Ministère des Affaires étrangères: Documents Diplomatiques Français 1970. Tome I (1er janvier - 30 juin), Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2014, XLV + 985 S., ISBN 978-2-8757-4120-2, EUR 85,60
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Ministère des Affaires étrangères: Documents Diplomatiques Français 1970. Tome II (1er juillet - 31 décembre), Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2014, XXXVIII + 877 S., ISBN 978-2-8757-4152-3, EUR 85,60
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Ein wahrlich gewichtiges Werk: Auf über 1800 Seiten präsentieren die Documents Diplomatiques Français 661 Dokumente zur französischen Außenpolitik des Jahres 1970. Bietet die Aktenedition schon eo ipso spannende Einblicke in eine bewegende Epoche internationaler Beziehungen, so liegt der eigentliche Reiz der beiden Halbjahresbände doch im Problem von Kontinuität und Wandel der französischen Außenpolitik zu Beginn der Präsidentschaft Georges Pompidous. Um zu zeigen, dass die Aktivitäten des Quai d'Orsay nicht nur aus Großer Politik bestanden, hat die Herausgebergruppe unter der bekannt fachkundigen Leitung von Maurice Vaïsse die Edition auch mit einigen Quellen über "le sort d'individus ballotés par le vent de l'histoire" (Vaïsse, Bd. I, XI) angereichert, zum einen über die Entlassung von Mikis Theodorakis aus der Haft des Athener Obristenregimes, zum anderen über die Befreiung von Régis Debray aus bolivianischer Gefangenschaft. Im Fokus der Dokumente stehen freilich die zentralen Fragen der internationalen Beziehungen zu Beginn der 1970er Jahre. Fünf Themen beherrschten die französische Außenpolitik: die Ost-West-Beziehungen sowie namentlich die Ostpolitik Willy Brandts, die europäische Integration, die Mittelmeerpolitik und der aufbrechende Nord-Süd-Konflikt.
Wie sein Vorgänger Charles de Gaulle begriff Pompidou die Außenpolitik als seine domaine réservé und hielt auch sonst an der vom General entwickelten Linie einer auf Unabhängigkeit pochenden Außenpolitik fest. Allerdings verschloss er nicht die Augen vor der Tatsache, dass dieser Kurs in der Endphase der Präsidentschaft de Gaulles an Grenzen gestoßen war und einer Neujustierung bedurfte. "Si je tiens essentiellement à notre indépendance, c'est-à-dire à notre liberté de décision", so beteuerte Pompidou denn auch Ende Februar gegenüber US-Präsident Nixon, "il est tout à fait naturel qu'entre alliés, l'on mette au point des actions communes en vue d'hypothèses données." (Bd. I, 204).
Insbesondere die von de Gaulle angestrebte gesamteuropäische Ordnung hatte sich bisher nicht realisieren lassen. Pompidou hielt zwar rhetorisch daran fest, richtete seine Entspannungspolitik aber aus Argwohn gegenüber der Sowjetunion konsequent auf eine Multilateralisierung der Détente aus und strebte eine Verbesserung der Beziehungen zu den USA an. Trotz diverser Meinungsverschiedenheiten gelang es ihm, bei seinem USA-Besuch einen günstigen Eindruck zu erzeugen, der sich u. a. darin niederschlug, dass beide Präsidenten die Einrichtung einer direkten Verbindung über Personen ihres Vertrauens verabredeten. Tatsächlich kam es in der Folge in einigen Politikbereichen zu einer bemerkenswerten Annäherung zwischen Paris und Washington, in besonders strittigen Fragen wie dem Vietnamkrieg oder der Rüstungspolitik ließ die Konzertierung aber zu wünschen übrig.
Frankreichs Verhältnis zur Sowjetunion kühlte dagegen, wie erwähnt, deutlich ab, auch wenn der Kreml sich nach Meinung von Botschafter Seydoux bemühte, "à donner à nos positions une présentation aussi favorable et objective que possible" (Bd. I, 692). Der von Moskau angeregten Konferenz über europäische Sicherheit stand Pompidou zwar im Prinzip positiv gegenüber; er befürchtete aber, dass sie sich zu einem exklusiven "dialgoue entre l'Union soviétique et les Etats-Unis" entwickeln könnte (Bd. I, 776). Besonderes Misstrauen erregten bei ihm wie auch im Quai d'Orsay die Verhandlungen Moskaus mit Bonn und der vom Kreml befürwortete Dialog zwischen Bonn und Ost-Berlin bzw. Warschau. Unter dem Deckmantel einer "diplomatie d'ouverture", so warnte Seydoux Mitte Januar 1970, verberge sich in Wirklichkeit "une politique d'assurance et de contre assurance", die darauf abziele, die Bundesrepublik aus der Westbindung zu lösen (Bd. I, 25).
