Patrick J. Geary / Gábor Klaniczay (eds.): Manufacturing Middle Ages. Entangled History of Medievalism in Nineteenth-Century Europe (= National Cultivation of Culture; Vol. 6), Leiden / Boston: Brill 2013, XIII + 436 S., ISBN 978-90-04-24486-3, EUR 129,00
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Stéphane Boissellier / John Tolan (eds.): La cohabitation religieuse dans les villes Européennes, Xe-XVe siècles. Religious cohabitation in European towns (10th-15th centuries), Turnhout: Brepols 2014
Tim Geelhaar: Christianitas. Eine Wortgeschichte von der Spätantike bis zum Mittelalter, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015
Patricia Clare Ingham: The Medieval New. Ambivalence in an Age of Innovation, Philadelphia, PA: University of Pennsylvania Press 2015
"Medievalism" bleibt ein wichtiges Thema der Mittelalterforschung, lässt sich daran doch nicht nur das (für die Mediävistik wichtige) Nachwirken des Mittelalters, sondern auch der ideologiegeprägte Umgang mit der Epoche analysieren. Nach "Uses and Abuses of the Middle Ages" als Ergebnis der großen Budapester Tagung und Ian Woods jüngst erschienenem Band "The Modern Origins of the Early Middle Ages" liegt nun als Ergebnis einer Forschergruppe der von Patrick Geary und Gábor Klaniczay herausgegebene Band über die "Herstellung" oder "Erfindung" des Mittelalters vor, der dem Mittelalter als "alternative Identität" nachspürt. Die 17 in vier disziplinär geprägte Sektionen aufgeteilten Beiträge beschäftigen sich weit überwiegend mit dem ostmitteleuropäischen Raum (der sich selbst heute so gern als "Central Europe" versteht); nur zwei Beiträge sind dem Westen, zwei Skandinavien, einer Italien gewidmet.
In der ersten Sektion über die Geschichtswissenschaft sieht Walter Pohl in Österreich-Ungarn die nationalen Strömungen unter der Fremdherrschaft entwickelt. Überall griff man auf frühmittelalterliche Anfänge (Samo, Arpad), aber auch auf die Christianisierung (Stephan) zurück, während in Österreich selbst neben dem Nationalstaat nicht zufällig auch der Vielvölkerstaat gewürdigt wurde. Die Modelle übten überall großen Einfluss aus. Ian Wood verdeutlicht die propagandistische Verstrickung im Ersten Weltkrieg (auf beiden Seiten) an der völkischen Reklamierung Flanderns und zeigt anschließend (am Beispiel Belgiens), wie gängig solche Mechanismen einer Unterwerfung der Geschichtswissenschaft unter die Politik waren. Stärker in die Abhängigkeit von zeitgeschichtlichen Strömungen und politischen Neigungen führt der Beitrag von Maciej Janowski über den bedeutenden polnischen Historiker Joachim Lelewel, einen radikalen Demokraten, der den niederen Adel als Teil des Volkes betrachtete, zugleich aber national die Superiorität des polnischen Systems (gegenüber dem Despotismus des Westens) im Mittelalter vertrat. Sverre Bagge wiederum kann in seinem (eigentlich zur dritten Sektion gehörigen) Vergleich des dänischen Schriftstellers Oehlenschlaeger mit dem Norweger Ibsen die unterschiedliche Zielrichtung des gleichermaßen nationalen Rückgriffs auf das Mittelalter aufzeigen: Während Dänemark sich gegenüber Deutschland abgrenzte, wurden in dem erst seit 1814 wieder selbständigen Norwegen gerade die Unterschiede gegenüber Dänemark betont. Daraus erwuchs bei beiden Autoren ein sehr unterschiedlicher Zugriff auf das Mittelalter.
