Jean-Paul Oddos: Isaac de Lapeyrère (1596-1676). Un intellectuel sur les routes du monde (= Libre Pensée et Littérature Clandestine; 50), Paris: Editions Honoré Champion 2012, 312 S., ISBN 978-2-7453-2302-6, EUR 70,00
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Es kommt immer wieder vor, dass ältere Forschungsbeiträge sich im Schattenreich ungedruckter, als "maschinenschriftlich" ausgewiesener Dissertationen befinden und dort in sehr wenigen Exemplaren nur schwer zugänglich sind. Deshalb ist es für jeweilige Interessenten ein bedeutendes Ereignis, wenn der seltene Fall eintritt, dass die Arbeit dann doch nach Jahrzehnten im Druck erscheint. Ein solcher Fall hat sich vor kurzem in Frankreich zugetragen und ist hier mit großer Freude zu verzeichnen, zumal die Bedeutung des Themas die auf Frankreich gerichtete Forschung weit übertrifft.
Bei der Dissertation von 1974 handelt es sich um eine grundlegende Arbeit über Leben und Werk von Isaac La Peyrère (1596-1676). Dessen sogenannte Präadamiten-These stützte sich auf eine bis dahin unerhörte Lesart einiger Sätze des Apostels Paulus (Rom 5, 12-14), wonach es eine historische Zeit vor Adam (ante legem, sub natura) gegeben habe, in der die Sünde als peccatum naturale nicht angerechnet wurde - in der es also eine Menschheit gegeben haben muss; denn ohne Menschen keine Sünde, so muss man wohl schließen, und so schloss der Gascogner La Peyrère. Es sei also eine erste Schöpfung vor Adam anzunehmen, und die Sintflut, dann der Moses von Gott gesandte Dekalog wie auch der angeblich von Moses verfasste Pentateuch hätten eine nur regionale Bedeutung eben für das auserwählte Volk der Juden in ihrem Land. Die Genese der Menschheit, so lautet eine der weitreichenden Folgerungen, ist also nicht monogenetisch von einem "ersten Menschen" (Adam) her, sondern polygenetisch zu verstehen. Die anonyme Publikation von 1655, die sofort etwa zwei Dutzend Gegenschriften provozierte, enthält zwei Abhandlungen: eine "Exercitatio super versibus (...) Epistolae D. Pauli ad Romanos. Quibus inducuntur primi homines ante Adamum conditi" sowie ein "Systema theologicum ex Praeadamitarum hypothesi", annähernd fünfmal so lang wie der voranstehende Text und mit Bezugnahme auf den philosemitischen Messianismus, von dem die Präadamiten-These ein Teil ist: die Vision von einer Aufhebung der Differenz zwischen Heiden (gentiles, das sind Präadamiten und ihre Nachkommen bis in die Neuzeit, vor allem die Bewohner Amerikas usw.), Christen und Juden und der Rettung der gesamten Menschheit, für die eine "Rekonziliation von Judentum und Christentum" der entscheidende und unmittelbar bevorstehende Schritt sein müsse. Von dieser messianistischen Perspektive handelt das früheste seiner Bücher, Du Rappel des Juifs von 1643, wie auch ein größeres Manuskript im Nachlass, verfasst in einem Konvent der Oratorianer bei Paris, in dem La Peyrère bis zu seinem Tode 1676 lebte: nach Gefängnis der Inquisition (in Brüssel 1656), nach Widerruf und Konversion in Rom vor dem Papst persönlich (1657) und, zurück in Paris, nach einigen Jahren (1660-65) als Bibliothekar und "gentilhomme ordinaire" des Prinzen Condé.
An der Arbeit von Jean-Paul Oddos kam in den folgenden Jahrzehnten eigentlich kein auf diesem Gebiet tätiger Forscher vorbei - sofern es ihm eben gelang, eines der drei vorhandenen Exemplare einzusehen, was manchem Interessenten außerhalb Frankreichs gewiss nicht leicht gefallen ist.