Auch wenn Brandts erster Besuch in Paris als Kanzler Ende Januar 1970 in einer herzlichen Atmosphäre verlief, gab es doch, wie Außenminister Maurice Schumann in einem zusammenfassenden Zirkulartelegramm unterstrich, nicht unerhebliche Meinungsverschiedenheiten "sur un certain nombre de points importants" (Bd. I, 152). Die Einleitung der neuen westdeutschen Ostpolitik, so mahnte Pompidou im Gespräch mit Nixon, verlange wegen der bei den Deutschen geweckten Wiedervereinigungserwartungen nach "vigilance" (Bd. I, 239).
In gewisser Hinsicht löste die Ostpolitik Brandts in der französischen Führung geradezu schizophrene Reaktionen aus: Einerseits begrüßte Frankreich den neuen Kurs, weil er der traditionellen gaullistischen Forderung nach einer Normalisierung entsprach; andererseits aber befürchtete man deutschlandpolitische Weiterungen und negative Rückwirkungen auf den eigenen Status in der Welt. Deshalb verlangte die Pariser Regierung auch in Bonn "une étroite concertation entre les trois puissances et la République fédérale" (Bd. I, 150). Pompidou erwartete sogar, wie er Nixon darlegte, eine Konsulation "à l'avance des positions prises et des concessions faites" (Bd. I, 239). Doch die Bundesregierung hielt sich mit ihrer Informationspolitik sehr zurück.
Auch wenn der sowjetische Außenminister Gromyko die französische Diplomatie nach der Unterzeichnung des Moskauer Vertrags mit den Worten zu beruhigen versuchte, dass mit diesem Abkommen "tout le monde y a gagné" (Bd. II, 249), meldete die französische Regierung erhebliche Bedenken an. "Nous risquerions en effet de nous voir rapidement distancés sur tous les plans et notamment dans le domaine économique", kritisierte der Chargé d'affaires in Moskau, Delahaye (Bd. II, 268).
Um die Parität gegenüber Bonn wiederherzustellen, unterzeichnete Pompidou Mitte Oktober in Moskau ein Konsultationsabkommen, das der Intensivierung des Handels und des wissenschaftlichen Austausches diente. In guter gaullistischer Tradition unterstrich er damit Frankreichs Anspruch auf eine unabhängige Stellung zwischen den Blöcken. Doch der Verlauf der Visite gab Anlass zu Zweifeln, dass dieser Anspruch mehr als frommer Wunsch war. Leonid Breschnew hatte nach Kasachstan zur Raumfahrtstation Baikonur eingeladen, um seinem Gast den Abschuss einer Rakete vorzuführen. Während die Rakete elektronengesteuert über dem Pazifischen Ozean explodierte, meinte der Kreml-Chef eher beiläufig, nun könne man sich vorstellen, was eine solche Waffe in Paris anzurichten imstande sei. Pompidou sollte diese Drohung, die in der Edition bemerkenswerterweise keinen Niederschlag gefunden hat, nie vergessen. [1]
Wenn Pompidous Ostpolitik stets auch als Mittel der Rückversicherung gegenüber deutschen Eskapaden gedacht war, so hielt sich dessen Wirkung in engen Grenzen. Umso wichtiger war es für ihn, seine West- und Europapolitik voranzubringen. Mit der Unterstützung der Beschlüsse des Den Haager Gipfeltreffens vom Dezember 1969 hatte er nach dem kontraproduktiven Kurs de Gaulles ein neues Kapitel französischer Europapolitik aufgeschlagen. Pompidou optierte dabei für den Primat der Vertiefung vor der Erweiterung und machte den von de Gaulle jahrelang blockierten Beitritt Großbritanniens zur EWG von einer Regelung des Agrarmarkts abhängig. Der Regierungswechsel in London von Labour zu den Tories Mitte 1970 sollte die Lage zwar verbessern, da der neue Premierminister Heath jeglicher "idéologique supra-nationale" fernstand (Bd. I, 893). Da London aber nach der Eröffnung der Beitrittsverhandlungen "des mesures transitoires" verlangte (Bd. II, 88) und ganz grundsätzlich darauf achtete, "de ne pas porter atteinte à leurs relations avec les États-Unis" (Bd. II, 610), entwickelten sich die Beratungen in Brüssel ausgesprochen zäh.