In der zweiten Sektion über Mittelalterrezeption in der Architektur erklärt David M. Wilson die Wurzeln des "medievalism" in Nordwesteuropa in Architektur und Literatur aus der nationalen Romantik am Ende des 18. Jahrhunderts. Die romanische Nostalgie führte überall zur Suche nach den frühen Quellen. Anders Andrén vergleicht die neomittelalterlichen Gebäude in den skandinavischen Staaten: neuromanisch in Dänemark, weil man Gotik mit der Hanse verband, neugotisch in Schweden, als Rückgriff auf die wichtigste Epoche des Landes, und in Finnland, wo romanische Vorbilder fehlen. Tatsächlich konkurrierten die Stile aber mit Neurenaissance und Neuklassik. In Ungarn griff man in der Kunst laut Ernö Marosi seit etwa 1850 auf das Mittelalter zurück; die Architektur spiegelt hier die Visionen der zeitgenössischen Kunsthistoriker wider. Auch in Rumänien (Carmen Popescu) bildet die Geschichte den Bezugspunkt der Architektur, die aber verschiedene Modelle entwickelte und aus der Gotik heraus zu einem "Nationalstil" als Ausdruck rumänischer Kunsteigenart gelangte. Auf dem Balkan konkurrierten Neugotik und neuottomanische Kunst miteinander (Ahmet Ersoy). Michael Werner betrachtet die Historisierung der Kunst in Deutschland in der Spätphase der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert (späte Neugotik) rein stilgeschichtlich: Die Vereinfachung und Konzentration auf die tragenden Linien führte hier zu einer "Modernisierung", vor allem bei Gropius und Taut.
Die drei Beiträge der dritten Sektion widmen sich den Philologien und zeigen zunächst, wie die Suche nach der ältesten Fassung von "Reineke Fuchs" aus einem französisch-deutschen Antagonismus erwuchs, und schließlich in einen "flämischen Ursprung" einmündete, während Grimm anhand der Tiernamen einen fränkischen Ursprung postulierte. Überall aber erhielt der Fuchs eigene, "nationsgerechte" Charakterzüge (Joep Leersen). Parallel zur "Restauration der Texte" erhielten auch architektonische Restaurationen (wie an Notre Dame durch Viollet-le-Duc) neogotische Züge (R. Howard Bloch). Die tschechische Philologie stand gleichfalls unter dem Einfluss eines "national revival" (Pavlina Rychterová).
Wenn die vierte und letzte Sektion "Medievalism and Its Alternatives in National Discourses" überschrieben ist, dann passen letztlich auch alle vorigen Beiträge in dieses Thema, die sämtlich "nationale Diskurse" verfolgen, doch liegt der Akzent jetzt stärker auf möglichen "Alternativen". So gab es in Italien eine nationale und eine regional-lokale Variante des "medievalism", die sich allerdings auf zwei Phasen (vor und nach der Einigung Italiens von 1861) verteilten (Tommaso di Carpegna Falconieri). In Bulgarien schwankte man je nach politischem Lager zwischen einer (dominanten) Berufung auf die Slawen und zeitweise auf die Protobulgaren (Stefan Detchev). Die beiden letzten Beiträge repräsentieren mit dem Blick auf die Archäologie zugleich eine weitere Wissenschaft. Tschechische Ausgrabungen in Bulgarien und in der Ukraine erklären sich gleichermaßen aus einem panslawischen Gemeinschaftsgeist wie aus nationaler Ideologie, initiierten zugleich aber die Frühmittelalterarchäologie in den betrachteten Ländern (Florin Curta). Die ungarische Archäologie hat sich überhaupt erst aus dem Interesse an der frühmittelalterlichen Geschichte Ungarns entwickelt, wobei der 'Tausendjahrfeier' eine zentrale Rolle zufiel. Daneben schufen aber auch die slawischen Minderheiten ihre nationalen Mythen (Péter Langó).
Nicht überraschend verlaufen die Berufungen auf das frühe Mittelalter in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen oft parallel, entspringen überall einem ähnlich gelagerten Nationalgeist und reklamieren die Epoche von daher, jeweils unterschiedlich oder sogar gegeneinander gerichtet, für die eigene Nation.
Rückgriff auf und Handhabung des Mittelalters erscheint insgesamt als Zeitgeist, entspringt im Einzelnen aber, wie in den meisten Beiträgen verdeutlicht wird, aus der politischen Situation. Es ist vielleicht interessant zu beobachten, dass ein politischer "medievalism" in Südosteuropa nicht erst nach dem Zusammenbruch des Habsburgerreichs einsetzte, sondern längst vorher vorhanden war und sich in ein gesamteuropäisches Phänomen eingliedert.
Hans-Werner Goetz