Sie umfasst 4 Teile: (I) Eine grundlegende und weitgehend zuverlässig dokumentierte Biographie, die man als das wichtigste Ergebnis der Dissertation betrachten kann; (II) eine Analyse der in den Prae-Adamitae von 1655 u. a. Texten formulierten theologischen Vorstellungen in 3 Kapiteln: über deren Einheit, über ihre sukzessive Entfaltung sowie Hypothesen über die Denkanstöße, denen das Systema theologicum seine Entstehung verdankt; (III) einen umfangreichen Anhang: mit Briefkorrespondenzen, Gelegenheitspoesie, Archivdokumenten mit Schriftstücken des Advokaten La Peyrère, mit Vertragstexten, Legaten und Testamenten von nahen Verwandten; schließlich (IV) eine umfangreiche Bibliographie der handschriftlichen und gedruckten Quellen, der zeitgenössischen "querelle des préadamites", der frühen Biographie und Forschung (seit Pierre Bayle und Richard Simon) sowie neuerer Sekundärliteratur.
Nach den wegweisenden Studien u. a. von Leo Strauss und Hans-Joachim Schoeps [1], René Pintard [2], Don Cameron Allen [3], Dino Pastine und Giuliano Gliozzi [4] erschien 1987 die große Monographie von Richard H. Popkin [5], die kaum ohne die erstmals von Oddos zusammengetragenen Materialien und Deutungsaspekte zu denken ist. Erst seither ist die Kenntnis von La Peyrères Schriften gerade inmitten der verschiedenen Stationen eines sehr unsteten und gefährdeten Lebens vor allem durch eine Reihe gründlicher Studien der früh verstorbenen Historikerin Elisabeth Quennehen († 2011) auf eine neue Basis gestellt worden. [6] Aber auch deren Recherchen, die mit einer ebenfalls noch ungedruckten thèse eingesetzt haben, [7] fußen auf der Pionierleistung von Oddos. Unter den seit Strauss und Schoeps raren Arbeiten in deutscher Sprache ist schließlich die ebenfalls 2012 erschienene Monographie von Andreas Pietsch hervorzuheben, die auf eine Münsteraner Dissertation zurückgeht und über die ältere Forschung und zumal über Popkin hinaus eine gut begründete Neubestimmung und Neubewertung dieses Autors und der verschiedenen Teile seines theologischen Œuvres anstrebt. [8]
Bis auf den veränderten Titel und den hinzugesetzten Untertitel, der mit Recht die Rolle des umhergetriebenen 'Intellektuellen' betont, gibt die Buchausgabe von 2012 den Text der Dissertation von Oddos ohne nennenswerte Änderungen wieder. [9] Wie Alain Mothu in seiner Rezension bemerkt, [10] erscheinen die wenigen Zusätze als eher zufällig, wie man überhaupt die Gelegenheit zur sorgfältigen Durchsicht des Textes aus Anlass der Druckfassung offenbar nicht konsequent genutzt hat. Zu bedenken ist jedoch, dass die Integration zusätzlicher Themen: etwa eine gründliche Erörterung der bis heute ungelösten Frage einer kryptojüdischen (marranischen) Herkunft der hugenottischen Familie La Peyrères, von der Popkin und andere ausgehen (Strauss verstand den Bibelkritiker zudem als Kryptosozinianer), eine tiefgreifende Umarbeitung erfordert hätte, die man von dieser kurzfristig veranstalteten Druckversion des Autors, der inzwischen über Jahrzehnte beruflich mit ganz anderen Dingen befasst war, nicht erwarten konnte.
Anmerkungen:
[1] Leo Strauss: Die Religionskritik Spinozas als Grundlage seiner Bibelwissenschaft. Untersuchungen zu Spinozas Theologisch-Politischem Traktat. Berlin 1930; Hans-Joachim Schoeps: Philosemitismus im Barock (1952). Jetzt in: Gesammelte Schriften. I. Abt.: Religionsgeschichte, Bd. 3. Hildesheim 1998.
[2] René Pintard: Le libertinage érudit dans la première moitié du XVIIe siècle. Paris 1943. Erw. Neuausgabe Genève, Paris 1983.
