Ulrich Chaussy: Oktoberfest. Das Attentat. Wie die Verdrängung des Rechtsterrors begann, Berlin: Ch. Links Verlag 2014, 269 S., ISBN 978-3-86153-757-1, EUR 19,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Sven Keller (Hg.): Kriegstagebuch einer jungen Nationalsozialistin. Die Aufzeichnungen Wolfhilde von Königs 1939-1946, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2015
Ulrich Chaussy: Das Oktoberfest-Attentat und der Doppelmord von Erlangen. Wie Rechtsterrorismus und Antisemitismus seit 1980 verdrängt werden, 3., akt. u. erw. Aufl., Berlin: Ch. Links Verlag 2020
Christoph Franceschini / Erich Schmidt-Eenboom / Thomas Wegener Friis: Spionage unter Freunden. Partnerdienstbeziehungen und Westaufklärung der Organisation Gehlen und des BND, Berlin: Ch. Links Verlag 2017
Valentine Lomellini: The Italian State and International Terrorism. The Lodo Moro , Cham: Palgrave Macmillan 2024
Adrian Hänni: Terrorist und CIA-Agent. Die unglaubliche Geschichte des Schweizers Bruno Breguet, Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 2023
Das Oktoberfest-Attentat am 26. September 1980 ist bis heute der schwerste Terroranschlag in der Geschichte der Bundesrepublik: 13 Menschen wurden getötet und mehr als 200 verletzt. Ungeachtet dieser hohen Opferzahl sei das Land aber rasch "zur Tagesordnung übergegangen", meinte Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel ein Jahr danach auf einem regionalen Parteitag der SPD. Wäre das auch der Fall gewesen, wenn der Täter nicht aus rechtsextremen, sondern aus linken Kreisen gestammt hätte? Dann wäre sehr viel mehr darüber diskutiert worden, meinte Vogel damals und fügte hinzu, dass ihm dieser Unterschied etwas "zu schaffen" mache. [1] Die jahrelange Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU), die - nach allem was man weiß - zwischen 2000 bis 2007 zehn Opfer forderte, hat von neuem eine Diskussion über die Verharmlosung des rechtsextremen Terrors entzündet. Gegen den NSU war erst ab 2011 nach ihrem Auffliegen als "terroristische Vereinigung" ermittelt worden, während man sich zuvor auf das Milieu der organisierten Kriminalität konzentriert hatte. [2] Von daher taten sich Parallelen zum Oktoberfest-Attentat auf, das nach drei Jahrzehnten wieder verstärkt thematisiert wurde. Einen Höhepunkt dieser Auseinandersetzung bildete der Spielfilm "Der blinde Fleck" (2013). Das Drehbuch basiert auf dem hier zu besprechenden Buch des Münchener Journalisten Ulrich Chaussy. Es handelt sich um eine Neuausgabe seines bereits 1985 erschienen Buchs [3], das Chaussy nun um "einige wesentliche neue Aspekte des Falles" (196) ergänzt hat. Es ist nach wie vor als das Standardwerk zur Thematik anzusehen [4], was auch als ein Beleg für das eingangs erwähnte Missverhältnis gewertet werden kann.
Chaussys ursprüngliche Recherchen waren vor allem ein Ergebnis von Zweifeln an den offiziellen Ermittlungsergebnissen: Diese hielten 1982 fest, der 21-jährige Geologiestudent Gundolf Köhler habe das Attentat alleine geplant und durchgeführt. Die Ermittlungen hatten zwar ergeben, dass Köhler mindestens seit 1977 in Kontakt mit rechtsextremen Kreisen, darunter auch mit der Wehrsportgruppe (WSG) Hoffmann, gestanden hatte - aber im Abschlussbericht der Generalbundesanwaltschaft war dennoch nur von persönlichen Motiven ("private Frustration und Universalhass gegen die Menschheit") die Rede. Die "These von der Alleintat und das Charakterbild des auf die Tat passenden Täters" erschienen Chaussy immer zweifelhafter. Seine Nachforschungen zu Köhlers Hintergrund erbrachten ein ihm selbst "gänzlich unerwartetes, umgekehrtes Resultat". (193) Ihm bot sich das Bild eines "ambivalenten, eines schwankenden Menschen", der jedoch zu "orten" und "rekrutierbar" gewesen sei. Dementsprechend erachtet Chaussy die Darstellung Köhlers als verbitterten Einzeltäter als "unhaltbar". (194)
