Rezension über:

Klaus Berger: Kommentar zum Neuen Testament, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2011, 1051 S., ISBN 978-3-579-08129-8, EUR 44,00
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Rezension von:
Raphael Brendel
München
Redaktionelle Betreuung:
Mischa Meier
Empfohlene Zitierweise:
Raphael Brendel: Rezension von: Klaus Berger: Kommentar zum Neuen Testament, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2011, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 1 [15.01.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/01/21082.html


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Klaus Berger: Kommentar zum Neuen Testament

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Das Neue Testament bildet für den Althistoriker eine reichhaltige und wertvolle Quelle mit einer Fülle von Informationen. Neben seinem direkten Wert für die historische Person Jesus oder die frühchristliche Literaturgeschichte finden sich darin eine Vielzahl an Details zur Rechts-, Verwaltungs-, Sozial-, Wirtschafts- und Religionsgeschichte, die in dieser Fülle nur selten begegnet.

Der Band besteht fast ausnahmslos aus dem Kommentarteil (11-1049). Die Anordnung der einzelnen Abschnitte folgt dabei dem üblichen Schema: Matthäusevangelium (11-129), Markusevangelium (130-209), Lukasevangelium (210-318), Johannesevangelium (319-414), Apostelgeschichte (415-494), die Briefe vor allem des Paulus (495-982) und Johannesoffenbarung (983-1049). Darüber hinaus findet sich lediglich eine Seite Vorwort (9) und eine weitere Seite häufiger zitierter Literatur (1051). Jedem Kommentarblock vorangestellt ist eine Liste der antiken, mittelalterlichen und neuzeitlichen Kommentare zum Text und eine kurze Einführung, die sich hauptsächlich mit der Datierung und dem Adressatenkreis des jeweiligen Werkes befasst.

In seinem Vorwort kündigt Berger "eine durchgehende Neudatierung der frühchristlichen Schriften" (9) an. Die Ergebnisse (unter Auslassung der zahlreichen Briefe) lauten: Matthäus zwischen 50 und 60 (12), Markus spätestens 45 (130), Lukas (Evangelium und Apostelgeschichte, Verfasser identisch (416)) vor 68 (210-211), Apostelgeschichte etwa 66/67 (494), Johannes 68/69 (321), Johannesoffenbarung vor 70 (984).

Bei all seinen Qualitäten ist Bergers Werk nicht frei von Schwächen. Um zunächst die allgemeinen Kritikpunkte zu nennen: Die zu Beginn jedes Teilkommentars angegebene Kommentarliteratur, die beispielsweise im Fall des Matthäusevangeliums von "Theodor v Heraclea (350)" bis zu "Vahrenhorst (2002)" reicht, beschränkt sich meist auf die Angabe von Autor und Abfassungszeit; Editionen werden für gewöhnlich nicht genannt und wenn doch, nimmt dies manchmal groteske Züge an: So wird für den 983 angeführten Kommentar des Augustinus zur Johannesoffenbarung eine Ausgabe aus dem Jahr 1562 genannt. Die Literaturliste besteht aus genau acht Titeln, davon stammen fünf von Berger selbst. Der nicht die einzelnen Stellen, sondern meist größere Abschnitte diskutierende Kommentar lässt immer wieder einzelne Partien vollständig aus (35 folgt Mt 5,27-30 auf 5,22, 201 folgt Mk 14,58 auf 14,38, 298 folgt Lk 21,32-33 auf 21,22). Ein einleitend vorangestellter Text, ob im Original oder in Übersetzung, fehlt; der Leser wird lediglich im Vorwort auf die verwendete Ausgabe und eine vorausgesetzte ältere Übersetzung verwiesen. Register jeglicher Art fehlen. Wünschenswert gewesen wäre neben der Zusammenstellung der Kommentare auch eine der Parallelüberlieferung in Form der apokryphen Evangelien.

Bergers Werk ist durch und durch das eines Theologen. Das führt dazu, dass seine Vorgehensweise nicht selten für den Historiker wenig zufriedenstellend, ja stellenweise unzureichend wirkt. [1] Die Diskussion einiger Passagen mag dies verdeutlichen.