[3] Don Cameron Allen: The Legend of Noah. Renaissance Rationalism in Art, Science, and Letters. Urbana 1949, ²1963.
[4] Dino Pastine: Le origini del poligenismo e Isaac Lapeyrère. In: Miscellanea Seicento, vol. I. Firenze 1971 (Istituto di Filosofia della Facoltà di Lettere e Filosofia dell'Università di Genova), S. 7-234; Giuliano Gliozzi: Adamo e il Nuovo Mondo. La nascita dell'antropologia come ideologia coloniale: dalle genealogie bibliche alle teorie razziali (1500-1700). Firenze 1976.
[5] Richard H. Popkin: Isaac La Peyrère (1596-1676). His Life, Work an Influence. Leiden 1987 (Brill's Studies in Intellectual History, 1). Dazu zahlreiche Aufsätze Popkins in Zeitschriften und Sammelbänden zu Themen auch im Umkreis von La Peyrère und seiner Rezeption.
[6] Vgl. bes. Elisabeth Quennehen: "L'auteur des Préadamites", Isaac Lapeyrère. Essai biographique. In: Autour de Cyrano de Bergerac. Dissidents, excentriques et marginaux de l'Âge classique. Offert à Madeleine Alcover. Hrsg. von Patricia Harry u. a. Paris 2006, S. 349-373; dies.: Lapeyrère, la Chine et la chronologie biblique. In: La Lettre clandestine no. 9 (2000), S. 243-255, sowie dies.: Lapeyrère et Calvin: libre pensée et Réforme. In: Libertinage et philosophie au XVIIe siècle. Hrsg. von A. McKenna und P.-F. Moreau. Folge 1. Saint-Étienne 1996, S. 69-74. Vgl. auch zu neu aufgefundenen Handschriften: Élisabeth Quennehen: A propos des Préadamites: deux manuscrits des Archives Nationales. In: La Lettre clandestine no. 3 (1994), S. 305-310, und dies.: Un nouveau manuscrit des Préadamites. In: La Lettre clandestine no. 4 (1995), S. 545-551.
[7] Elisabeth Quennehen: Le problème de l'unité du genre humain au XVIIe siècle. Contribution à l'histoire de l'idée polygéniste. Thèse (histoire), sous la direction de Jean Devisse. Université Paris I, Sorbonne, 1993. Microfiche-Ausg. Lille 1994.
[8] Andreas Pietsch: Bibelkritik, Philosemitismus und Patronage in der Gelehrtenrepublik des 17. Jahrhunderts. Berlin, Boston 2012 (Frühe Neuzeit, 163). Vgl. dazu die Rezension von H. Jaumann in: literaturkritik.de, 11/2012 http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=17158
[9] Der Autorenname wird in der französischen Forschung meist als Isaac (de) Lapeyrère wiedergegeben, ansonsten, zumal seit Popkin (1987), als Isaac La Peyrère. Beide Schreibungen (die zuerst genannte häufiger) begegnen in Dokumenten des 17. Jahrhunderts. Im übrigen ist den Bemerkungen von Andreas Pietsch zuzustimmen (wie Anm. 8, dort Einl. Fn. 1).
[10] In: La Lettre clandestine no. 21 (2013), S. 488-490. Alain Mothu rezensiert dort (490-94) auch die französische Neuausgabe der ersten Schrift La Peyrères: Du rappel des juifs, 1643, texte original présenté et édité par Fausto Parente, traduit de l'italien par Mathilde Anquetil-Auletta. Paris 2012. Vgl. auch die jüngst erschienene Neuausgabe des Buches über Grönland (1647, ²1663): Isaac de Lapeyrère: Le Groenland retrouvé. La Relation du Groenland d'Isaac de Lapeyrère. Établissement du texte, annotations et postface de Fabienne Queyroux, Paris 2014. Von den Traktaten ist eine italienische Ausgabe erschienen: I preadamiti / Praeadamitae (1655). A cura di Giuseppe Lucchesini (traduzione e note) e Pina Totaro (introduzione). Macerata: Quodlibet 2004 (Spinozana. Fonti e studi per la storia dello spinozismo).
Herbert Jaumann