Charles Munier: Gvibertus Tornacensis. De morte. De septem verbis Domini in crvce (= Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis; 242), Turnhout: Brepols 2011, 348 S., ISBN 978-2-503-54003-0, EUR 185,00
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Ian P. Wei: Intellectual Culture in Medieval Paris. Theologians and the University c. 1100-1330, Cambridge: Cambridge University Press 2012
Andreas Speer / Lars Reuke (Hgg.): Die Bibliothek - The Library - La Bibliothèque. Denkräume und Wissensordnungen, Berlin: De Gruyter 2020
Philipp W. Rosemann (ed.): Mediaeval Commentaries on the Sentences of Peter Lombard. Volume 2, Leiden / Boston: Brill 2010
Der Franziskaner Guibert de Tournai (um 1200-1284) galt neben seinem Ordensbruder Bonaventura als eine der maßgeblichen theologischen Autoritäten im Paris um die Mitte des 13. Jahrhunderts. Es waren jedoch nicht die theologischen Schriften sui generis, die seinen Ruhm begründeten, sondern Predigten und spirituelle Traktate. An der Universität Paris studierte er und blieb seiner alma mater zunächst auch als Mitglied des Lehrkörpers verbunden: Als magister regens der Artesfakultät verfasste er seine ersten Werke. 1240 trat Guibert in den Franziskanerorden ein. Zeitgleich mit ihm erschien dort der junge Bonaventura, durch den er in Kontakt mit den Magistern der theologischen Fakultät kam. Sein schriftlicher Ausstoß in der Folge war enorm.
Seine Werke lassen sich vier Gattungen zuordnen: 1. didaktische Schriften (mit dem Ludwig IX. 1259 gewidmeten Fürstenspiegel Eruditio regum et principum im Zentrum); 2. historische Schriften; 3. universitäre Schriften (darunter ein verlorener Sentenzenkommentar); 4. das oratorische Werk. Zur letzterwähnten Gattung gehören vor allem die Predigten Guiberts, die von der historischen Forschung zwar immer wieder als Steinbruch benutzt worden sind, in den allermeisten Fällen jedoch (noch) nicht in kritischer Edition vorliegen. Eine in Lyon und Paris beheimatete Forschergruppe um Nicole Bériou dürfte hier in absehbarer Zeit Abhilfe schaffen.
Eine besondere Gruppe von Predigten sind Gegenstand der vorliegenden Edition: Es handelt sich um zwei spirituelle Traktate in Gestalt von Predigten. Guibert kann in diesem ganz besonderen Genre seine Abhängigkeit von einer Reihe mystischer Autoren nicht verleugnen, die von Pseudo-Dionysius über Aelred of Rievaulx bis hin zu den Victorinern reicht. Der Editor sieht denn auch in diesen spirituellen Traktaten die "multiples résonances de son âme franciscaine dont vibrent ses écrits" (11) verwirklicht. Freilich dürfen sich nicht nur Theologen oder der enge Kreis der Ordenshistoriker über die nun endlich vorliegenden Texte freuen. Auch für Profanhistoriker sind sie von großem Interesse, warten sie doch mit einer Fülle von Einblicken in die Lebenswirklichkeit der Stadt Paris auf.
Guiberts Traktat De morte präsentiert sich in zweifacher Gestalt: Neben einer älteren, acht Predigten umfassenden und in drei Handschriften überlieferten Fassung existiert eine korrigierte und um drei Predigten erweiterte Version, die lange Zeit Bonaventura zugeschrieben wurde und in einer Handschrift und einem Frühdruck überliefert ist. Wann entstand dieser Traktat? Die bisherige Forschungsmeinung korrigierend, die ihn bisher auf die Zeit vor 1259 datierte, kann der Editor mit überzeugenden Argumenten auf eine spätere Abfassung verweisen. Die Hypothese, Guibert habe in seinem "Traktat" den Text einiger sermones wieder aufgegriffen, die er auf ausdrücklichen Wunsch Papst Alexanders IV. hin verfasst hatte, scheint einleuchtend. Nach dem unerwarteten Tod des Pontifex 1261 sei eine Versendung der Texte an die Kurie obsolet geworden: Eine "Zweitverwertung" lag so auf der Hand. Damit würde der Zeitpunkt der Entstehung der Sammlung einige Jahre nach hinten rücken, genauer auf die zweite Jahrshälfte 1261 oder gar 1262. Von besonderer Bedeutung ist die persönliche Anverwandlung des sermo scolasticus durch Guibert. Zwar folgt er den Maßgaben der Untergliederung (divisio) des Themas, das in allen Predigten II Reg 14,14 entnommen ist (Omnes morimur et quasi aquae dilabimur in terram, quae non revertuntur), und ist erkennbar auf der Höhe sermonialer Praxis, wenn er die Divisionselemente mittels des Verfahrens der dilatatio weiter ausdifferenziert und auch die Vorzüge von similitudines und exempla preist [1], aber dennoch wirkt sein Vorgehen - verglichen etwa mit den Predigten eines Jacques de Vitry (gest. 1240) - konsequenter und überlegter. Guibert bildet durch seine Bevorzugung biblischer exempla gleichsam die Schnittstelle zur aus der Mode gekommenen Homilie. Neben der Bibel wird aus klassisch-antiken, patristischen und mittelalterlichen Quellen geschöpft. Immerhin rund 40 klassisch-antike (lateinische) Zitate kann der Editor nachweisen. In den allermeisten Fällen nennt Guibert seine Gewährszeugen nicht, sondern schöpft aus dem, was man wohl zu Recht unter der Rubrik des "acquis scolaire" (59) verbuchen könnte. Seine Zitatverwendung hat nichts von der Akribie, die z. B. die großen specula des Vinzenz von Beauvais auszeichnet. So wird beispielsweise Seneca, aus dessen Epistulae morales er sich großzügig bedient, an keiner Stelle explizit genannt, obwohl er über die Funktion des Steinbruchs hinaus eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Abfassung der Predigten spielt: Senecas Stil beeinflusst ohne jeden Zweifel denjenigen Guiberts.
