Alma Hannig: Franz Ferdinand. Die Biographie, Wien: Amalthea 2013, 352 S., 30 Farbabb., ISBN 978-3-85002-845-5, EUR 24,95
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Erwartungsgemäß hat das Gedenkjahr 2014 eine Fülle an historischen Publikationen hervorgebracht, die sich in engerem und weiterem Sinne mit Ursachen, Verlauf und Nachwirkungen des Ersten Weltkrieges auseinandersetzen. Dabei zeigt sich, dass dem anhaltenden Trend zu globalgeschichtlichen Ansätzen Rechnung getragen wird und die Neuerscheinungen großteils die ebenso mannigfaltigen wie komplexen Verflechtungen hinter der "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" thematisieren. [1] Abseits dieser Tendenzen legt die Bonner Historikerin Alma Hannig mit der Biographie des österreichisch-ungarischen Thronfolgers Franz Ferdinand ein Werk vor, dessen Schwerpunkt auf die Donaumonarchie und im Besonderen auf einen ihrer führenden politischen Akteure in den letzten Jahrzehnten vor Kriegsausbruch gelegt ist. Das verweist auch gleich auf den zentralen Ansatz in Hannigs Überlegungen: Franz Ferdinand habe als Thronprätendent die Außenpolitik Österreich-Ungarns in weit größerem Ausmaß mit gestaltet, als dies bislang angenommen wurde.
Die wissenschaftlich fundierte Franz-Ferdinand-Forschung war bisher überschaubar - stellvertretend sei auf die aus dem Jahr 1976 stammende Studien von Robert A. Kann hingewiesen. [2] Zahlreiche Werke verfolgten vordergründig einen populärwissenschaftlichen Ansatz oder litten unter der fehlenden historischen Distanz ihrer Autoren zur Person des Thronfolgers. Gleichermaßen aktuell wie gehaltvoll dagegen ist die 2012 in Frankreich und jüngst auch in deutscher Sprache publizierte Biographie von Jean-Paul Bled, die stark auf die Charakterzüge und Persönlichkeit Franz Ferdinands eingeht. [3]
Hannig dagegen hat den Ansatz einer politischen Biographie gewählt, liegt ihr bisheriger Forschungsschwerpunkt doch auf der Außenpolitik Österreich-Ungarns am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Sie stellt in ihrer Arbeit den ambitionierten Anspruch, durch Einbeziehung neuer Quellenfunde aus seinem direkten Umfeld mit den bisherigen Topoi rund um den "ewige[n] Thronfolger" (12) aufzuräumen und seine Rolle als Akteur der Außenpolitik neu zu bewerten. In Anbetracht der Tatsache, dass nach dem Attentat in Sarajewo und dessen Folgen "sein Wirken in politischen und militärischen Dingen weitgehend ausgeblendet" (244) worden und somit Franz Ferdinands Bild in der Öffentlichkeit von zahlreichen Mythen geprägt geblieben ist, erscheint dieses Vorhaben aus Sicht der Forschung besonders begrüßenswert.
Da sich das Werk gemäß seiner Verfasserin sowohl an den Fachhistoriker als auch an eine breitere Öffentlichkeit wendet, widmet sie die ersten beiden Kapitel konsequenterweise einer ausgiebigen Betrachtung des Erzherzogs als Privatmann und Familienmensch. Die gut lesbare Schilderung der Kindheit und Jugend des als zeitlebens charakterlich schwierig geltenden Franz Ferdinand fußt vorwiegend auf einer Synthese der bisherigen Forschungsliteratur. Anders dagegen der Abschnitt "Unerwünschter Thronfolger", in dem Hannig vor allem unter Heranziehung von Briefquellen jene beiden Faktoren aufzeigt, die entscheidend für das bis zuletzt gespannte Verhältnis zwischen dem Kaiser und seinem Neffen waren. Dazu zählt zum einen die morganatische Ehe mit Sophie Chotek und der erzwungene Renuntiationseid; zum anderen sieht die Autorin auch Franz Ferdinands weniger bekannte, mehrjährige schwere Krankheit, in deren Verlauf der Wiener Hof den Glauben an seine Genesung verlor und stattdessen Erzherzog Otto als Thronfolger aufbaute, als ursächlich für die problematische Beziehung zu Franz Joseph. Der von Grund auf misstrauische Franz Ferdinand empfand dieses Vorgehen als schwere Kränkung und entwickelte eine starke Ablehnung gegenüber einzelnen Repräsentanten des höfischen Establishments.
