Michael Gehler: Europa. Von der Utopie zur Realität, Innsbruck: Haymon Verlag 2014, 424 S., ISBN 978-3-8521-8938-3, EUR 14,95
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Wilfried Loth: Europas Einigung. Eine unvollendete Geschichte, Frankfurt/M.: Campus 2014, 512 S., ISBN 978-3-593-50077-5, EUR 39,90
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Éric Bussière / Émilie Willaert: Un projet pour l'Europe. Georges Pompidou et la construction européenne, Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2010
Philip Bajon: Europapolitik "am Abgrund". Die Krise des "leeren Stuhls" 1965-66, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2012
Anjo G. Harryvan / Jan van der Harst: Max Kohnstamm. A European's Life and Work, Baden-Baden: NOMOS 2011
Guido Thiemeyer: Europäische Integration. Motive, Prozesse, Strukturen, Stuttgart: UTB 2010
Hélène Miard-Delacroix: Im Zeichen der europäischen Einigung 1963 bis in die Gegenwart, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2011
Michael Gehler / Ibolya Murber (Hgg.): Von der Volksrepublik zum Volksaufstand in Ungarn 1949-1957. Quellenedition zur Krisengeschichte einer kommunistischen Diktatur aus Sicht der Ballhausplatz-Diplomatie, Innsbruck: StudienVerlag 2023
Michael Gehler (Hg.): Akten zur Südtirol-Politik 1945-1958. Band 3. Erzwungenes Autonomiestatut und Optantendekret 1947/48, Innsbruck: StudienVerlag 2021
Jost Dülffer / Wilfried Loth (Hgg.): Dimensionen internationaler Geschichte, München: Oldenbourg 2012
Utopien kritisieren die herrschenden sozio-ökonomischen Verhältnisse und Institutionen einer Gesellschaft. Phantasiegebilde und Reformprogramm zugleich, entwerfen sie eine idealtypische Alternative. Am Ende von Thomas Morus' Roman "Utopia" gesteht der Erzähler, er möchte vieles von der Verfassung der Utopier in den gegenwärtig existierenden Staaten eingeführt sehen. Gleichwohl sei dies mehr sein Wunsch als eine echte Hoffnung.
Europa war lange Zeit eine solche Utopie - ein Wunschtraum, dessen Realisierung in ferner Zukunft lag. Der Historiker Michael Gehler portraitiert die bekanntesten Zukunftsszenarien in seinem Buch "Europa. Von der Utopie zur Realität". Von Dante über Sebastian Münster bis hin zu Immanuel Kant und Richard Coudenhove-Kalergi erzählt Gehler von den Plänen und Ideen Europas. Diese Geschichte utopischen Denkens endet mit der Übertragung der Macht an die Nationalsozialisten 1933. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist Europa zunächst die Antwort auf die nationalsozialistische Barbarei. Erstmals wird die jahrhundertealte Utopie Realität.
Denn mit Unterzeichnung des Vertrags über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl wird aus dem Wunschtraum Wirklichkeit: Am 9. Mai 1950 schlägt der französische Außenminister Robert Schuman vor, die Kohle- und Stahlproduktion Frankreichs und die der Bundesrepublik Deutschland einer gemeinsamen Organisation zu unterstellen. Mit diesem Plan sollen Kriege in Europa künftig verhindert werden. Bundeskanzler Konrad Adenauer begrüßt den Gedanken als einen entscheidenden Schritt zu einer engen Verbindung Deutschlands mit Frankreich. Die Montanunion, eine neue, auf der Grundlage friedlicher Zusammenarbeit aufgebaute Ordnung Europas, soll Wirklichkeit werden.
Meilensteine des neuen Europas bilden neben den europäischen Verträgen der Marshall-Plan, die Erweiterungen sowie die erste Direktwahl zum Europäischen Parlament. Ein vorerst letzter Höhepunkt war die Friedliche Revolution im Herbst 1989 und ihre gesellschaftspolitischen Folgen für ganz Europa. Realität gewordene Utopien haben jedoch eine Kehrseite: Die Wirklichkeit hält der Idealvorstellung nicht stand. Kritik und Krisen sind unausweichlich. In der Geschichte der europäischen Einigung firmieren sie unter den Begriffen "Eurosklerose" und "Schuldenkrise". Krise ist aber nicht gleich Krise: Stand in den 1970er Jahren das Projekt als solches noch zur Disposition, so anerkennen selbst europakritische Stimmen heute die unumstößliche Realität der Europäischen Union, an der sie sich mit mehr oder minder guten Argumenten abarbeiten.
