Birgit Aschmann: Der Traum der Vernunft und seine Monster. Goyas Perspektive auf das 19. Jahrhundert (= Lectiones Inaugurales; Bd. 6), Berlin: Duncker & Humblot 2013, 70 S., ISBN 978-3-428-14105-0, EUR 14,90
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Mit der Antrittsvorlesung, die diesem Heft zugrunde liegt, hat sich Birgit Aschmann an der Humboldt Universität zu Berlin vorgestellt, wo sie seit 2011 den Lehrstuhl für europäische Geschichte des 19. Jahrhunderts inne hat. Ihr Ziel, für Interesse an diesem Jahrhundert zu werben und zugleich anschaulich zu machen, warum man Europa geschichtswissenschaftlich nicht an den Pyrenäen enden lassen sollte, dürfte sie erreicht haben. Wer sich von ihrem Plädoyer nicht überzeugen lässt, dem ist nicht zu helfen.
Francisco de Goyas Blick in das 19. Jahrhundert zu entschlüsseln, bedeutet für die Autorin, die Ambivalenzen dieses Säculums zu betrachten: den Fortschrittsoptimismus und die Angst vor der dunklen Gegenseite, vor der "Sinnlosigkeit des Mordens" (56), vor der "Gewalt als Herrschaftsform in zwischenmenschlichen Beziehungen" und auch vor der "Lust an der Angst und am Leiden anderer" (59). Aschmann verfolgt am Lebensweg und an den Bildern Goyas zwei unterschiedliche Zugänge zur Geschichte des 19. Jahrhunderts:
(1) Die politische Linie, die sich durch den Text zieht, zielt auf Spanien als den Ursprung des nationalen Widerstands in Europa gegen Napoleon und als Wiege des verfassungspolitischen Liberalismus. Wie unklar die inneren Fronten in der napoleonischen Ära verliefen und wie verfehlt es wäre, die nationalpolitischen Gegensätze zu überzeichnen, verdeutlicht Aschmann an Goyas Bereitschaft, sich pragmatisch den jeweiligen Machtverhältnissen anzupassen. Er ließ sich von Napoleons Bruder, als José I. zum spanischen König erhoben, mit einem Orden auszeichnen und zeigte sich bereit, an Napoleons Kunstraub als Experte mitzuwirken. Doch Goya überstand auch alle politischen Wechsel danach, und selbst als er vor den "Hexenjagden auf Liberale" (36) im wiederhergestellten absolutistischen Regime ins französische Exil nach Bordeaux auswich, ließ er sich vom spanischen König mit Pension beurlauben. In seinen Bildern gestaltete er die Prinzipien der Aufklärung, wie sie ihre politische Gestalt in der Verfassung von Cádiz fanden, die zum Vorbild im kontinentaleuropäischen Konstitutionalismus wurde. Doch diesem "Traum der Vernunft, von liberalen Minderheiten geträumt" (43), konfrontierte Goya vor allem in seinem Spätwerk immer stärker mit der "Wiederkehr seiner Monster" (43). Goyas politische Position ist deshalb schwer zu bestimmen. Wenn man ihn als Liberalen bezeichnen will, so steht er für einen Liberalismus, der die Grenzen der Aufklärung früh erkannt und seine Zukunftssicherheit verloren hat.
(2) Neben die politische Geschichte stellt Aschmann die Emotionsgeschichte. Mit dem Forschungsstand in diesem Bereich setzt sie sich nicht auseinander - dazu wäre eine Antrittsvorlesung nicht der geeignete Ort und auch die Druckfassung wäre überfrachtet worden -, doch sie zeigt, welche Möglichkeiten sich bieten, wenn die geschichtswissenschaftliche Emotionsforschung die Grenzlinie zur Kunstgeschichte zu überschreiten wagt. In Goyas Werk will Aschmann den Wandel von der "vormodernen Furcht" zur "modernen Angst" (45) sichtbar machen. Seine Bilder seien einerseits "Teil des Aufklärungsdiskurses, der die Angst des Aberglaubens bannen möchte" (46), doch Goya gestaltete in seinen Bildern auch jene "unkonkrete Zukunftsangst", die sich aus der "Angst vor dem Sinnverlust" (55f.) speise. Sein "Blick auf die inneren Deformationen" enthülle nicht nur die "Bereitschaft des Menschen zum Bösen" (63), sondern auch die "Freude an der Gewalt" (65). Goya trete in seinen späten Werken "nicht nur als Anwalt der Opfer" auf, sondern zugleich als "Komplize der Täter" (65). Das sind keine neuen Erkenntnisse, doch sie werden hier für die historiographische Emotionsforschung fruchtbar gemacht.
Goya war, das betont die Autorin gegen andere Deutungen, "kein Chronist des Unabhängigkeitskrieges" (54). Auch deshalb bleiben allen Versuchen, sein Werk zur Analyse der politischen Geschichte zu nutzen, enge Grenzen gezogen. Die geschichtswissenschaftliche Emotionsforschung hingegen findet hier eine Zugangsmöglichkeit, die bislang bei weitem nicht angemessenen ausgeschöpft worden ist. Dies wird an Aschmanns Skizze sichtbar. Sie lässt sich nicht nur als ein Plädoyer lesen, Spanien in die europäische Geschichte des 19. Jahrhunderts besser als bisher einzubinden; sie zeigt zugleich, wie aufschlussreich es sein kann, dabei die Fächergrenzen zu überschreiten.
Dieter Langewiesche