Esther Gajek: Seniorenprogramme an Museen. Alte Muster - neue Ufer (= Regensburger Schriften zur Volkskunde/Vergleichenden Kulturwissenschaft; Bd. 25), Münster: Waxmann 2013, 320 S., ISBN 978-3-8309-2596-5, EUR 34,90
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Während des 20. Jahrhunderts hat die Lebenserwartung, unterbrochen von den kriegsbedingten Dezimierungen, beständig zugenommen. Die Menschen werden immer älter und bleiben aufgrund der sich ebenso kontinuierlich fortentwickelnden medizinischen Versorgung sowohl geistig als auch körperlich rüstig. Die heutigen Senioren sind so aktiv wie keine Generation vor ihnen und sie wollen ihren Lebensabend sinnvoll gestalten. Kulturelle Institutionen wie Museen sind von dieser Überalterung direkt betroffen und reagieren darauf unter anderem mit speziellen Programmen für Senioren. Diese Programme sind bislang von der wissenschaftlichen Forschung wenig beachtet worden, insbesondere fehlt es an Untersuchungen, die nicht nur die Programme selbst in den Mittelpunkt stellen, sondern auch die Teilnehmenden berücksichtigen.
Dieses Desiderat hat Esther Gajek in ihrer von der Fakultät für Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften der Universität Regensburg 2011 angenommenen Dissertation aufgegriffen und charakterisiert einleitend ihre Sicht auf die Seniorenprogramme an Museen als Bedeutungsgewebe, eine Metapher, die der US-amerikanische Ethnologe Clifford Geertz (1926-2006) geprägt hat. Aufgabe der Forschung ist es, "Übersicht zu gewinnen, Strukturen und Muster freizulegen, Fäden zu entwirren, Knoten wahrzunehmen, vor allem aber individuelle und gesellschaftliche Bedeutungen herauszufiltern" (11).
Dieser subjektorientierte Ansatz erfordert ein ethnografisches Vorgehen. Nach einer einjährigen explorativen Phase mit der Teilnahme an 68 Museumsführungen hat Gajek ihr Forschungsfeld definiert. Dieses umfasste vier verschiedene Museen (Historisches Museum, Technikmuseum, Stadtmuseum, Kunstmuseum), bei denen sie insgesamt an 46 Veranstaltungen teilgenommen und unter Zuhilfenahme von teilnehmenden Beobachtungen und biografischen Gesprächen ihre Daten erhoben und in einem interpretativen Prozess verarbeitet hat. Die Ergebnisse ihrer Untersuchung gliedert sie schließlich in drei Großkapitel: das Bedeutungsgewebe Seniorenprogramm an sich (Handlungsabfolge, vermittelte Inhalte, Kommunikation etc.), die Museumsbesucher (Gemeinsamkeiten, Unterschiede, Motivationen etc.) sowie ihre Erfahrungen beim Museumsbesuch und ihre Erinnerung an die Teilnahme. Eingerahmt wird der Hauptteil der Arbeit von forschungsgeschichtlichen, theoretischen und methodischen Ausführungen sowie einer Zusammenfassung der Hauptergebnisse. Ein Anhang dokumentiert exemplarisch das methodische Vorgehen.
Seniorenprogramme sind ein museales Angebot, das im Gegensatz zu den Vermittlungskonzepten für Kinder und Jugendliche noch wenig profiliert ist. Ihnen fehlt im Vergleich zu Letzteren der direkte Bildungsauftrag. Auch gibt es keine direkten Anhaltspunkte für die zu vermittelnden Inhalte wie beispielsweise Lehrpläne, die für die Ausgestaltung von Programmen für Kinder und Jugendliche eine Orientierung bieten. Die Programme richten sich ferner an ein Stammpublikum. Es dominiert die Wissensvermittlung. Überwiegend kommt die Führung als Methode zum Einsatz. Inhalte und Methoden werden kaum abgesprochen, noch mit der Zielgruppe entwickelt. Sie werden dem Publikum als fertiges Produkt vorgesetzt. Andererseits zeichnet sich die Zielgruppe durch ihre Vielgestaltigkeit aus, die noch nicht genügend von den Museen im Rahmen ihrer Programme berücksichtigt worden ist. Entscheidenden Einfluss auf Programmkonzeption und -ablauf haben die Vorstellungen der Organisatoren und Vermittler von älteren Menschen, die beispielsweise geprägt sind vom körperlichen und geistigen Zustand der eigenen Eltern. Das Vermittlungskonzept sah Ruhe und Beschaulichkeit vor, wenn die Vermittlerin das körperliche Gebrechen der eigenen Eltern als Ausgangspunkt ihres Konzepts definierte. Den rüstigen, wachen und fordernden Geist des Vaters zum Vorbild nehmend, kam dagegen bei einer anderen Museumsführerin eine Methode zum Einsatz, die weit über das reine Rezipieren hinausging (267-273).
Die 50 teilnehmenden Frauen und Männer sind zwischen 1914 und 1945 geboren. Ein großer Teil ist über 80 Jahre alt. Es handelt sich dabei mehrheitlich um Frauen. Der Anteil Alleinstehender ist groß. Die durchschnittliche formale Bildung der Frauen ist geringer als heutzutage. Sie sind finanziell schlechter gestellt als die Männer. Zu den Gemeinsamkeiten der Teilnehmenden gehören u.a. die Erfahrung des Zweiten Weltkriegs und seiner Folgen, das Bedürfnis nach Sicherheit, der Genuss und das Verlangen nach Freiheit sowie ein ausgeprägter Wissenshunger. Für eine noch differenziertere Annäherung an die Lebenswelt der Teilnehmenden ergänzte Gajek die quantitativ erfassten Rahmendaten um neun Fallstudien. Im Ergebnis dient der Museumsbesuch dem Wissenszuwachs, dem Wunsch nach Geselligkeit und Zerstreuung sowie zur Alltagsstrukturierung. Zudem bietet er die Möglichkeit der Ablenkung und des Engagements. Museen werden als Orte der Anerkennung und Herausforderung wahrgenommen (273-275).
Esther Gajek ist es in ihrer Dissertation gelungen, ein bislang wenig beachtetes Thema äußerst anschaulich darzustellen. Als Methode wählte sie den ethnografischen Zugang mit einer Mischung aus quantitativen und qualitativen Erhebungen. Sie sichert ihre Ergebnisse durch Befunde aus der einschlägigen Literatur ab. Die Darstellung ihres methodischen Vorgehens und ihre Erkenntnisgewinne sind transparent und als vorbildlich zu bezeichnen. Gajek dringt so in die Lebenswelt der teilnehmenden Senioren vor und gelangt zu Ergebnissen, die von den Museen im Rahmen ihrer Programmgestaltung beachtet werden sollten. Insbesondere müssen sie der Heterogenität ihrer älteren Besucher mehr Rechnung tragen. Schließlich handelt es sich bei diesen um eine bedeutende Besuchergruppe, die im Angesicht des demografischen Wandels weiter anwachsen wird. Die Museen müssen auf diesen veränderten Umstand reagieren. Gajeks Arbeit liefert Anregungen, wie die Museen besser auf die individuellen Bedürfnisse "ihrer" Senioren eingehen können und unterstreicht damit zugleich die Bedeutsamkeit und Leistungsfähigkeit ethnologischer Forschung im Rahmen der Identifizierung und Lösung praktisch-gesellschaftlicher Probleme.
Daniel Oelbauer