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Maren Richter: Leben im Ausnahmezustand. Terrorismus und Personenschutz in der Bundesrepublik Deutschland (1970-1993), Frankfurt/M.: Campus 2014, 368 S., 13 s/w-Abb., ISBN 978-3-593-50085-0, EUR 34,90
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Rezension von:
Thomas Riegler
Wien
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Thomas Riegler: Rezension von: Maren Richter: Leben im Ausnahmezustand. Terrorismus und Personenschutz in der Bundesrepublik Deutschland (1970-1993), Frankfurt/M.: Campus 2014, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 7/8 [15.07.2014], URL: https://www.sehepunkte.de
/2014/07/25220.html


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Maren Richter: Leben im Ausnahmezustand

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Abseits ausgetretener Pfade bewegt sich die Münchner Historikerin Maren Richter in der hier zu besprechenden Zeitzeugenstudie. Sie fügt der Erforschung des Linksterrorismus in der Bundesrepublik Deutschland ein wichtiges weiteres Kapitel hinzu: den Personenschutz in den Jahren von 1970 bis 1993. Basierend auf zahlreichen Interviews mit Mitgliedern der westdeutschen Führungselite und bislang ungesichteten Akten des Bundeskriminalamts (BKA) entwirft Richter das Zeitbild einer Gesellschaft im Ausnahmezustand. Zentral ist für sie nicht nur, wie sich der Personenschutz infolge der terroristischen Bedrohung entwickelte, sondern wie die Schutzmaßnahmen Lebensgewohnheiten sowie die Privat- und Intimsphäre von Betroffenen und deren Familien veränderten. Damit fügt Richter den stark handlungs-, struktur- und medienorientierten Forschungsansätzen zum Linksterrorismus eine akteurszentrierte und erfahrungsgeschichtliche Perspektive hinzu. Das Thema Personenschutz ist in diesem Zusammenhang bisher kaum reflektiert worden. [1] Richter konstatiert, dass angesichts der "Omnipräsenz der Bilder zum 'Deutschen Herbst' 1977" der Schutz von hochstehenden Personen und die damit verbundenen Folgen für die Beschützten bis heute "kaum sichtbar" seien. (125)

Richter zufolge verlief die Herausbildung und Etablierung des Personenschutzes phasenhaft und geprägt von "Konjunkturen der Ausweitung und Reduzierung des Schutzkreises - begleitet vom medialen Auf und Ab der terroristischen Bedrohung". (253) Zunächst spielte der Personenschutz auch nach dem Mord am Präsidenten des Kammergerichts Berlin, Günter von Drenkmann, im Jahr 1974 und der Entführung des Berliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz 1975 noch eine untergeordnete Rolle. Erst das Krisenjahr 1977 und die Morde an Generalbundesanwalt Siegfried Buback, dem Vorstandssprecher der Dresdner Bank, Jürgen Ponto, und dem Präsidenten der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Hanns Martin Schleyer, schreckten auf: "Der Staat schien die wichtigsten Führungspersonen nicht mehr schützen zu können." (253) Daraufhin erfolgte eine wesentliche Ausweitung des Schutzkreises: Das Personenschutz-Personal beim BKA wurde von 964 Planstellen (1970) auf 3.500 (1980) aufgestockt, die dafür notwendigen Haushaltsmittel verzehnfachten sich auf 300 Millionen DM. (62)