Es ist eine der Stärken des Buchs, dass sich Chaussy auf keine Mutmaßungen einlässt. In erster Linie geht es ihm um das kritische Hinterfragen der offiziellen Untersuchungsergebnisse und das Aufzeigen von Widersprüchen, etwa durch die Präsentation von zahlreichen Augenzeugenberichten, die auf eine Gruppentat schließen lassen (17-28). Die zwielichtige Rolle staatlicher Stellen, die bis heute Anlass für Spekulationen gibt [5], manifestiert sich für Chaussy in politisch motivierten Ablenkungsmanövern unmittelbar nach dem Anschlag: Das Oktoberfest-Attentat fiel zeitlich in die "heiße" Schlussphase des Bundestagswahlkampfes, der vor allem zwischen Amtsinhaber Helmut Schmidt und dem bayrischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß als Kanzlerkandidat der Unionsparteien geführt wurde. Als sich der rechtsextreme Hintergrund von Köhler und dessen Nähe zur WSG Hoffmann herausstellten, war dies für Strauß insofern brisant, weil die bayrische Landesregierung in der Vergangenheit ein Verbot eben dieser Gruppe immer wieder abgelehnt hatte - bis Bundesinnenminister Gerhart Baum Anfang 1980 diesen Schritt von sich aus unternahm. (51f.) Um daraus resultierenden möglichen Schaden für den Wahlkampf von Strauß abzuwenden, gab der Leiter der Abteilung Staatsschutz im bayrischen Innenministerium, Hans Langemann, unmittelbar nach dem Anschlag Ermittlungsinterna an ausgewählte Journalisten weiter. Diese vermeldeten dann: "Bayerns Verfassungsschützer hatten die Rechtsextremisten unter Kontrolle - besonders die 'Wehrsportgruppe Hoffmann' (WSG). Der jüngste Stand zeigt, dass der Bonner Vorwurf der Verharmlosung neonazistischer Umtriebe in Bayern nicht zutrifft." (131) Die gezielte Indiskretion beeinträchtigte den Gang der Erhebungen - vor allem Köhlers Umfeld wurde so vorzeitig gewarnt, was Spuren verwischte. (135f.) Dass zuvor die Gefährlichkeit der "paramilitärischen" Wehrsportgruppe verharmlost worden war, bringt ein Zitat von Strauß auf den Punkt, der sich drei Monate nach der WSG-Auflösung durch Baum darüber mokiert hatte: "Mein Gott, wenn sich ein Mann vergnügen will, indem er am Sonntag auf dem Land mit einem Rucksack und einem mit Koppel geschlossenen 'battledress' spazieren geht, dann soll man ihn in Ruhe lassen." (38)
In den zusätzlichen Kapiteln der Neuauflage geht Chaussy auf Aspekte ein, die sich ihm im Zeitraum von 1985 bis 2013 erschlossen. Diese unterstreichen für den Autor noch einmal die Unzulänglichkeiten des Ermittlungsverfahrens, wofür es auch in der aktuellen NSU-Affäre Parallelen gebe: "Die Geschichte des Oktoberfest-Attentats und der gescheiterten Aufklärung dieses Terroranschlags erwies sich als Vorgeschichte, als ein lange schon bestehender blinder Fleck in der Wahrnehmung der Gefahren des Rechtsextremismus." (257) Für dieses Versagen spreche auch, dass bei der Generalbundesanwaltschaft gelagerte Asservate, die man nun auf DNA-Spuren hätte untersuchen können, Ende der 1990er Jahre vernichtet wurden. (225f.) Einer der damaligen Ermittler in der Sonderkommission "Theresienwiese", Klaus Pflieger, gibt gegenüber Chaussy offen an: "Wir haben zahlreiche Hinweise gehabt, dass andere beteiligt waren, unstreitig. [...] Und dann sind wir irgendwann mit unserem Latein am Ende gewesen. Deshalb ist das Verfahren eingestellt worden." (231) Darüber hinaus erweitert Chaussy den Fokus auf die WSG Hoffmann, und zwar hinsichtlich ihrer Präsenz im Libanon 1980/81 bzw. was eine mögliche Verwicklung des Anführers Karl-Heinz Hoffmann in den Mord an dem Verleger Shlomo Lewin (1980) angeht. Die WSG Hoffmann habe jedenfalls so wie die Unterstützerszene im Falle der NSU ein "fatales Umfeld aus verhetzender Propaganda, Paramilitarismus und falscher Kameradschaft" geboten. (255) Kürzlich wurde ein Dokument des Bundesnachrichtendienstes (BND) freigegeben, aus dem hervorgeht, dass Hoffmanns Gruppe Wochen vor dem Anschlag Kontakt mit italienischen Rechtsextremisten hatte: "Es sei über mögliche Anschläge in der Bundesrepublik Deutschland und Italien gesprochen worden." [6]
