Uwe Lohalm: Völkische Wohlfahrtsdiktatur. Öffentliche Wohlfahrtspolitik im nationalsozialistischen Hamburg (= Forum Zeitgeschichte; 21), München / Hamburg: Dölling und Galitz 2010, 617 S., ISBN 978-3-937904-95-5, EUR 30,00
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Uwe Lohalm, Mitarbeiter an der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, hat am Beispiel der hanseatischen Fürsorgeverwaltung die bislang umfangreichste Untersuchung einer kommunalen Sozialverwaltung in der NS-Zeit vorgelegt. Seine Studie gliedert sich in neun sachthematische Hauptkapitel. Diese widmen sich etwa dem sozialpolitischen Verwaltungsapparat, den Fürsorgeleistungen, der Arbeitsmobilisierung, der Familienfürsorge, den Wohlfahrtsanstalten, der Ausgrenzung von "Gemeinschaft- und Rassefremden" oder der Wohlfahrtsfürsorge im Krieg. In den Unterkapiteln schildert der Autor einzelne Institutionen und Maßnahmen der kommunalen Fürsorge. Leitfragen der "integrierte[n] Herrschafts- und Gesellschaftsgeschichte" (11) sind die nach der nationalsozialistischen Durchdringung des Politikfeldes, den Spezifika der NS-Wohlfahrtspolitik und den Lebensverhältnissen der Bedürftigen. Dabei konzentriert sich der Autor auf die fürsorgepolitischen Aktivitäten des Landes und der Gemeinde - klammert also die Tätigkeit der nichtstaatlichen Wohlfahrtsverbände (mit Ausnahme der NSV) aus. Obwohl sie zu den "besterfassten und kontrollierten" (119) Bevölkerungsgruppen zählten, sind im Staatsarchiv Hamburg kaum Quellen überliefert, in denen die Fürsorgeempfänger selbst zu Wort kommen. Lohalms Blick muss also zumeist auf die Perspektive der Verwaltung beschränkt bleiben.
Lohalm interpretiert die von ihm als "völkische Wohlfahrtsdiktatur" bezeichnete nationalsozialistische Sozialpolitik und -praxis als eine Mischung aus "normativ-autoritäre[r] Wohlfahrtspolitik" und "rassistische[r] Volksgemeinschaftsideologie" (549). Diese Kombination aus traditionellen und neuen Elementen bestimmte auch die frühe Phase der NS-Wohlfahrtspolitik. So stellte die "Machtaneignung" (23) der Nationalsozialisten für die Arbeit der Hamburger Wohlfahrtsfürsorge vordergründig keine tiefgreifende Zäsur dar: Die Zahl der Fürsorgeempfänger blieb unverändert hoch und erreichte im März 1933 mit knapp 300.000 Personen ihren absoluten Höhepunkt. Gleichwohl kam es auf der Leitungsebene der Fürsorgeverwaltung zu größeren personellen Veränderungen: Unerwünschte Spitzenbeamte (Sozialdemokraten, Liberale, Juden) wurden aus ihren Positionen gedrängt und durch meist unzureichend qualifizierte Nationalsozialisten ersetzt. Untere und mittlere Positionen wurden zur Beute für "alte Kämpfer", die erst nachgeschult werden mussten. Weibliche Bedienstete wurden in die Fürsorgearbeit im Außendienst versetzt und hatten kaum noch Aufstiegschancen. Um die reibungslose Fortsetzung der Verwaltungstätigkeit zu ermöglichen, wurden einige Mitarbeiter in Leitungspositionen weiterhin geduldet, darunter der Präsident der Wohlfahrtsbehörde, Oskar Martini. In der Verwaltung löste das nationalsozialistische Führerprinzip Mitbestimmungsrechte aus der Weimarer Zeit ab. Nach außen blieb in der Fürsorgepraxis jedoch vorerst weitgehend alles beim Alten - zu einer "nationalsozialistischen Neuformulierung öffentlicher Wohlfahrtspolitik" (33) kam es demnach 1933 nicht. Erst nach und nach hielten erbbiologische und rassistische Kriterien Einzug in die Verordnungen und das Handeln der Verwaltung. Widerstand setzte die Verwaltung der "sich radikalisierende[n] nationalsozialistische[n] Wohlfahrtspolitik" (101) nicht entgegen. Vielmehr habe es "ein erhebliches Maß an habitueller Konformität, wenn nicht gar von Kooperationswilligkeit oder Opportunismus" (101) gegeben. Insgesamt seien die "Jahre der Krise und des nationalsozialistischen Umbruchs [...] keine Einschnitte" (148) gewesen.
Die hohe Zahl an Wohlfahrtserwerbslosen - der mit Abstand größten Fürsorgegruppe - ging in Hamburg erst ab 1936 zurück. In der quantitativen Abnahme und dem sich ändernden Charakter der Beschwerden sieht Lohalm ein Zeichen dafür, dass sich "im subjektiven Empfinden der unterstützten Hilfsbedürftigen die materiellen Verhältnisse" bis 1939 "gebessert" (167) hätten. Denkbar wäre aber auch, dass Fürsorgeempfänger aus Angst vor Repressionen auf Eingaben verzichteten: Denn der Ernährungszustand der Bedürftigen blieb desolat, und während des Kriegs verschlechterte der Anstieg der Lebenshaltungskosten die wirtschaftliche und gesundheitliche Lage der Hilfsbedürftigen weiter.
