Maren Goltz: Musikstudium in der Diktatur. Das Landeskonservatorium der Musik / die Staatliche Hochschule für Musik Leipzig in der Zeit des Nationalsozialismus 1933-1945 (= Pallas Athene. Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte; Bd. 46), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2013, 462 S., ISBN 978-3-515-10337-4, EUR 74,00
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Bereits 1963 hat Hildegard Brenner die bis heute erkenntnisfördernde Formel geprägt, dass es dem nationalsozialistischen Regime in bis dahin einzigartiger Weise gelungen sei, sich den Bereich der Künste "herrschaftstechnisch aufzuschließen". [1] In welcher Weise sich diese Zurichtung und Nutzbarmachung vollzog, wie stark eine ideologische Polung gelang und welche Rolle dabei Anpassung und Repression gespielt haben, wurde seither vielfach untersucht und für Sparten, Institutionen und Personen durchdekliniert. Auch wenn die Musik in der nationalsozialistischen Herrschaftspraxis wichtige Funktionen einnahm, blieb die höhere Musikausbildung im 'Dritten Reich' in der Forschung lange weitgehend unbeachtet.
Vor allem eine 1991 erschienene Studie Christine Fischer-Defoys zu den Berliner Kunst- und Musikhochschulen [2], der Arbeiten zu den Konservatorien und Musikhochschulen in Weimar, Dresden, Karlsruhe und München folgten, hat diese Art von Bildungseinrichtung ins Blickfeld gerückt. Maren Goltz fügt nun der Reihe institutionengeschichtlicher Forschungen eine weitere hinzu. Sie untersucht das 1941 zur Staatlichen Hochschule für Musik erhobene Landeskonservatorium der Musik Leipzig in der Zeit des Nationalsozialismus von 1933 bis 1945.
Aus der musikalischen Bildungslandschaft ragt diese Einrichtung in mehrfacher Hinsicht heraus. 1843 von Felix Mendelssohn Bartholdy als erste höhere Institution ihrer Art auf dem Gebiet des heutigen Deutschland gegründet, galt sie national und mithin sogar europaweit als Vorreiter in der Frage der Institutionalisierung der Verbindung von künstlerischer und wissenschaftlicher Ausbildung (47). Auch eine systematische Verzahnung von Praxis und Theorie sowie eine Anbindung an die Musikinfrastruktur Leipzigs, insbesondere das Gewandthaus, machte das Leipziger "Conservatorium der Musik" im 19. Jahrhundert zu einem ausstrahlungsstarken Modell.
Wie sich die prestigeträchtige Einrichtung, die zu den Bannerträgern einer sich als humanistisch verstehenden nationalen Musikkultur zählte, unter den Bedingungen des totalitären 'Dritten Reiches' entwickelt hat, inwiefern Dozenten- und Studierendenschaft nach rassischen Gesichtspunkten "gesäubert" und das Lehrprogramm auf nationalsozialistische Maßgaben hin ausgerichtet wurde, war bislang unklar. Goltz konstatiert eine in der Leipziger Öffentlichkeit "lange Zeit tabuisierte Hochschulgeschichte" (23) und fasst den Tenor des bisherigen Diskurses dahingehend zusammen, die Hochschule sei "eine Art Bollwerk Andersdenkender, nur der Kunst huldigender" gewesen (22).
Das Programm, diese These einer kritischen Überprüfung zu unterziehen und die Geschichte des Landeskonservatoriums "möglichst umfassend [zu] erforschen" (34), setzt die Autorin mit quellennaher Akribie um. Ihre als "kritische Institutionengeschichte" (11) angelegte Arbeit strukturiert sie in erster Linie chronologisch. Nach der knappen Skizzierung der Geschichte des Hauses von 1843 bis 1932 folgen zwei große Hauptkapitel. Die Zäsur bildet 1941 die Überführung in staatlicher Trägerschaft. Zuvor basierte die Einrichtung auf einer privatrechtlichen Stiftung, vielfach gestützt jedoch durch die Stadt Leipzig. Von diesem Rahmen ausgehend, fächert Goltz Sachaspekte auf - getragen von dem Anspruch, Methoden der Geschichts- und Musikwissenschaft zu verbinden (16).
Bei der Frage nach zeitnahen Konsequenzen der Etablierung des NS-Regimes für das Landeskonservatorium ergibt sich ein vordergründig moderates Bild. Lediglich zwei jüdische Dozenten verloren im Zuge des Berufsbeamtengesetzes von 1933 ihre Anstellung (70). Goltz kann jedoch zeigen, dass die relative hohe Kontinuität bei den Lehrenden (75) vor allem dadurch zu erklären ist, dass es in Leipzig bereits vor 1933 antisemitische Tendenzen gab und daher vergleichsweise wenige Dozierende jüdischer Herkunft bei der Machtübernahme tätig waren (170). Die Autorin konstatiert denn auch eine "äußere Anpassung des Kollegiums" an die neuen politischen Gegebenheiten, die sich "ohne nennenswertes Aufsehen" (93) vollzogen habe. Indikatoren zum Grad der Akzeptanz des NS-Regimes indes sind rar. Immerhin: War vor 1933 lediglich ein Dozent Mitglied der NSDAP, so waren es zur Jahresmitte 1933 bereits zehn (95). Klar belegen kann Goltz überdies, dass die Einstellungspolitik zunehmend NSDAP-Mitglieder begünstigte (102).
