Sascha Werthes: Die Sanktionspolitik der Vereinten Nationen. Rekonstruktion und Erklärung des Wandels der UN-Sanktionspraxis (= Nomos Universitätsschriften. Politik; Bd. 187), Baden-Baden: NOMOS 2013, 339 S., ISBN 978-3-8487-0374-6, EUR 59,00
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Seit den 1990er Jahren boomt die Sanktionsaktivität des UN-Sicherheitsrates. Diesen Fakt einzig mit dem Ende des Ost-West-Konflikts zu erklären, würde jedoch zu kurz greifen. Auch Sascha Werthes will in seiner Dissertation die Umstände aufspüren, warum das mächtigste Organ der Vereinten Nationen nicht nur in höherer Frequenz Beugemaßnahmen beschloss, sondern diese sich auch in ihrer Qualität veränderten. Dabei fragt er etwa nach dem gewandelten Verständnis von Bedrohungen der internationalen Sicherheit oder wie das grundlegende internationale Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten reinterpretiert wird (54f.).
Die am Center for Conflict Studies der Philipps-Universität Marburg entstandene Studie leistet einen weiteren Beitrag zum derzeit florierenden Forschungsgegenstand UNO. Auf 297 Seiten untersucht der Autor die seit 1990 beschlossenen Sanktionen des UN-Sicherheitsrates. Im Gegensatz zum Untersuchungsgegenstand UN-Peacekeeping sei die UN-Sanktionspolitik wenig bis gar nicht erforscht; dies gelte vor allem für die hier im Fokus stehenden politischen Entscheidungsprozesse (33). Werthes konstatiert zwar eine dichte deskriptive Erfassung des quantitativen und qualitativen Wandels in der Anwendung der zentralen Krisenmanagementinstrumente der Vereinten Nationen, zu denen internationale Sanktionen zählen, als Forschungsdesiderat identifiziert der Autor jedoch "die Hintergründe und Bedingungen dessen, wann und wie es zum Wandel in der Anwendung dieser Instrumente gekommen ist" (31).
Die Untersuchung liefert zunächst eine empirische Bestandsaufnahme der UN-Sanktionspraxis und schließt daran eine Analyse der politischen Entscheidungsprozesse im Umfeld dieser Sanktionspraxis an. Ziel ist es, "charakteristische Züge und gegebenenfalls Trends zu identifizieren" sowie "kontextuelle Einfluss- und zentrale Bedingungsfaktoren" (32) herauszuarbeiten.
Die Untersuchung gliedert sich inhaltlich in drei Teile: Die ersten zwei Kapitel führen in das Thema ein und legen den methodischen Zugriff dar. Kapitel 3 umreißt die Rolle des UN-Sicherheitsrates in der globalen Sicherheitsarchitektur und betont seine hinsichtlich Autorität und Legitimität singuläre Rolle, die sich aus Kapitel VII der UN-Charta ableitet (62). Kapitel 4 beinhaltet die empirische Bestandsaufnahme, für die Werthes die Sanktionsbeschlüsse des UN-Sicherheitsrates in Sanktionsepisoden zusammenfasst. Kapitel 5 umfasst schließlich die Analyse der politischen Entscheidungsprozesse, in welche die UN-Sanktionsmaßnahmen eingebettet sind. Hierauf folgen in Kapitel 6 die Schlussbemerkungen des Autors.
Für die empirische Bestandsaufnahme bedient sich Werthes methodisch eines "strukturiert fokussierten Vergleichs", um "empirische Auffälligkeiten und Charakteristika des Wandels der UN-Sanktionspraxis" herauszuarbeiten (43). Daneben stützt sich sein erklärender Analyseteil auf das ursprünglich durch den US-amerikanischen Politikwissenschaftler John Kingdon entwickelte Multiple-Streams-Modell (44). In seiner weiterentwickelten Form dient dieser Ansatz der Politikfeldanalyse dazu, die verschiedenen Aspekte politischer Entscheidungsprozesse, etwa Politikstrategien, Akteure, Handlungsoptionen, Gelegenheitsfenster etc., zu untersuchen, um Gründe für eine bestimmte Entscheidung zu eruieren. Nicht nur im Methodenteil offenbart die stark sozialwissenschaftlich geprägte Sprache, an welchen Adressatenkreis sich diese Untersuchung richtet.
