Michael Weigl: Die CSU. Akteure, Entscheidungsprozesse und Inhalte einer Partei am Scheideweg, Baden-Baden: NOMOS 2013, 342 S., ISBN 978-3-8329-5298-3, EUR 24,90
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Die CSU gehört zu den erfolgreichsten Parteien der bayerischen und deutschen Nachkriegsgeschichte. Nach dem Zweiten Weltkrieg gewann die Partei, mit Ausnahme der Wahlen von 1950, alle Landtagswahlen im Freistaat und stellte fast immer den bayerischen Ministerpräsidenten. Der von ihr geschaffene Mythos, Bayern und die CSU seien zwei Seiten derselben Medaille, verbreitete sich auch unter politischen Beobachtern. Umso überraschender traf die CSU der Ausgang der Landtags- und Bundestagswahlen von 2008 bzw. 2009, bei denen sie deutliche Stimmeinbußen hinnehmen musste. Bei den Landtagswahlen sank ihr Stimmenanteil von 60,7 auf 43,4 Prozent und damit deutlich unter die 50-Prozent-Marke. Auch bei den Bundestagswahlen verlor die CSU Stimmen: von 49,4 Prozent auf 42,6 Prozent. Diese Verluste legten eine Reihe struktureller und organisatorischer Defizite offen. Die CSU befindet sich seitdem in einer Phase der Erneuerung, wobei das innerparteiliche Machtgefüge ebenso neu austariert wird wie der Prozess der Willensbildung und Entscheidungsfindung.
In der vorliegenden Studie untersucht der Politikwissenschaftler und Parteienforscher Michael Weigl die aktuelle Machtverteilung in der CSU. Er legt seiner Analyse ein breites Verständnis von (inner-)parteilichen Willensbildungsprozessen zugrunde und betont den "Spagat" (21) zwischen Mitgliedschafts- und Einflusslogik, den Parteien in ihrer Binnenorganisation und bei der internen Entscheidungsfindung bewältigen müssten. Während die Mitgliedschaftslogik vor allem den Bedürfnissen der Parteimitglieder gerecht werden will und nach (zeit-)intensiver Aushandlung verlangt, steht für die Einflusslogik die externe Durchsetzung von Partei- und Politikzielen im Vordergrund; daher sind effektivere Führung und kürzere Entscheidungswege gefragt (18-22). Vor diesem konzeptionellen Hintergrund will sich Weigl nicht nur auf die Rolle individueller und kollektiver Akteure konzentrieren, sondern auch auf Inhalte eingehen und so die "möglichen Merkmalsausprägungen der Aushandlungsprozesse" charakterisieren (23). In diesem Sinne nimmt der Autor zunächst die Akteure und ihre Ressourcen unter die Lupe, wobei er sich von unten nach oben durch die verschiedenen Ebenen arbeitet: von der Parteibasis über die zentralen Parteigremien bis hin zu den CSU-Politikern in staatlichen Ämtern. Anschließend untersucht Weigl die Willensbildungsprozesse in der CSU entlang verschiedener Konfliktlinien, die aus dem Spannungsverhältnis von Mitglieder- und Einflusslogik resultieren.
Weigl macht in der CSU drei Ebenen der Einflussnahme auf innerparteiliche Willensbildungs- und Entscheidungsfindungsprozesse aus und betont, dass es nach den Wahlen von 2008 zu Verschiebungen zwischen den von Andreas Kießling identifizierten vier Machtzentren der Partei (Parteivorsitzender und Landesleitung, bayerische Staatsregierung, Landtagsfraktion und Landesgruppe im Bundestag) gekommen sei. [1]
Den geringsten Einfluss misst Weigl den Orts- und Kreisverbänden sowie den Arbeitsgemeinschaften und Arbeitskreisen bei, die er quasi an der "Peripherie" (280 f.) sieht. Etwas mehr Einfluss kommt der "Anwartschaft" (281) zu. Zu dieser Gruppe zählt Weigl die Bezirke samt ihren Vorsitzenden sowie die CSU-Landesgruppe. Den größten Einfluss habe das "Zentrum", dem neben dem Parteivorsitzenden und der Landesleitung der bayerischen Ministerpräsident und die CSU-Landtagsfraktion angehörten (281 f.). Durch die Wahlniederlagen 2008/09 hätten der Ministerpräsident und die Landtagsfraktion an innerparteilichem Einfluss verloren - zugunsten der CSU-Landesgruppe, der CSU-Europagruppe sowie den kommunalen und regionalen Parteigliederungen (283).