Der Blick auf die rasch nach "Volkszugehörigkeit" und "Rasse" erfassten (107) Studierenden zeigt, dass die Zahl ausländischer Kommilitonen ab 1933 fortwährend zurückging. Bemerkenswert erscheint, dass bei einer Gesamtzahl von maximal bis zu zweihundert Studierenden zwischen 1935 und 1938 immerhin noch drei "jüdischgläubige" Studierende inskribiert wurden, von denen zumindest zwei nachweislich ihr Abschlusszeugnis erhielten - zuletzt im Januar 1939 (112). Signifikant ist überdies, dass bei ab 1935 an allen Musikhochschulen rückläufigen Studierendenzahlen (109) der Frauen-Anteil rapide stieg (110).
Was politische Haltungen unter den Studierenden betrifft, sind übergreifende Befunde schwer festzumachen. Indizien für offenen Widerstand gegen zunehmende ideologische Zugriffe jedenfalls hat die Autorin nicht gefunden und stellt als Nuance von Distanzierung allenfalls einen Rückzug ins "Rein-Musikalische" fest (184). Eine analog zum Denkmalssturz in der Stadt Leipzig von Studierenden betriebene Entfernung der Büste des Gründers Felix Mendelssohn Bartholdy im Landeskonservatorium spricht, wie auch einzelne Quellenfunde für vielfache Regimeaffinität. Aufschlussreich ist zudem ein Exkurs zu dem glühenden NS-Agitator Helmut Bräutigam, der als Schulungsleiter des NSD fungierte und unter anderem als Komponist von Soldatenliedern im Auftrag der Wehrmacht eine kometenhafte Karriere startete.
Hinsichtlich des Lehr- und Studienbetriebs kann Goltz zahlreiche Indikatoren für eine massive Indoktrinierung aufzeigen, die sich nicht auf Veranstaltungen wie Semesterappelle, Winterfahrten, ideologische Erziehungsarbeit und den Gebrauch von Liederbüchern der HJ bei Freizeitaktivitäten des NSD beschränkten. Nicht nur wurden, kulturpolitischen Vorgaben folgend eine Abteilung "Volksmusik" gegründet (174) und Lehrveranstaltungen zur Erb-, Rassen- und Weltanschauungslehre in das Curriculum aufgenommen. Sogar in Kernfächer wie der Musiktheorie nistete sich die NS-Ideologie ein (181). Eilfertig wurden auch Vorgaben hinsichtlich des Repertoires umgesetzt. Goltz zeigt, dass in der Bibliothek rund 10,5 % der Bestände mit einem roten "N" für "Nichtarier" gebrandmarkt und sekretiert wurden, darunter alle Werke der lange heroisierten Gründergestalt.
Als besonderes Kuriosum mutet an, dass die Autorin im Kirchenmusikalischen Institut einen geradezu grotesk anmutenden Grad an Selbstgleichschaltung feststellen kann. Einer zeitgenössischen Quelle zufolge griff dort "in echt nationalsozialistischem Geist ein Rad ins andere", zudem dominierten die Kirchenmusik-Studierenden den NSD und eiferten besonders beim Abbruch des Mendelssohn-Denkmals (207). Gleichwohl wurde das Institut nach dem Übergang zur Staatlichen Musikhochschule abgewickelt. Erhellend ist auch ein differenzierter Exkurs zum wohl bereits 1926 der NSDAP beigetretenen Thomaskantor und am Landeskonservatorium lehrenden Karl Straube (209-232), dem in Leipzig lange ein ungetrübter Nachruhm zuerkannt wurde.
Mit der Transformation zur "Staatlichen Hochschule für Musik, Musikerziehung und darstellende Kunst" 1941 ging auch de jure eine Ausrichtung auf Staats- und Parteinähe einher. Satzungsgemäß erfolgte eine Neustrukturierung "im nationalsozialistischen Geist" (267), auch HJ-Musikerzieher musste die Hochschule nun ausbilden. Es folgte ein Schub neuer Dozenten, meist mit Parteibuch (276), zumal die Berufungs- und Titelpolitik insgesamt klar an der Loyalität zum Regime ausgerichtet war (322f.) und "unpolitische Künstler" nicht zu Professoren aufstiegen. Bezeichnend ist, dass der Direktor Walther Davisson aufgrund von Denunziationen aus dem Kollegenkreis über unwahre Aussagen zu seiner "arischen Abstammung" (284) gezwungen war, seinen Posten zu räumen. Die politische Haltung seines Nachfolgers, des Komponisten Johann Nepomuk David diskutiert die Autorin zwischen den Deutungspolen oppositionelles Opfer und parteiaffiner Gestalter behutsam abwägend (294f.).
Maren Goltz ist auf Grundlage eines enormen Recherchefleißes eine eindrückliche, quellensatte Studie gelungen, die überdies durch Quellenbeigaben ergänzt und mit einem Personenregister sehr hilfreich erschlossen wird. Dass Hypothesen und Teile des Erkenntnisinteresses zwar implizit zugrunde liegen, aber nicht explizit reflektiert und als Kontexte aufzeigendes Forschungsprogramm dargelegt werden, tritt demgegenüber in den Hintergrund, ebenso die Unklarheit, dass die Autorin zwar von "soziopolitischen" kaum aber von kulturpolitischen Rahmenbedingungen spricht. Die Fülle des dargebotenen Materials und die analytische Eindringtiefe dieser verdienstvollen Forschungsarbeit sind bemerkenswert. Gewünscht hätte man sich zuweilen nur, dass die durchweg differenziert argumentierende Autorin ihre reichen Erträge noch entschiedener interpretiert hätte.
Anmerkungen:
[1] Hildegard Brenner: Die Kunstpolitik des Nationalsozialismus, Reinbek 1963, 273.
[2] Christine Fischer-Defoy: Kunst Macht Politik. Die Nazifizierung der Berliner Kunst- und Musikhochschulen in Berlin, Berlin 1991.
Andreas Linsenmann