Inhaltlich findet man nicht nur Anleitungen zur Vorbereitung auf den Tod und den rechten Umgang mit dem Tod, die von erstaunlicher Dichte sind, sondern auch manches andere, was insbesondere für den Historiker von Interesse sein könnte. Guiberts Naturbeobachtungen sind exquisit: Beschreibungen der reinigenden Kraft des Feuers (sermo IV) oder einer Windbrise samt des von ihr verursachten Kräuselns der Wellen oder der grünenden Felder (sermo V) sind nicht nur sprachlich ausgesprochen gelungen. Hinweise auf aktuelle Naturkatastrophen wie einen Erdrutsch in Savoyen (sermo V) finden sich ebenso wie der Blick auf die Aktivitäten innerhalb der städtischen Umgebung: von der Überwachung öffentlicher Waagen (sermo V) über die Tätigkeiten von Bankiers, Wucherern und Spekulanten (sermo IV) bis hin zur Funktion von Hospitälern (sermo III). Und auch Liebhaber des gastronomischen raffinement kommen auf ihre Kosten (sermo VI, 355). Die Beschreibung der zeitgenössischen (klerikalen) Umwelt nimmt Guibert ausgesprochen treffsicher vor: musste man bisher auf seine rund 100 Predigten ad status zurückgreifen, um Einblicke in die städtische Lebenswirklichkeit unter Ludwig IX. zu erhalten, so wird mit Blick auf De morte deutlich, dass die Predigten dieses Traktats den sermones ad status gleichberechtigt an die Seite zu stellen sind.
Der zweite, hier zum ersten Mal edierte Traktat über die Sieben Letzten Worte Jesu am Kreuz (De septem verbis Domini in cruce) besteht aus einem Prolog und elf Predigten. Guibert verfasste ihn wohl an seinem Lebensende in der Zeitspanne von 1274-1284. Wie in De morte sind biblische Quellen omnipräsent, allerdings ist trotz des identischen Empfängerkreises - die Mitglieder des Pariser Franziskanerkonvents - eine "différence de ton" (189) feststellbar. Dies hängt weniger damit zusammen, dass klassisch-antike exempla keine Rolle mehr spielen, sondern geht maßgeblich auf eine Weiterentwicklung des Personalstils zurück. Reichtum des Vokabulars, Sorge um den Satzrhythmus, Verwendung von Metonymien und weiteren Sprachfiguren, fiktive Dialoge lassen die Lektüre dieses Traktats zu einem Genuss werden - der erste Traktat, der dem in der spätmittelalterlichen Passionsfrömmigkeit so wichtigen Aspekt der "Sieben Letzten Worte" gewidmet ist.
Im Falle von De morte überliefern vier Handschriften den Text, dessen Verbreitung im Mittelalter wohl begrenzt war: Douai, Bibliothèque municipale 374 (13. Jh.; Abtei Saint-Martin in Tournai); London, British Library, Stowe 36 (13. Jh.); Paris, BnF, nouv. acqu. latines 480 (Ende 13. Jh.); Paris, BnF, lat. 2272 (15. Jh.). Hinzu kommt ein Inkunabeldruck. Die Handschrift Douai dient als Referenztext. Orthographie und Interpunktion wurden freilich normalisiert. Auch die Einfügung von Abschnitten ist neu, geschieht jedoch nicht willkürlich, sondern auf der Grundlage von Hinweisen, die Guibert im Text selbst liefert. Der zweite Traktat De septem verbis Domini in cruce ist als codex unicus in BL Stowe 36 überliefert. [2] Wichtiger noch als in De morte ist in diesem Text die klug gesetzte Interpunktion. Insbesondere seine laute Lektüre erweist den Sachverstand, mit dem der Editor hier zu Werke gegangen ist.
Der kritischer Apparat präsentiert sich in dreifacher Gestalt: neben einem apparatus biblicus (wobei wörtliche Zitate im Haupttext kursiv gesetzt werden) und einem apparatus classicus wird mit einem Variantenapparat operiert. Der Nachweis von Väterzitaten und Zitaten mittelalterlicher Autoren erwies sich als wahre Herausforderung, schöpfte Guibert doch aus Florilegien, die er für den eigenen Gebrauch angelegt hatte, nach Belieben veränderte - und selten mit einem Autornamen versah.
Vor nicht allzu langer Zeit konnte man Guibert noch vorwerfen, in seinen Traktaten finde sich nichts, was nicht bereits von anderen gesagt worden sei. Tatsächlich aber wird hier der mittelalterliche Umgang mit Autoritäten missverstanden: Guiberts Werk erweist sich gerade im Umgang mit den (anonymisierten) Zitaten als originell - und seine theologischen und literarischen Qualitäten sind über jeden Zweifel erhaben. Dem Editor kann nicht oft genug dafür gedankt werden, diese beiden Traktate der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt zu haben.
Anmerkungen:
[1] Sermo IV, 2, 5: Sicut peritus magister discipulorum succurrit ingeniis similitudinibus et exemplis, ut torporem excitet, attentionem inuitet, intellectum illuminet, affectus inflammet.
[2] Ein zweiter Codex mit dem Text wurde bis zu den Auslagerungen im Zuge des Zweiten Weltkriegs in der Bibliothek des Priesterseminars der Erzdiözese Köln aufbewahrt - bis auf das erste folium muss dieser Codex heute als verloren gelten.
Ralf Lützelschwab