Viel Platz räumt Hannig der Weltreise Franz Ferdinands ein, habe sie doch seinen bisher eher defizitären "Bildungs- und Erfahrungshorizont [...] enorm erweitert" (34) und ihn damit in wesentlichem Maße für seine künftigen Regierungsaufgaben vorbereitet. Das Reisetagebuch gibt nicht nur Einblick in seine ohnehin bereits bekannte Jagdleidenschaft, sondern vor allem auch Aufschluss über seine Sicht auf die gesellschaftlichen und politischen Systeme der von ihm bereisten Länder. So bewunderte er die USA für ihre Errungenschaften auf dem Gebiet der nationalen Integration, stand mit seinem Hang zu autokratischer Herrschaft ihren demokratischen Strukturen jedoch ablehnend gegenüber. Gleichwohl Franz Ferdinand einen Staatsumbau und damit eine Abkehr vom Dualismus "für die Existenz und Handlungsfähigkeit der Monarchie [als] unabdingbar" (99) erachtet hat, hegte er zuletzt keine konkreten Pläne für eine staatsrechtliche Ausgestaltung nach amerikanischem Vorbild, wie es etwa Popovici mit den "Vereinigten Staaten von Großösterreich" vorgeschlagen hatte. [4] Vielmehr benutzte er dieses Modell - ebenso wie den Trialismus - wiederholt als innenpolitisches Druckmittel gegenüber den ihm zeitlebens suspekten Magyaren. Klarer war seine Vision auf außenpolitischer Ebene: Unter Betonung des monarchischen Prinzips sollte ein Dreikaiserbündnis mit Wilhelm II. und Zar Nikolaus II. endlich Konstanz in die internationalen Beziehungen der Donaumonarchie bringen.
Das Herzstück der Biographie bilden die beiden Kapitel über Franz Ferdinands Rolle innerhalb der österreichisch-ungarischen Außenpolitik und über seinen Ruf als "Friedensfürst". Hier läuft Hannig zu Höchstform auf und rekonstruiert plausibel auf breiter Quellenbasis, wie es dem Erzherzog ohne verfassungsrechtliche Grundlage gelang, mit Hilfe der Militärkanzlei seinen politischen Einfluss sukzessive auszubauen und eine "Nebenregierung" im Belvedere zu installieren. Hannig zeigt unter Auswertung von Nachlässen hoher Diplomaten auf, dass sich der ambitionierte Thronfolger entgegen der bisherigen Forschungsliteratur in seinen letzten Lebensjahren zu einem "wichtigen Policymaker" (171) entwickelte, der es verstand, diplomatische und militärische Schlüsselpositionen mit Männern seines Vertrauens zu besetzen. Der "Lebensfrage der Monarchie" auf dem Balkan begegnete der ansonsten oft von persönlichen Animositäten Getriebene als pragmatischer Realpolitiker, indem er das innenpolitisch höchst reformbedürftige Österreich-Ungarn weitestgehend aus den militärischen Konflikten an dessen südlicher Grenze heraushalten wollte und sich wiederholt gegen die kriegstreibenden "Falken" am Ballhausplatz stellte.
In Summe legt Hannig eine etwas stark untergliederte, aber solide verfasste Biographie vor, die Franz Ferdinand als Privatmann und Familienvater, vor allem aber als künftigen Monarchen untersucht und neues Licht auf die Wahrnehmung durch seine Zeitgenossen wirft. Abseits des verklärten Mythos vom "ersten Opfer des Weltkrieges" (248) gelingt es ihr, seine bisher oftmals negierte Einflussnahme auf die Regierungsgeschäfte klar zu illustrieren und dem Leser vor dem Hintergrund der diplomatisch verworrenen Situation in Europa einen umfassenden Einblick in die staatspolitischen Ansichten des Thronfolgers zu gewähren. Dass sich bei genauer Betrachtung nur wenige inhaltliche Überschneidungen mit dem Herrschaftsstil Franz Josephs ergeben, mag kaum erstaunen - welche Entwicklung Österreich-Ungarn unter einem Kaiser Franz II. tatsächlich genommen hätte, muss allerdings Spekulation bleiben.
Anmerkungen:
[1] Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, 12 Aufl., München 2014; Herfried Münkler: Der Große Krieg. Die Welt 1914-1918, 4. Aufl., Berlin 2014; Jörn Leonhard: Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten Weltkrieges, München 2014.
[2] Robert A. Kann: Erzherzog Franz Ferdinand Studien, Wien 1976.
[3] Jean-Paul Bled: Franz Ferdinand: Der eigensinnige Thronfolger, Wien u.a. 2013.
[4] Aurel C. Popovici: Die Vereinigten Staaten von Groß-Österreich: politische Studien zur Lösung der nationalen Fragen und staatsrechtlichen Krisen in Österreich-Ungarn, 2 Bde., Leipzig 1906.
Marion Koschier