Nicht minder schwierig gestaltete sich die Arbeit an der in Den Haag beschlossenen Bildung der Wirtschafts- und Währungsunion. Anfang März 1970 hatte der EG-Ministerrat einen Ausschuss unter Vorsitz des luxemburgischen Ministerpräsidenten Werner eingesetzt, dessen Beratungen von höchst gegensätzlichen Vorstellungen über den Weg zur WWU gekennzeichnet waren. Als die sechs Regierungen Mitte Dezember 1970 die Konsultationen über den im Herbst vorgelegten Werner-Plan aufnahmen, setzten sich die Differenzen fort. Am Ende blieb den Ministern nichts anderes übrig, als ihre Beratungen ins nächste Jahr zu vertagen.
Im Mittelpunkt der außereuropäischen Aktivitäten Frankreichs stand 1970 vor allem die "politique méditerranéenne", die dazu dienen sollte, die Beziehungen zu den nordafrikanischen Staaten zu verbessern und das Mittelmeer zu einem "lac de paix" zu machen (Bd. I, 782). Die Erfolge hielten sich in engen Grenzen.
Dank eines umfangreichen Waffengeschäfts nahm das französisch-libysche Verhältnis zwar eine günstige Wendung. Die Lieferung von Mirage-Kampfflugzeugen belastete indes nicht nur die Beziehungen zu den USA, sondern vor allem auch zu Israel. Anfang 1970 gestand Außenminister Schumann im Gespräch mit dem israelischen Botschafter offen ein, dass all' seine Bemühungen um eine Verbesserung des Verhältnisses "sont aujourd'hui ruinés" (Bd. I, 9).
Auch die Nachbarn Libyens gingen auf die französische Mittelmeerinitiative nur sehr zögerlich ein und kehrten zunehmend klarer ihre nationalen Interessen heraus. "Le pétrole est algérien", erklärte etwa Algeriens Staatschef Boumediene (Bd. II, 579). Und der irakische Vizepräsident ließ im Gespräch mit dem französischen Botschafter keinen Zweifel daran aufkommen, dass sein Land sich beim Verkauf seiner Bodenschätze nicht mehr dem Preis- und Lieferdiktat des Westens unterwerfen werde. Symptomatisch für die sich wandelnde Großwetterlage registrierte Frankreichs Vertreter bei der UNO in den Debatten der Vollversammlung eine "révolte des petits contre les grands" (Bd. II, 796).
Schwierig gestaltete sich auch Frankreichs Verhältnis zum Süden des afrikanischen Kontinents, einerseits wegen der Verurteilung der Rassentrennung in Südafrika bei gleichzeitiger Ausrüstung der dortigen Armee mit eigenen Waffen, andererseits wegen der Mitwirkung am Bau des Caborabassa-Staudamms im portugiesischen Mozambique. Wie im Norden so pochten die Staatsführungen auch südlich des Äquators mehr und mehr auf die Wahrung ihrer nationalen Interessen, wobei sie nicht selten eine "conception totale de l'indépendance" (Bd. II, 310) mit massiven Hilfsforderungen an die Adresse Frankreichs verbanden.
"Dans un climat particulièrement favorable" (Bd. II, 388) verliefen hingegen Frankreichs Kontakte zu China, schienen aber allzu sehr von internationalen Konjunkturen abhängig und der noch sehr lebendigen Erinnerung an de Gaulle.
Alles in allem bestätigen die durch knappe Einführungen, eine sparsame Kommentierung, ein regestenartiges Dokumentenverzeichnis und einen Personenindex erschlossenen beiden Bände den Ruf der Documents Diplomatiques Français als unverzichtbares Instrument für die Erforschung der französischen Außenpolitik. Wer sich intensiver mit der französischen Europapolitik und den deutsch-französischen Beziehungen des Jahres 1970 befassen möchte, wird darüber hinaus zwei Dokumentationen der Association Georges Pompidou [2] und die Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1970 [3] konsultieren müssen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. dazu ohne Quellenbeleg: Ernst Weisenfeld: Geschichte Frankreichs seit 1945. Von de Gaulle bis zur Gegenwart, 3., völlig neubearbeitete und aktualisierte Auflage, München 1997, 218.
[2] Eric Bussière / Emilie Willaert: Un projet pour l'Europe. Georges Pompidou et la construction européenne, Brüssel u.a. 2010; vgl. die Rezension in sehepunkte 11 (2011), Nr. 1 . Sylvain Schirmann / Sarah Mohamed-Gaillard: Georges Pompidou et l'Allemagne, Brüssel u.a. 2012; vgl. die Rezension in sehepunkte 13 (2013), Nr. 2.
[3] Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland 1970, hrsg. im Auftrag des Auswärtigen Amts vom Institut für Zeitgeschichte, bearb. von Ilse Dorothee Pautsch, Daniela Taschler, Franz Eibl, Frank Heinlein, Mechthild Lindemann und Matthias Peter, 3 Bde., München 2001.
Ulrich Lappenküper