Unter dem Strich bleiben die neuen inhaltlichen Akzente etwas dünn und manchmal zu vage - das tut aber der grundsätzlichen Bedeutung des Buchs keinen Abbruch. Die Verfilmung hat zusätzlich dazu beigetragen, das "vergessene" Oktoberfest-Attentat wieder ins öffentliche Bewusstsein zu rücken: 2014 bekam der Opferanwalt Werner Dietrich Einsicht in bislang unter Verschluss gehaltene Spurenakten des bayrischen Landeskriminalamts. Sollten sich in irgendeiner Form neue Hinweise ergeben, könnte das dazu beitragen, dass die Untersuchungen wieder aufgenommen werden - so wie das auch der bayerische Landtag 2011 in einem überparteilichen Beschluss gefordert hat. [7] Nicht umsonst sagt der von Benno Fürmann verkörperte Chaussy in "Der blinde Fleck": "Was wirklich geschah und was wir glauben sollen, dazwischen liegt eine Kluft, die nur eine Wiederaufnahme der Ermittlungen schließen könnte." [8]
Anmerkungen:
[1] Hermann Vinke: Mit zweierlei Maß. Die deutsche Reaktion auf den Terror von rechts. Eine Dokumentation, Reinbek bei Hamburg 1981, 7.
[2] Vgl. Christian Fuchs / John Goetz: Die Zelle. Rechter Terror in Deutschland, Reinbek bei Hamburg 2012.
[3] Die Seiten 9 bis 192 sind 1985 unter dem Titel "Oktoberfest. Ein Attentat" bei Luchterhand (Darmstadt) erschienen.
[4] Tobias von Heymann hat in seiner Publikation "Die Oktoberfestbombe. München, 26. September 1980" (Berlin 2008) relevante Unterlagen in der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU) aufgearbeitet. Mit dem Buch "Die 'Wehrsportgruppe Hoffmann': Darstellung, Analyse und Einordnung" (Frankfurt am Main 1998) lieferte Rainer Fromm eine Analyse jener rechtsextremen Organisation, die immer wieder mit dem Oktoberfest-Attentat in Zusammenhang gebracht wird.
[5] Das Oktoberfest-Attentat ist in Wolfgang Schorlaus Roman "Das München-Komplott" (2009) das Werk von westlichen Geheimdienstlern: Diese instrumentalisieren terroristische Gewalt, um den Status quo abzusichern. Der Schweizer Historiker Daniele Ganser wiederum bringt den Anschlag in seinem Buch "NATO's Secret Armies. Operation Gladio and Terrorism in Western Europe" (London 2005) in Zusammenhang mit der Stay Behind Organisation (SBO) der westlichen Verteidigungsallianz. Köhlers Bombe könnte, so Ganser, aus einem 1981 entdeckten Waffendepot von Heinz Lembke stammen, der angeblich selbst Teil der SBO-Struktur war. Anstatt Waffen und Sprengstoff für den Fall einer sowjetischen Invasion bereitzuhalten, habe Lembke damit andere Rechtsextremisten für Anschläge versorgen wollen (vgl. 204-208). Die Causa konnte wegen Lembkes Selbstmord nicht aufgeklärt werden. Der Publizist Tomas Lecorte hat in seiner Online-Publikation von 2014, "Oktoberfest-Attentat 1980. Eine Revision" (http://www.lecorte.de/wp/wp-content/uploads/2014/01/Lecorte-Oktoberfest-1980-Revision.pdf), darauf hingewiesen, dass es für ein "Dreieck" Lembke-SBO-Köhler weder "ernsthafte Belege oder auch nur Indizien" gebe (vgl. 100ff.). Chaussy widmet Lembke eines der neuen Kapitel und bemängelt, "dass offenbar nicht der Versuch unternommen worden ist, die mögliche Herkunft der in München verwendeten Materialien für die Bombe, insbesondere des Sprengstoffes, aus den in Lem[b]kes Depots gefundenen Beständen kriminaltechnisch zu untersuchen". (223)
[6] Till Rüger: Verübte eine rechte Terrorgruppe das Attentat auf das Oktoberfest?, in: Zeit Online, 15.1.2014, http://www.zeit.de/politik/deutschland/2014-01/muenchen-oktoberfest-anschlag-bnd-akten.
[7] Ebenda.
[8] Der blinde Fleck, DVD, Ascot Elite 2014.
Thomas Riegler