Ergänzt wird die Analyse der innerparteilichen Willensbildungsprozesse durch zwei Kapitel zur Geschichte der CSU sowie zu ihren Erfolgsaussichten. Der Schwerpunkt der Ausführungen zur Parteigeschichte liegt auf den letzten Jahren seit dem Rücktritt Edmund Stoibers. Weigl zeichnet die wichtigsten Etappen nach und zeigt die Schwierigkeiten auf, mit denen die CSU zu kämpfen hatte. Die Geschichte der Partei vor 2007 beleuchtet der Autor nur schlaglichtartig; auch die Ära Strauß (1961-1988) kommt erstaunlich kurz, obwohl Weigl betont, "dass die CSU aktuell und auch in der Zukunft ihre Existenzberechtigung nur dann hat, wenn sie ist, wie Strauß sie sich erdacht hat" (290).
Wesentlich gehaltvoller ist die kompakte Darstellung der programmatischen Entwicklung. Weigl benennt dabei "fünf Säulen" des Parteiprogramms: christliches Wertefundament, Partei der "kleinen Leute" und des Kapitals, Partei des ländlichen Raumes und der Städte, Partei der Freiheit und des Staates, Partei des Zentrums und der Peripherie. Er zeigt, dass sich - abgesehen vom christlichen Wertefundament - hinter jeder Säule widersprüchliche Ziele verbergen. Die CSU habe hier eine eindeutige Positionierung vermieden und nehme es bewusst in Kauf, dass gesellschaftliche Konfliktlinien in ihre Reihen hineingetragen würden. Durch die ständigen Bemühungen, die unterschiedlichen Positionen auszugleichen, sei es der Partei aber gelungen, sich als Volkspartei zu behaupten und ihre programmatische Kontinuität zu wahren.
Im Kapitel über Wählerpotenziale und strategische Optionen untersucht Weigl die Stellung der CSU im Parteiensystem Bayerns. Er betont, dass es die Partei bis 2008 verstanden habe, ihre absolute Mehrheit bei Landtagswahlen durch eine Sammlung des bürgerlichen Lagers zu sichern. In diesem Sinne kam es nicht zuletzt darauf an zu verhindern, dass sich Konkurrenzparteien etablieren konnten. Diese Strategie ging 2008/09 mit dem Erfolg der Freien Wähler und der FDP nicht mehr auf, und es wurde offensichtlich, dass auch die CSU vom Erosionsprozess der Volksparteien betroffen ist. Seither versucht sie verstärkt neue Wähler - etwa bei den Frauen und in der jüngeren Generation - für sich zu gewinnen. Mit Blick auf die Zukunft sieht Weigl die CSU am "Scheideweg": Es sei keineswegs sicher, dass sie auch in Zukunft (wieder) die absolute Mehrheit bei Wahlen erringen werde. Das Wählerpotenzial sei aber vorhanden, um die dominierende politische Kraft in Bayern zu bleiben (290). Für den Fall, dass sich das bayerische Parteiensystem weiter ausdifferenzieren sollte, müsse sich die CSU möglichen Koalitionen mit anderen Parteien öffnen, um langfristig regierungsfähig zu bleiben (277).
Michael Weigl zeichnet ein umfassendes Bild der CSU Horst Seehofers, das sich auf dem aktuellen Stand der Forschung befindet. Auf der Basis von parteiinternen Dokumenten, Zeitungsartikeln, statistischem Material und wissenschaftlicher Literatur kann er zeigen, dass die CSU kein monolithischer Block ist, wie oft behauptet wird, sondern aus einem komplexen Geflecht unterschiedlicher Akteure besteht. Das führt dazu, dass sich politische Willensbildung in ebenso komplexen Aushandlungsprozessen vollzieht. Die strukturelle und programmatische Erneuerung der CSU ist aber auch nach den Siegen bei den Bundes- und Landtagswahlen 2013, bei denen die Partei wieder an der 50 Prozent-Marke kratzte, nicht abgeschlossen. Es bleibt spannend, diesen Prozess weiter zu beobachten.
Anmerkung:
[1] Andreas Kießling: Die CSU. Machterhalt und Machterneuerung, Wiesbaden 2004.
Richard Büttner