Şeyda Ozil / Michael Hofmann / Yasemin Dayιoğlu-Yücel (Hgg.): 51 Jahre türkische Gastarbeitermigration in Deutschland (= Türkisch-deutsche Studien; Jahrbuch 2012), Göttingen: V&R unipress 2012, 187 S., ISBN 978-3-8471-0045-4, EUR 30,90
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Der vorliegende dritte Band des Jahrbuchs "Türkisch-deutsche Studien" entstand aus dem Projekt "Türkisch-deutscher Kulturkontakt und Kulturtransfer", an der die Germanistik-Abteilungen der Universitäten Istanbul und Paderborn beteiligt waren. Das Projekt ergab sich aus der Beobachtung, dass trotz der historisch gewachsenen Verbindungen in verschiedenen Bereichen weiterhin zahlreiche Missverständnisse auftreten, und sollte konzeptionell prüfen, inwieweit sich Theorien aus der Interkulturellen Kommunikation, der Literatur- bzw. Medientheorien mit Theorien aus dem Bereich der Linguistik kombinieren lassen. Auch wenn dieses Projekt ausgelaufen ist, besteht das Jahrbuch fort; der hier besprochene dritte Band enthält Beiträge aus verschiedenen Disziplinen und ermöglicht gute Einblicke in die deutsch-türkische Forschungswelt.
Dem einleitenden Vorwort der drei Herausgeber folgen sechs Aufsätze. Den Auftakt macht Heike Knortz mit ihrer umstrittenen These, die Anwerbung der Arbeitsmigranten sei das Ergebnis außenpolitischer Erwägungen gewesen und nicht - wie von der Forschung sonst zumeist behauptet - eine Folge der arbeitsmarktpolitischen Situation während des "Wirtschaftswunders". Anhand von Dokumenten des Auswärtigen Amts versucht Knortz herauszuarbeiten, wie vor allem die Türkei Druck auf die Bundesregierung ausgeübt habe; Ausländerpolitik erscheint so bis 1973 als Außenpolitik. Dass Anfragen für Anwerbeabkommen mit der Bundesrepublik aus zahlreichen Ländern kamen, ist dokumentiert und bekannt, doch Knortz schwächt die wirtschaftliche Notwendigkeit extrem ab und argumentiert, dass "sämtliche Initiativen für den Abschluss der verschiedenen Vereinbarungen ausschließlich vom Ausland ausgingen"; das "Attribut 'Anwerbung'" sei somit "irreführend" (18).
Myriam Geiser untersucht in ihrem Beitrag den scheinbaren Widerspruch in der deutsch-türkischen Migrationsliteratur zwischen engagierter Literatur und literarischer Ästhetik. Anhand von Beispielen aus den Werken von Emine Sevgi Özdamar, Zafer Şenocak, Feridun Zaimoğlu, Yadé Kara, Şener Saltürk und Hilal Sezgin betont sie die Inszenierung der Selbstbehauptung in deutsch-türkischen Texten. Dabei beleuchtet sie die im Migrationskontext virulente Debatte um die Literarizität der Texte vor dem Hintergrund des Bourdieuschen Autonomie-Begriffs. Geiser spricht sich gegen pauschalisierende Lektüre und für die Autonomie der Werke aus, die hinter ihrer kollektiven politischen Wirkung zu erkennen ist. Leser sollen die Wahl haben zwischen einer ideologischen Lektüre, "die die Konstruktion stereotyper Bilder fortsetzt, und der Wahrnehmung individueller literarischer Gestaltung von Brüchen und Diskontinuitäten" (54).
Christian Dawidowski untersucht die Darstellung von Türken und der Türkei in (west-)deutschen Lesebüchern seit dem Beginn der türkischen Arbeitsmigration mit dem Ziel, die Gesellschaft als das "Reservoir ihrer Weltanschauungen und ihrer geistig-kulturellen Verfasstheit" darzustellen (58). Insgesamt hat Dawidowski 100 Lesebücher aller Schularten und Jahrgangsstufen ausgewertet, und es ist ebenso spannend wie beängstigend zu sehen, welches Bild von türkischen Migranten gezeichnet wurde und wie sich dieses Bild seit 1970 verändert hat.
Einen Überblick über die Repräsentationsformen der Migration im türkischen Kino gibt Ersel Kayaoğlu. Dabei listet er in zwei Tabellen alle türkischen Filme zwischen 1966 und 2012 auf, in denen (West-)Deutschland implizit oder explizit als Schauplatz eine Rolle spielte. Tragik, Nationalstolz, Unterdrückung und ein stereotypes Bild der Deutschen und ihrer Kultur mit dem immer gleichbleibenden Gastarbeiterbild konnte Kayaoğlu in der Mehrzahl der türkischen Filme entdecken. Dieser Beitrag ermöglicht einen Einblick in die türkische Filmwelt und leistet einen nötigen Beitrag zur Analyse des türkischen Films.
Olivia Landry stellt eine Untersuchung zum Migrationstheater vor und sieht die zwei Stücke von Nurkan Erpulat "Verrücktes Blut" und "Clash" als Antworten auf Thilo Sarrazins umstrittenes Buch "Deutschland schafft sich ab". Sie analysiert die Darstellung der türkischen Jugendlichen in den beiden Theaterstücken und zeigt einen neuen Schauplatz der Kritik an der Integrationspolitik in Deutschland. Erpulat holt mit seinen Stücken die politischen und gesellschaftlichen Diskussionen über die "Jugend mit Migrationshintergrund" auf die Bühne und eröffnet so einen neuen Raum für Protest und gemeinsames Lernen.
Mit dem Instrumentarium der Gesprächsanalyse und der Gesprächstheorie untersucht Ibrahim Cindark den kommunikativen Umgang der "emanzipatorischen Migranten" mit Diskriminierungs- und Marginalisierungserfahrungen. Als "emanzipatorische Migranten" sieht Cindark die Angehörigen der zweiten Einwanderergeneration, "die sich offensiv mit Rassismus der Mehrheitsgesellschaft auseinandersetzen und sich nicht über die Herkunftsländer und ihre Eltern bzw. Großeltern definieren" (123). In seiner ethnografischen Fallstudie über die Mannheimer Gruppe der "Unmündigen", deren Gründungsmitglieder ausschließlich aus der Türkei stammen, fragt er insbesondere nach dem Umgang mit Rassismen.
Neben den Aufsätzen gibt das Jahrbuch auch Nachwuchswissenschaftlern Raum, ihre laufenden Forschungsarbeiten zu präsentieren. Annegret Warth und Steffen Amling stellen ihre Arbeit zu "Orientierungen zu Zugehörigkeiten in jugendlichen Peer-Groups im internationalen Vergleich Deutschland/Türkei" vor und erhalten damit die Möglichkeit, ihre Arbeit einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Somit bietet das Jahrbuch nicht nur spannende Berichte aus verschiedenen Disziplinen, sondern auch Forschungen junger Wissenschaftler, über die man sonst schwerlich etwas erfahren würde.
Sakine Yildiz