Michael Gehler zeichnet diese Entwicklung seit 1945 souverän nach und stellt abschließend verschiedene Integrationstheorien, Pläne sowie Stärken und Schwächen der EU vor. Dabei stehen auch das Verhältnis Europas zu den USA, der Euro und die gegenwärtige politische Situation des Kontinents im Fokus. Das Buch bietet auf Grund des komprimierten Überblicks sowohl über die facettenreiche Geschichte Europas als auch über seine Vordenker und Lenker seit der Frühen Neuzeit einen idealen Einstieg in das Studium der Geistes- und Politikgeschichte Europas.
Auf die Zeit nach 1945 konzentriert sich auch der Historiker Wilfried Loth in seiner Studie über die unvollendete Geschichte der Einigung Europas. Anders als Gehler legt Loth den Schwerpunkt nicht auf die großen Denk- und Entwicklungslinien, sondern schildert sehr detailliert die Entwicklung Europas seit Churchills berühmter Züricher Rede 1946. Die Vorgeschichte des Schuman-Plans, die Gründung des Europarats und die Diskussionen über EWG und EVG bilden den Auftakt. Zahlreiche Protagonisten der ersten Stunden kommen zu Wort, ehe Loth sich seinem Steckenpferd, den deutsch-französischen Beziehungen, widmet. Hierbei kann er auf seine zahlreichen Publikationen der 1990er Jahre zu den Anfängen der europäischen Einigung zurückgreifen und kenntnisreich die Debatten über die Kommission und den Gemeinsamen Markt darlegen. Es folgt die Auseinandersetzung mit den politischen Krisen der Gemeinschaft in den 1960er Jahren. Der Haager Gipfel 1969 markiert sodann den Wendepunkt in der Geschichte des europäischen Projekts - nicht nur für Loth. Denn der Gipfel bringt die Erweiterungs-, Vertiefungs- und Währungspolitik voran. Es folgt eine Phase der Konsolidierung, die auch nicht ohne Krisen auskommt.
Wie bei Gehler nehmen nicht nur die Verträge, sondern auch aktuelle Entwicklungen wie die Osterweiterung, der Verfassungsvertrag und die Eurokrise bei Loth breiten Raum ein. Darüber hinaus diskutiert er die Zukunft der EU und kommt zu dem Schluss: "Europapolitik war immer die Kunst des Möglichen, und die europäischen Spitzenpolitiker werden auch künftig daran gemessen werden, inwieweit sie diese Kunst beherrschen." (421)
Die Kunst des Möglichen zu beherzigen wird umso dringlicher, als dass seit Mitte der 1990er Jahre zahlreiche Skeptiker Schreckensbilder der Gemeinschaftswährung an die Innenwände des europäischen Hauses malen. Heute reicht die Palette der Eurokritiker von der Alternative für Deutschland über die Front National bis hin zur United Kingdom Independence Party. Sie fürchten einen Währungssozialismus und das Ende des Wohlstands in Europa. Es gibt in der jüngsten Entwicklung Europas deutliche Anzeichen dafür, dass dem nicht so ist. Die unvollendete Geschichte Europas ist eine Erfolgsgeschichte - trotz aller Rückschläge, die die Realität verkraften kann - und muss. Es bleibt jedoch zu hoffen, dass Europas Geschichte noch lange unvollendet bleibt, denn eine vollendete Geschichte wäre der Tod Europas. Solange die Europäer auch in der Realität noch Utopien als eine Kunst des Möglichen entwickeln, bleibt das Projekt lebendig. Die Bücher von Michael Gehler und Wilfried Loth legen hiervon Zeugnis ab.
Jürgen Nielsen-Sikora