und deren experimentelle Übertragung auf die Malerei.
Genau dieses Argument gewinnt im sechsten Kapitel (72-85) weiter an Kontur. Denn anhand der szenenübergreifend einheitlichen Beleuchtung, die Giotto in den Arena-Fresken zur Anwendung bringt, zeigt sich eine intensive Auseinandersetzung mit den Optiktheorien. "Die Wirkung der bildübergreifenden Einheitlichkeit der Beleuchtung war ein koloristisches Problem, dessen Lösung um 1300 keineswegs selbstverständlich war." (78) Im Unterschied zur scholastischen Lichtmetaphysik vermittelten nämlich die Optiktraktate die Einsicht, dass Licht und Farbe in ihrem Vorkommen untrennbar miteinander verbunden sind, Farbe also immer als "lux colorata" wahrgenommen wird. Entsprechend seinem Ansinnen, den Malereien in der Arena-Kapelle größere Gegenwärtigkeit zu verleihen, hat Giotto das Verdunklungsprinzip des Rilievo konsequent asymmetrisch angewandt. Nicht allein die Geometrie dieser Verdunkelung, sondern zugleich das Farbsystem muss Giotto in der Auseinandersetzung mit den Optik-Traktaten bestimmt haben, wobei die Buntfarben zwischen den Polen von Weiß und Schwarz aufgereiht werden. Die asymmetrische Aufhellung der Buntfarben durch Weiß muss dann, so Büttner, als Einwirken eines idealtypischen Tageslichts verstanden werden. Die Farbgebung der Fresken in Padua ist also durchgängig der Tiefensuggestion der Bilder unterstellt und in dieser Wirkungsästhetik durch die zeitgenössische Sehtheorie fundiert.
Der herausgehobene Stellenwert, den die Arena-Fresken in der Darstellung Büttners einnehmen, ist dadurch legitimiert, dass der Zyklus selbst eine Entwicklung veranschaulicht. Demnach hat Giotto im Prozess der Herstellung dieser Monumentaldekoration sehr wesentliche Einsichten gewonnen. Deshalb folgert Büttner mit Recht, dass die Beobachtungen "von erheblicher Bedeutung für unser Urteil und die Datierung der Werke Giottos und seines Umkreises [sind]" (86). Diesem Aspekt geht der Autor im siebten Kapitel (86-107) unter Einbezug weiterer Werke Giottos sowie der Fresken der Oberkirche von S. Francesco in Assisi und der Malerei Duccios in Siena nach.
Das achte Kapitel thematisiert schließlich die Florentiner Spätwerke Giottos in Santa Croce (108-122). Die Art der Betrachterorientierung wird hier zum Maßstab für die spätere Entwicklung der Bildauffassung. Dass Giotto das Bild gemäß den Erkenntnissen der Optikforschung als Sehobjekt definiert, welches aus unterschiedlichen Blickpunkten betrachtet werden kann, klärt Büttner durch eine Analyse der Figuren- und Architekturkörper der beiden Freskenzyklen. Während die Bardi-Kapelle noch einen prioritären Blickpunkt innerhalb der Kapelle aufweist, kommen in der Peruzzi-Kapelle schließlich zwei gleichberechtigte Blickpunkte zum Tragen, die für den sich der Kapelle nähernden Betrachter eine überzeugendere Wirkung entfalten, indem sie durch das "Mitwandern" der Perspektive die Trennung von Betrachter- und Bildraum tendenziell aufheben.
Entgegen der durch Hetzer und Imdahl initiierten Tendenz, die Fresken Giottos vorrangig als eine flächenbezogene Kunst zu definieren, geht Büttner im neunten Kapitel dem künstlerischen Raumkonzept und seinen philosophischen Grundlagen nach (123-149). Ausgangspunkt ist Giottos Annährung der Bildwahrnehmung an die Prinzipien Wirklichkeitswahrnehmung mittels der konsequenten und systematischen Anwendung der Sehpyramide. Obwohl Giotto noch keine Vorstellung eines unabhängig von den Objekten existierenden Raums hatte, musste er bildimmanent die räumlichen Bezüge der Körper zueinander klären. Als wichtigen theoretischen Impuls identifiziert Büttner die insbesondere durch Thomas von Aquin vermittelte und erweiterte, im Kern aber aristotelische Raumphilosophie. Hier taucht mit "spatium" erstmals jener Raumbegriff auf, der einen Raum vorstellbar macht, welcher zwischen den Körpern und ihren Orten liegt. Mit dieser künstlerischen Erschließung des kontinuierlichen Raumes als Zwischenraum geht, wie Büttner im zehnten Kapitel (150-159) erörtert, auch die Entdeckung des Momentbildes einher: Das Bild als Ausschnitt aus Raum und Zeit.
Die Ergebnisse des Buches sind nicht in allen Details neu, aber gerade durch die Art ihrer Verknüpfung gelingt Büttner eine überraschende Neubewertung der Malerei um 1300, insbesondere derjenigen Giottos. In der Geschichte der Kunst gilt Giotto traditionell als ein Suchender auf dem Weg zum Fluchtpunkt (etwa bei Panofsky und White), der letzteren freilich noch nicht fand, sondern mit Fluchtachsen und Fluchtfeldern ("vanishing area") lediglich eine Annährung erreichte. [2] Giottos Kunst erscheint in dieser produktionsästhetischen Sichtweise immer intuitiv begründet und theoriefern. Auch Vasari hat in diesem Sinne die Unkenntnis von Regelwissen hervorgehoben und Giotto, keineswegs abschätzig, aber doch tendenziös, als "discepolo della natura" charakterisiert. Wie intensiv aber Giottos Auseinandersetzung mit der aktuellen Wissenschaft war und wie zentral folglich die Wissenschaftsgeschichte der Optik für das Verständnis seiner Werke ist, hat Büttner durch die Umkehrung der Fragestellung, hin zu einer rezeptionsästhetischen Betrachtung, sehr eindrücklich nachgewiesen.
Die pointierte, didaktisch sehr eingängige Sprache und die gelungene Kombination aus Wissenschaftsgeschichte und Kunstgeschichte, aus quellengestützter Argumentation und der Verifikation am Bild sind die großen Vorzüge des Buches. Es ist ein Beleg dafür, was die Kunstgeschichte zu einer allgemeinen Bildwissenschaft (Geschichte des Sehens) methodisch wie inhaltlich beizutragen vermag.
Anmerkungen:
[1] David C. Lindberg: Augen und Licht im Mittelalter. Die Entwicklung der Optik von Alkindi bis Kepler, Frankfurt a. M. 1987.
[2] John White: Birth and Rebirth of Pictorial Space, London 1972, 75.
Alexander Linke