Das empirische Material umfasst primär öffentliche UN-Dokumente: des Sicherheitsrates (Resolutionen und Sitzungsprotokolle), von Sachverständigengruppen und des Generalsekretärs (44). Mit einem kurzen Seitenblick auf die Zeit zwischen 1945 und 1990 liefert die Untersuchung auf etwas über 70 Seiten für 20 Konflikte eine systematische Aufstellung der beschlossenen UN-Sanktionen. Diese chronologisch gegliederte und höchst schematisch vorgehende Zusammenstellung führt jeweils in knapper Form den Anlass und die Art der Bedrohung des internationalen Friedens, die getroffenen Sanktionsmaßnahmen, die damit verfolgten Ziele, die Administration und Durchführung sowie die jeweiligen Besonderheiten auf. Entstanden ist ein katalogartiger Überblick, der den Leser zwar mit den notwendigen Fakten versorgt, bedauerlicherweise von den im Analyseteil gelieferten Erklärungsansätzen jedoch eher separiert bleibt.
Im Ergebnis dieser Bestandsaufnahme konstatiert Werthes neben der Modifizierung von umfassenden Sanktionsregimen hin zu gezielten Sanktionsmaßnahmen (162) eine Ausweitung der politischen Agenda des UN-Sicherheitsrates und die Aufnahme sekundärer Sanktionsziele. Statt schwerpunktmäßig den Friedensprozess gefährdende Kampfhandlungen unterbinden zu wollen, verfolge die spätere Sanktionspraxis die Stabilisierung von Friedensprozessen und Ziele bis in Phasen des Post Conflict Peacebuilding hinein (184). Neben den gewandelten Herausforderungen, vor welche die sogenannten 'neuen Kriege' die internationale Gemeinschaft stellen, identifiziert Werthes zwei zentrale Motivlagen, welche die Evolution der UN-Sanktionspraxis prägten: die Begrenzung der humanitären Folgen und die Verbesserung der Effektivität (190f.).
Wie angekündigt will Werthes jedoch nicht nur rekonstruieren, sondern ebenso erklären. Im Analyseteil wendet er zu diesem Zweck das Multiple-Streams-Modell auf seine empirischen Befunde an. Die Evolution der UN-Sanktionspolitik versteht der Autor als Konsequenz der Wechselwirkungen zwischen Problem-, Politics- und Option-Strom (221). Entscheidungen, die Veränderungen in der Anwendungspraxis hervorrufen, zielen danach nicht intendiert auf eine programmatische Praxisveränderung ab. Sie sind das Ergebnis der Bedingungen, die das Entscheidungsumfeld prägen (206).
Werthes gelangt schließlich zu der Erkenntnis, dass weder Notwendigkeiten noch Rationalität entscheidend für den Wandel in der Entwicklung der UN-Sanktionspraxis sind, sondern vielmehr "Kontingenz" und die viel zitierten Gelegenheitsfenster den Ausschlag geben würden (284f.). Gemeint ist damit, dass die Entwicklung der UN-Sanktionspraxis kein Ergebnis einer gezielten Reformpolitik der beteiligten internationalen (staatlichen wie nicht-staatlichen) Akteure ist, sondern sich schubweise und aufgrund pragmatischer Entscheidungen vollzieht.
Die Ergebnisse der Untersuchung sind einleuchtend, jedoch wenig überraschend. Sicher hätten sie sich auch erreichen lassen, ohne einen solch voluminösen Theoriebau zu bemühen, der eher vom Untersuchungsgegenstand ablenkt. Ein vermittelndes Narrativ wird dabei vernachlässigt. Stattdessen drängt sich das Untersuchungsinstrumentarium unter Betonung der Methodentauglichkeit teils irritierend weit in den Vordergrund. Eine höhere Kohärenz hätte vielleicht auch dadurch erreicht werden können, dass die einzelnen Sanktionsepisoden direkter mit der Analyse der politischen Entscheidungsprozesse verknüpft worden wären.
Sascha Werthes Studie bietet eine große und vielseitige Informationsfülle. Neben der empirischen Bestandsaufnahme der UN-Sanktionspraxis seit 1990 bleiben auch die Perspektiven der Völkerrechts- oder der Friedens- und Konfliktforschung auf das Thema internationales Krisenmanagement nicht unberücksichtigt. Mit der Multiple-Streams-Analyse wird eine mögliche Methode vorgestellt, sich dem Untersuchungsgegenstand zu nähern. Insgesamt bietet dieses Buch eine methodengesättigte Variante, die UN am Beispiel ihrer Sanktionspraxis als "organisierte Anarchie" (208) zu beschreiben.
Julia Frommhold