Die Orientierung der nationalsozialistischen Familienfürsorge an bevölkerungs- und rassenpolitischen Kriterien arbeitet Lohalm eindrücklich heraus. So ging die Gewährung von Hilfen mit einer Prüfung von rassenideologischen und moralisch-sozialen Kriterien einher, die nicht selten in erbbiologischen Maßnahmen bis hin zu Zwangssterilisation und Abtreibung münden konnte. Dazu wurden die Familienfürsorgerinnen ab 1936 in Erb- und Rassenpflege geschult. Ihre Stellungnahmen hatten erheblichen Einfluss auf die Entscheidungen der Erbgesundheitsgerichte und orientierten sich an der nationalsozialistischen (und mit bürgerlicher Sozialmoral kompatiblen) Kategorie der "Gemeinschaftswidrigkeit". Bis Kriegsbeginn verzeichnete das sogenannte Gesundheitspassarchiv Angaben über 1,1 Million Hamburger; sie sollten nach dem "Endsieg" als "Grundlage für eine sozialhygienische Stadtteilsanierung" (317) dienen.
Zentraler Bezugspunkt nationalsozialistischer Wohlfahrtspolitik war die Arbeitskraft des Einzelnen und deren Nutzung. So wurden bei Jugendlichen etwa Unterstützungsleistungen von der Teilnahme an Pflichtarbeit bzw. Schulungen abhängig gemacht. Arbeitslose wurden zu gemeinnütziger Fürsorgearbeit oder zu Notstandsarbeiten herangezogen; auch kam es zur Einweisung in Arbeitsfürsorgelager.
Die geschlossene wirtschaftliche Fürsorge war eine Vorstufe zum NS-Lagersystem. In die Staatlichen Wohlfahrtsanstalten Farmsen wies die Sozialverwaltung zunehmend Menschen ein, die das NS-Regime als "asozial" stigmatisierte - Alte, Kranke, Wanderer, Obdachlose, Alkoholiker, Prostituierte. Die Zahl der Todesfälle war hoch. Die Eingewiesenen unterlagen einer rigiden Arbeitsdisziplin. Daneben zeigte die NS-Wohlfahrtsverwaltung vor allem gegenüber als "rassenfremd" klassifizierten Bedürftigen ihren exkludierenden Charakter: Juden wurden ab 1933 schrittweise von Fürsorgeleistungen ausgeschlossen und von den anderen Bedürftigen separiert, bevor sie seit 1939 keinerlei kommunale Unterstützung mehr erhielten. Im Krieg radikalisierte sich auch der Umgang mit Heiminsassen: Einrichtungen wurden aufgelöst und ihre Bewohner außerhalb Hamburgs verbracht. Der einsetzende Kampf um Heimkapazitäten endete für viele Patienten tödlich - sei es infolge von mangelnder Pflege und unzureichender Versorgung oder durch Ermordung in einer der "Euthanasie"-Anstalten.
Gleichzeitig kümmerte sich die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) um die "wertvollen Volksgenossen". Das brachte sie in ein Spannungs- und Konkurrenzverhältnis zur kommunalen Wohlfahrtsverwaltung. Es gelang ihr innerhalb kurzer Zeit, sozialfürsorgerische Aufgaben an sich zu ziehen; zugleich blieb sie in der Durchführung auf die finanzielle und organisatorische Unterstützung durch die Behörden angewiesen, und der Hamburger Kämmerer achtete penibel auf Ausgaben und Rechnungslegung. Insbesondere im Rahmen des Winterhilfswerks, des Hilfswerks "Mutter und Kind" und der Familienfürsorge kam es immer wieder zu Doppelbetreuungen. Eine endgültige Abgrenzung der Tätigkeit von NSV und Fürsorgeverwaltung gelang bis Kriegsende nicht.
Während des Kriegs stand die Versorgung der Soldatenfamilien im Fokus der Sozialpolitik. Die Wohlfahrtsleistungen führten bei den Familien teilweise sogar zu einer Steigerung des Lebensstandards im Vergleich zur Vorkriegszeit. Gleichzeitig, so Lohalm, hätten sich für die in Anstalten untergebrachten Kranken und Behinderten die Überlebenschancen radikal verschlechtert - immer mehr Insassen wurden von Therapie- in reine Bewahranstalten verlegt und starben dort.
Lohalms Ergebnisse sind spannend, bleiben aber meist auf Hamburg beschränkte Einzelbefunde. Den Versuch, sie mit anderen - freilich nur spärlich vorhandenen - Lokalstudien abzugleichen, unternimmt der Autor nicht. Zudem entwickelt er kaum übergreifende Thesen, die Abhandlung bleibt vielfach deskriptiv. Die Gliederungsstruktur erinnert mit ihren teils kurzen Unterkapiteln bisweilen an eine enzyklopädische Abarbeitung von sozialpolitischen Maßnahmen. Manchem Aspekt, wie etwa die Wohlfahrtsfürsorge im Luftkrieg, wäre breiterer Raum als nur wenige Seiten zu wünschen gewesen. Gleichwohl ist es das Verdienst des Autors, erstmals das weite Feld der nationalsozialistischen Wohlfahrtspolitik für eine deutsche Großstadt in großer Breite untersucht zu haben. Seiner instruktiven Untersuchung sind neben vielen Lesern auch Forscher zu wünschen, die die vorliegenden Befunde mit eigenen Ergebnissen vergleichen.
Jörn Retterath