Dieser substanzielle Ausbau mündete aber nicht in mehr Sicherheit: Vielmehr zeigten die tödlich-präzisen Anschläge der "zweiten" und "dritten" Generation der RAF in den 1980er und 1990er Jahren jedes Mal Limitationen und Defizite auf. Auch nach der Weiterentwicklung zur "Vorfeldaufklärung", wonach Attentate bereits im Stadium der Vorbereitung verhindert werden sollten, versagten die Schutzmaßnahmen mehrmals. So kam 1989 mit dem Vorstandssprecher der Deutschen Bank, Alfred Herrhausen, eine Schutzperson der Gefährdungsstufe 1 ums Leben. 1991 wurde der fehlerhaft eingestufte Präsident der Treuhandanstalt, Detlev Karsten Rohwedder, von einem Scharfschützen durch ein nicht gepanzertes Fenster ermordet. Es ist bemerkenswert, dass es auch nach zwei Jahrzehnten und zahllosen Attentaten immer noch "Nachsteuerungsbedarf in den grundlegendsten Personenschutzmaßnahmen" gab. (85) In den 1980er Jahren wurden vor allem Personen aus Politik und Wirtschaft, die über wenig bis gar keinen Schutz verfügten, zu Opfern. (74) Ob es hier eine präventive Wirkung des Personenschutzes gab, der die Terroristen auf weniger gesicherte Ziele ausweichen ließ, lässt sich nicht wirklich überprüfen. Richter betont an dieser Stelle, dass sich die "zu vermutende Effizienz" erst zeigte, wenn ein Anschlag vereitelt worden war: "Der Öffentlichkeit wurde die Bedeutung des Personenschutzes oft erst bewusst, wenn wegen mangelhafter oder gar keiner Sicherung ein Anschlag gelungen war - dann oft mit dramatischer Wirkung." (35)

Dafür, dass der Personenschutz nicht effektiv umgesetzt wurde, macht Richter, neben dem teils regelungsfreien Raum der Gefährdungseinstufung, vor allem die Kompetenzvermischung zwischen der Sicherungsgruppe (SG) des BKA und den verschiedenen Länderpolizeien verantwortlich. Hier sei, so zitiert Richter den ehemaligen BKA-Präsidenten Horst Herold, ein "Riss der Zuständigkeiten irrational durch die ganze Materie" gegangen. (67) Erst zu Beginn der 1990er Jahre sei der Personenschutz in eine Phase der Professionalisierung und Institutionalisierung getreten. (86) Insgesamt betrachtet hätten die Schutzmaßnahmen allenfalls "gefühlte Sicherheit", aber "keine absolute Sicherheit" garantieren können: "Täglich nahmen Schutzpersonen die Bedrohungssituation wahr, sie mussten sich als Politiker oder Richter in Krisenstäben oder Terroristenprozessen mit erfolgten Attentaten auseinandersetzen oder wurden medial auf die verheerenden Folgen eines Attentats hingewiesen." (257)

Letztendlich demonstrierten die immer umfangreicheren Personenschutzmaßnahmen die Wehrhaftigkeit des Staates, "aber gleichzeitig auch seine Verletzlichkeit". (261)

Ein weiterer Schwerpunkt in Richters Studie ist der subjektive Umgang der Betroffenen mit dem Personenschutz. Denn die mit den Maßnahmen verbundenen Einschränkungen waren beträchtlich: "Mit dem fehlenden sozialen Austausch im Privatbereich konnte ein Mangel an Sinnesreizen entstehen, der zu emotionalen und kognitiven Veränderungen der Wahrnehmung führen konnte. Einsamkeit, Frustration oder Unruhe sind nur einige der möglichen Reaktionen auf eine solche Isolation." (155) Auf der anderen Seite habe der Personenschutz auch persönliche Statuswünsche befriedigt, indem sich Sicherheits- und Elitenbewusstsein miteinander verknüpften. Somit habe der Personenschutz als "Distinktionsmöglichkeit" zu einer weiteren "Binnendifferenzierung" innerhalb der westdeutschen Elite beigetragen. (260f.) Richter nennt auch zahlreiche Hinweise dafür, "dass es nicht die Unsicherheit war, die den Umgang mit dem Personenschutzkommando bestimmte". So wurde beispielsweise Generalbundesanwalt Kurt Rebmann von einer Sicherheitseskorte nach Hause gefahren, nur um dort dann alleine mit seinem Dackel im Wald spazieren zu gehen. (113) Auch hätten nur wenige der Betroffenen ihren Schutz gerne abgegeben. Die meisten "bestanden auf den Erhalt des Kommandos. Ob hier Gefährdungsgefühle, Staatsdenken oder einfach nur Bequemlichkeit überwogen, können womöglich die Schutzpersonen selbst kaum noch klar benennen." (97) Jedenfalls beförderten die Schutzmaßnahmen eine "zunehmende Dynamik von Abschottung und Begrenzung sozialer Gruppen innerhalb der bundesrepublikanischen Gesellschaft". Insofern habe der Terrorismus die moderne deutsche Gesellschaft der 1970er und 1980er Jahre "in ihren Grundstrukturen geprägt". (119)

