Silvan Freddi: St. Ursus in Solothurn. Vom königlichen Chorherrenstift zum Stadtstift (8701527) (= Züricher Beiträge zur Geschichtswissenschaft; Bd. 2), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2014, 788 S., 4 Farb-, 13 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-21112-7, EUR 69,90
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Der anzuzeigende Band stellt einen letzten, gewichtigen Nachzügler der Stiftsmonographien aus der Schule Ludwig Schmugges dar, die im Nachgang zum Helvetia Sacra-Band über die weltlichen Kollegiatstifte (1977) erschienen sind. Abgehandelt werden die schwer fassbaren Anfänge des Stiftes an einer frühen Kultstätte der Thebäer Ursus und Victor von der karolingischen (870) bis in die zähringische Zeit, wo eine Kanonikergemeinschaft deutlich erkennbar wird. Anschliessend kommt die innere Organisation des Stiftes aufgrund einer 1207 einsetzenden reichen Statutentradition mit einer Statutensammlung von 1327, einem eigentlichen Statutenbuch von 1424 und den seit Anfang des 16. Jahrhunderts geführten Kapitelsprotokollen zur Darstellung.
Am Ursenstift gibt es zwölf Kanonikate, deren Inhaber monatlich zu Kapitelssitzungen zusammentreten. Es besteht nur eine Dignität, der Propst, ein Dekan fehlt. Die Ämterskala ist hingegen vollständig vorhanden. Bemerkenswerte Abweichungen vom Üblichen bildet die Tatsache, dass verschiedene Stiftsämter Laien übertragen werden, wie jenes des Kellers (cellerarius), des Spitalpflegers und des Schulmeisters (rector puerorum), während das durch einen Chorherrn besetzte Amt des Scholastikus schon im 13. Jahrhundert verschwindet. Auch der Kantor ist hier ein Amt, das bloß von einem Kaplan wahrgenommen wird. Obwohl schon in den frühen Statuten der Chorgesang geregelt wird, taucht er erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts auf. Ferner gibt es das Amt eines Stiftschultheissen, das ebenfalls durch einen Laien besetzt wird und für die Niedergerichtsbarkeit über die Gotteshausleute zuständig ist. Diese Auslagerung von Stiftsämtern an Laien erlaubt es der Stadt, gelegentlich Einfluss auf das Stift zu nehmen. Um 1500 sucht das Stift durch verschiedene kontrollierende Ämter, die nur Chorherren zustehen, wie die Bauherren, die für die Weinlese zuständigen Herbstherren und die superintendentes scholae, dieser Erscheinung entgegenzuwirken. Am Stift wirken 16 Kapläne, die zur Einhaltung der Stiftungsbestimmungen ihrer Kaplanei sowie strenger Residenz und zur Präsenz beim Chorgebet des Kapitels verpflichtet sind. Zwischen ihnen und dem Kapitel gibt es die üblichen Spannungen und Auseinandersetzungen, bei denen die Kapläne immer wieder beim städtischen Rat Unterstützung suchen und 1524 diesen um einen eigenen Vogt zur Vertretung ihrer Interessen ersuchen. Nach einlässlichen Kapiteln über Einkünfte, Herkunft, Universitätsbildung und Karriere des Stiftsklerus wird die Darstellung durch 421 Biogramme sämtlicher Kleriker abgerundet, die im behandelten Zeitraum in irgendeiner Weise mit dem Stift in Verbindung standen. Das alles ist umsichtig beschrieben und mit Tabellen und Grafiken verdeutlicht. Indessen, bisweilen möchte man den Quellentext doch einsehen, etwa wenn für Messelesen und Predigt in der Kirche 1327 "Rechtgläubigkeit" (67) des Offizianten stipuliert wird.