Die ausführlichen Darlegungen zur Beruhigung des Sturmes in Mk 4,35-41 (156-158) gehen gerade nicht auf die erwägenswerte Deutung, dass Jesus hier zugleich als Bezwinger Poseidons dargestellt wird, ein. [2]

158-159 zu Mk 5,1-20 wird der berühmte Satz "Mein Name ist Legion" (Mk 5,9) nur kurz mit der Bemerkung abgehandelt, diese Geister "deuten das unheilvolle Wesen heidnischer Unreinheit im Lande an" (159), ohne die unverkennbaren politischen Hintergründe dieser Stelle auch nur ansatzweise zu verdeutlichen. [3]

Die Speisung der Fünftausend in Mk 6,32-44 wird 163-164 analysiert. Bergers Ausführungen erweisen sich hier vor allem zu den alttestamentarischen Vorbildern und den Unterschieden in den Berichten der Evangelien als nützlich; über die von ihm vermuteten Anspielungen lässt sich streiten. Auf die sich aus der Episode ergebenden wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Fragen erhält der Leser jedoch keine Antwort.

203 zu Mk 15 wird an keiner Stelle auf den (ansonsten offensichtlich nicht belegten und daher umstrittenen) Brauch der Paschaamnestie in Mk 15,6 eingegangen.

309 diskutiert Lk 23,6-16 und in diesem Zusammenhang die Feindschaft zwischen Herodes Antipas und Pontius Pilatus (Lk 23,12). Die Ausführungen dazu bleiben leider ebenso "an der Oberfläche", wie das Berger für die Hintergründe dieses wechselnden Verhältnisses postuliert. Erschwerend kommt hinzu, dass er diesen Abschnitt offenbar als zuverlässigen Bericht ansieht, obwohl alleine die (von ihm selbst erkannten) vielen Unklarheiten dieser Stelle dies unwahrscheinlich machen. [4]

Apg 17,5 berichtet davon, dass die Juden von Thessaloniki einige (negativ beurteilte) Männer vom Markt holen und mit deren Hilfe einen Aufstand gegen Paulus und seine Anhänger verursachen. Bereits aus diesen Informationen lässt sich viel ermitteln: Ist die Angabe unhistorisch, hätte sie dennoch einen Wert als literarisches Zeugnis antijüdischer Polemik des aufstrebenden Christentum. Ist der Bericht historisch (oder zumindest realistisch), lässt sich ihm noch mehr entnehmen: Interessant ist beispielsweise die Möglichkeit, Tagelöhner - denn um solche handelt es sich zweifellos - nicht nur für landwirtschaftliche Arbeiten (dazu anschaulich Mt 20,1-7), sondern auch als Stör- und Kampftrupp einzusetzen. Auch lässt deren Anwerbung Rückschlüsse auf die (wohl eher geringe) Zahlenstärke der Juden in Ephesos zu. Auf diese Textstelle geht Berger im entsprechenden Abschnitt (473) nicht einmal ein.

In den Darlegungen 480-481 zu Apg 19,18-40 (Paulus in Ephesos) werden wirtschaftsgeschichtliche Aspekte zu den Silberschmieden in Ephesos immerhin gestreift. Als eindeutiges Zeugnis für die richtig erkannten Einbußen heidnischer Kulte durch die Ausbreitung des Christentums wäre etwa noch der berühmte Pliniusbrief 10,96 zu nennen. Die Bezeichnung des meist als "Stadtschreiber" übersetzten Beamten in Apg 19,35 als "Stadtdirektor" (190) erscheint eher unpassend.

Besonders unerfreulich ist die weitgehende Auslassung außerbiblischer Evidenz, wie sie sich 476 zu Apg 18,1-6 zeigt. Das Edikt des Claudius wird nur im ersten Satz kurz gestreift und auf die Angabe von relevanten Quellenbelegen vollständig verzichtet.

Zur Datierung des Markusevangeliums: Bergers Argument gegen eine Abfassung nach 70 auf Basis der Ankündigung in Mk 13,2 lautet lediglich "Die Zerstörung des Tempels ist vorhersehbar" (130). Das wäre allenfalls dann vertretbar, wenn eine Abfassungszeit nach dem Beginn des jüdischen Aufstandes angenommen würde. Setzt man die Mk 14,58 belegten Zeugenaussagen über ähnliche Aussprüche Jesu als historisch an, würden diese dagegen ein wirkliches Argument bedeuten, da dann auch Mk 13,2 als historischer Ausspruch anzusehen und eine Datierung auf dieses Basis nicht möglich wäre. Eine Frühdatierung des Markusevangeliums ist gewiss nicht unmöglich, aber nicht mit den von Berger genannten Argumenten. Bei der Datierung der Apostelgeschichte ist noch zu beachten, dass der 416 gebotene Querverweis nicht auf 488, sondern auf 494 verweist; die entsprechende Bibelstelle ist 416 aber korrekt angegeben.