Einige Schutzpersonen, so Richter, kamen mit den Maßnahmen nicht zurecht - sie erwähnt das Beispiel eines namentlich nicht genannten Ministers, der "jeden Tag Lebensangst" gespürt habe und von den Bedingungen so "überfordert" gewesen sei, dass er seiner Aufgabe nicht mehr nachkommen konnte. (246) Im Rahmen der Interviews fiel Richter überhaupt ein merkbarer Unterschied zwischen Entscheidungsträgern, die in der Kriegs- und Nachkriegszeit geprägt wurden, und jenen, die den Krieg nicht - etwa als Soldat - miterlebt hatten, auf. Während bei ersterer Gruppe auch in der nachträglichen Verarbeitung der distanzierte Habitus des stets rationalen, emotionsbefreiten und souveränen Politikers zählte, sprachen Interviewpersonen ohne Kriegserfahrung offener über die empfundene Bedrohung. Es wurde deutlich, dass letztere sich mit dieser bewusst auseinandergesetzt und aktives Sicherheitsverhalten dagegen gehalten hatten. (248-251)

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Richters beeindruckende Studie verdeutlicht, welcher Ausnahmezustand sich hinter der abstrakten Formel vom "Angriff auf das Herz des Staates" tatsächlich verbarg, und wie viele Menschen auf unterschiedlichen Ebenen von den Konsequenzen des Terrors betroffen waren, auch wenn sich dieser - anders als heutige Phänomene - noch primär gegen politische und wirtschaftliche Eliten richtete. Das Buch ist insofern ein wichtiges Plädoyer dafür, die Opfergeschichte bei der Betrachtung des Linksterrorismus stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Abschließend sei noch angemerkt, dass nur zwei ehemalige Personenschützer zu Wort kommen - über deren Perspektive hätte man gerne noch etwas mehr erfahren.


Anmerkung:

[1] Mit dem Aspekt der inneren Sicherheit beschäftigten sich u. a.: Hans-Jürgen Lange (Hg.): Die Polizei der Gesellschaft. Zur Soziologie der Inneren Sicherheit, Opladen 2003; Klaus Weinhauer / Jörg Requate / Heinz-Gerhard Haupt (Hgg.): Terrorismus in der Bundesrepublik. Medien, Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren, Frankfurt a. M. / New York 2006; Klaus Weinhauer: "Staat zeigen". Die polizeiliche Bekämpfung des Terrorismus in der Bundesrepublik bis Anfang der 1980er Jahre, in: Die RAF und der linke Terrorismus, Band 2, hg. von Wolfgang Kraushaar, Hamburg 2006, 932-947; Klaus Weinhauer: Staatsmacht ohne Grenzen? Innere Sicherheit, "Terrorismus"-Bekämpfung und die bundesdeutsche Gesellschaft der 1970er Jahre, in: Rationalitäten der Gewalt. Staatliche Neuordnungen vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, hg. von Susanne Krasmann / Jürgen Martschukat, Bielefeld 2007, 215-238; Stephan Scheiper: Innere Sicherheit. Politische Anti-Terror-Konzepte in der Bundesrepublik Deutschland während der 1970er Jahre, Paderborn 2010; Eva Oberloskamp: Das Olympia-Attentat 1972. Politische Lernprozesse im Umgang mit dem transnationalen Terrorismus, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 60 (2012), Heft 3, 321-352.

Thomas Riegler