Das eigentliche Interesse des Bandes liegt aber in der Aufarbeitung des Verhältnisses zwischen Stift und Stadt. In der Stiftsforschung bildet das im Buchtitel angesprochene "Stadtstift" eine Besonderheit der schweizerischen Stiftslandschaft. Es handelt sich dabei um ein Kollegiatstift, das von der Stadt gegründet worden ist und/oder in welchem dem Stadtrat statutarisch weitgehende Rechte und Einflussnahmen auf das Stiftsleben zugestanden werden. Warum es gerade und nur in der Eidgenossenschaft zu diesem Stiftstyp gekommen ist, ist schon verschiedentlich reflektiert worden [1], wobei man bei St. Ursus es nicht so klar sah. Jetzt ist offensichtlich, dass diese Entwicklung auf die Situation im 13. Jahrhundert zurückzuführen ist, wo die Kommune reichsfreier Bürger sich des Herrschaftsanspruchs - Zoll- und Münzrecht, Niedergerichtsbarkeit und Recht auf Ernennung des Schultheissen (1251) - des königlichen Stifts erwehren musste: Der Anspruch auf Ernennungsrecht des Schultheissen wurde abgewehrt. Umgekehrt ging um die Mitte des 14. Jahrhunderts die Kastvogtei über das Stift an den städtischen Rat. Die stiftische Niedergerichtsbarkeit in der Stadt wurde bis zu Beginn des 15. Jahrhunderts eliminiert, die stiftischen Twingherrschaften auf dem Land nach zahlreichen Eingriffen des Stadtrats schliesslich 1501 dem Stift abgekauft. Darüber hinaus hat die Stadt mit Hartnäckigkeit und einigem Finanzaufwand Einfluss auf die Besetzung der Kanonikate zu erringen versucht und nach über vierzig Jahren 1512 dieses Recht während der päpstlichen Monate erhalten. 1520 wurde Solothurn auch das "ius patronatus et praesentandi personam idoneam" über die Propstei verliehen. Das über die Abwehr stiftischer Herrschaftsansprüche hinausgehende Interesse der Stadt lag, neben dem sakralen Potential, in der Verfügung über gebildetes Personal im Dienste der Stadt und in der Tatsache, dass das Stift durch die Rezeption des Notariatswesens zur eigentlichen Beglaubigungsinstanz der Stadt wurde.
Damit ist in der hier behandelten Zeitspanne der Ansatz der Entwicklung, die schließlich bis ins 17. Jahrhundert zu einem eigentlichen "Stadtstift" führen sollte, aufgezeigt. Dannzumal wird der Rat offenbar noch viel tiefer ins innere Stiftsleben eingreifen und etwa 1627 vom Kapitel beschlossene Statuten ohne weiteres annullieren können (168). Und es ist bekannt, dass der Propst im 17. Jahrhundert gewisse diözesane Kompetenzen für das solothurnische Gebiet innerhalb des Bistums Lausanne übernahm, was in dieser Perspektive auf eine Territorialisierung gewisser Aspekte des bischöflichen Regiments durch die Stadt hinausläuft, ähnlich wie es im vorreformatorischen Bern mit dem Propst des Vinzenzenstifts erreicht worden war. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts ist es aber offenbar noch nicht so weit. Schade, dass zumindest diese Entwicklung, die ja in der Einleitung zur "zentralen und übergreifenden Fragestellung" und zur "Schwerpunktsetzung" (15) der Arbeit deklariert wird, nicht mit der diese Arbeit auszeichnenden Gründlichkeit bis zu ihrem Abschluss nachgezeichnet worden ist. Das Desiderat soll aber nicht der Tatsache Abbruch tun, dass diese über weite Strecken personen-, sozial- und bildungsgeschichtliche Untersuchung des Solothurner Stiftsklerus für die Zeit bis 1527 eine empfindliche Lücke in der schweizerischen Stiftsforschung geschlossen hat.
Anmerkung:
[1] Zuletzt: Jean Steinauer / Hubertus von Gemmingen (Hgg.): 1512-2012. Das Kapitel St. Nikolaus in Freiburg, Freiburg 2010, 25-70 (Beiträge von Guy P. Marchal und Kathrin Utz Tremp).
Guy P. Marchal