Das soll nun nicht heißen, dass Bergers Kommentar für den Historiker nicht zu verwenden ist. Wiederholt finden sich auch Partien, deren Lektüre eine lohnenswerte ist. Ein gutes Beispiel ist 479-480 zu Apg 19,13-17, worin Berger anlässlich eines Exorzismus des Paulus eine knappe wie informative Zusammenstellung der Hauptmerkmale des antiken Exorzismus auf Basis des Neuen Testaments bietet. Auch die bereits erwähnten Sammlungen der Kommentare zu den einzelnen biblischen Schriften dürfte sich als ausgesprochen nützliches Hilfsmittel erweisen.

Nun ist die Frage zu stellen: Lohnt es sich für den Althistoriker - von theologischer Seite mögen sich Fähigere äußern [5] -, Bergers Kommentar zu verwenden? Das kommt darauf an, mit welcher Fragestellung man an das Neue Testament herangeht. Wer den eingangs genannten Detailreichtum nutzen will, wird den Band enttäuscht zur Seite legen und sollte besser auf die Studien von Althistorikern, die sich um die Erarbeitung des Neuen Testaments bemühen, zurückgreifen. Wer sich mit der Rezeptionsgeschichte einzelner Texte befassen will, stößt auf nützliche Zusammenstellungen, die aber über die Materialsammlung hinaus wenig bieten und zudem die apokryphen Evangelien aussparen. Wer sich mit der Erforschung des historischen Jesus auseinandersetzt, wird dem Band immer wieder Anregungen und Ergänzungen entnehmen können, ihn aber nicht stets griffbereit haben müssen. Wem es um die Erarbeitung des Neuen Testaments als literarisches Werk seiner Zeit geht, dem liegt damit eine nützliche Ergänzung vor. Zusammengefasst also: Bedingt zu empfehlen.


Anmerkungen:

[1] Um den Leser dieser Rezension nicht von falschen Voraussetzungen ausgehen zu lassen, sei darauf hingewiesen, dass Bergers Kommentar durch den Verlag der Redaktion der Sehepunkte zugesandt wurde und der Rezensent (zu einem erheblich späteren Zeitpunkt) dieses Werk überhaupt erst als Folge dessen übernommen hat. Damit und da Berger darauf verweist, dass er die "bekannten historischen" Methoden verwendet (9), ist gerechtfertigt, dass dieser Kommentarband auch an den Maßstäben der historischen Wissenschaft gemessen wird.

[2] Kay Ehling: Jesus bezwingt Poseidon. Der See Gennesaret, die Stillung des Sturmes bei Markus 4, 35-41 und die Münzen von Tiberias, in: Jahrbuch für Numismatik und Geldgeschichte 57 (2007), 41-52.

[3] Matthias Klinghardt: Legionsschweine in Gerasa, in: Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft 98 (2007), 28-48 und Markus Lau: Die Legio X Fretensis und der Besessene von Gerasa, in: Biblica 88 (2007), 351-364, die beide eine Anspielung auf die Legio X Fretensis feststellen; siehe ergänzend den Überblick von Ruben Zimmermann: Sehepunkte zur Wundererzählung vom Besessenen aus Gerasa, in: Biblische Notizen N.F. 152 (2012), 87-115.

[4] Kay Ehling: Auch eine Frage des Protokolls? Überlegungen zur Feindschaft/Freundschaft zwischen Herodes Antipas und Pontius Pilatus (Lk 23, 12); in: Biblische Notizen N.F. 146 (2010); 101-105 nimmt als Grund für die Feindschaft das Unterlassen eines Antrittsbesuches bei Pilatus und als Grund für die Verständigung ein protokollarisch angemessenes Treffen in Jerusalem an; das Verhör Jesu vor Herodes Antipas ist nach Ehling ein unhistorisches Konstrukt des Evangelisten.

[5] Hier wurde Bergers Band bislang mit Wohlwollen, aber nicht ohne Kritik aufgenommen. Sieht man von online auffindbaren knappen Besprechungen für ein breites Publikum durch Radiosender (Radio Vaticana, ERF), Blogs (Der schwache Glaube) und Zeitschriften (Christ in der Gegenwart) ab, sind folgende Rezensionen zu nennen: Andreas Lindemann, in: Theologische Rundschau 77 (2012), 393-400; Boris Repschinski, in: Zeitschrift für katholische Theologie 134 (2012), 491-492. Nicht mehr konsultiert werden konnte die Rezension von Franz Graf-Stuhlhofer, in: Jahrbuch für evangelikale Theologie 25 (2011), 266.

Raphael Brendel