Patrick Gautier Dalché: L'espace géographique au Moyen Âge (= Micrologus Library; 57), Firenze: SISMEL. Edizioni del Galluzzo 2013, X + 464 S., ISBN 978-88-8450-501-9, EUR 88,00
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Über die letzten Jahrzehnte hat sich Patrick Gautier Dalché in einer Vielzahl von Forschungsbeiträgen als ausgezeichneter Kenner mittelalterlicher Geographien und Raumvorstellungen erwiesen. Dieser Status geht nicht zuletzt auf seine hervorragenden Monographien und Editionen zurück, in denen er die Descriptio mappe mundi überzeugend dem Theologen Hugo von Sankt Viktor und andere Texte dem Chronisten Roger von Howden zuschreiben konnte. Zuletzt legte er eine grundlegende Neubewertung der Rezeptionsgeschichte von Ptolemäus' Geographia vor. All diese Monographien beruhen auf langjähriger Forschung zu diesen Themen, die immer wieder in einzelnen Aufsätzen in Zeitschriften und Sammelbänden ihren Niederschlag gefunden hat. Da viele dieser Publikationen weit verstreut veröffentlicht wurden, ist es sehr zu begrüßen, dass Sismel in Florenz in der Reihe Micrologus' Library nun eine Auswahl der wichtigsten Beiträge dieses renommierten Autors vorlegt.
Die hier versammelten Aufsätze behandeln, wie es für Gautier Dalché typisch ist, vor allem Texte und nicht Karten. Mittelalterliche Raumdarstellungen sind, wie schon der Bucheinband hervorhebt, eben nicht als Vorstufen moderner Geografie zu verstehen. Deren Ursprünge liegen vielmehr in der Renaissance und im Zeitalter der Entdeckungen. In Karten und geografischen Beschreibungen aus dem Mittelalter standen Symbolik und Wertvorstellungen immer viel mehr im Vordergrund, aber eben nicht nur das: im Laufe des späten Mittelalters wurde auch dem praktischen Nutzen von Karten und geografischem Schrifttum mehr Bedeutung beigemessen. Die mittelalterlichen Deutungen des Raumes als symbolische und nicht zuletzt soziale Kategorie, aber auch die Vorstellungswelten, die sich aus späteren Texten ablesen lassen, standen über Jahrzehnte immer wieder im Zentrum des Interesses dieses Forschers.
Der Band versammelt 20 Aufsätze, die Gautier Dalché an verschiedenen Orten zwischen 1982 und 2010 publiziert hat. Die Breite seines Œuvres zur mittelalterlichen Geographie bringt es mit sich, dass man keine umfassende thematische Kohärenz der versammelten Beiträge erwarten darf, die über das gemeinsame Interesse am Raum hinausgehen. Der Band verteilt die einzelnen Aufsätze aber auf vier Hauptabschnitte, die dem Ganzen doch eine gewisse Struktur geben. So wurde auch auf eine chronologische Anordnung verzichtet, aus der man einen Entwicklungsüberblick über das Schaffen des Autors hätte gewinnen können (wobei sich ein solcher aber zumindest teilweise aus der Auflistung der Erstveröffentlichungen (x) erschließen lässt). Das aber ist natürlich auch nicht die eigentliche Absicht des Bandes.
So gliedert sich das Buch in die erwähnten vier Abschnitte, die nacheinander generelle Überlegungen, Texte, Räume und Wissen behandeln. Die Gliederung ist natürlich sehr grob, und einzelne Aufsätze hätten sicher auch in einer anderen Kategorie ein Zuhause gefunden. Das ist aber keine Kritik an der Gliederung, sondern hebt vielmehr die umfassende Vielseitigkeit der Beiträge hervor.
Nachdem der erste Teil übergreifende Fragen behandelt, sind die folgenden Abschnitte nicht zuletzt deshalb von Bedeutung, weil sie die generellen Ansätze kontextualisieren und Einzelergebnisse präsentieren, die den einleitend vorgelegten Erörterungen zu Grunde liegen. So erweist sich Gautier Dalché sowohl bei den großen Fragen wie auch bei Detailerwägungen als profunder Kenner der Materie, der generelle Vorstellungswelten und deren Wandel, wie auch textkritische Detailfragen gleich souverän und mit ausgewogener Urteilskraft behandelt.
Dem ersten Abschnitt ("caractères généraux") kommt sicherlich die größte Bedeutung zu, da hier die Überlegungen zusammengestellt sind, die Gautier Dalchés Themen in grundlegender Weise erörtern. Hier zeigt er, wie mittelalterliche Raumvorstellungen zwischen ihren antiken Vorlagen und modernen Missverständnissen auf uns gekommen sind. Er zeigt, wie sich die Autoren des Hochmittelalters allmählich von ihren antiken Autoritäten emanzipierten und eigene Vorstellungen entwickelten. Er zeigt aber auch, wie die mittelalterlichen Vor- und Darstellungen von der Moderne zur Kontrastierung eigener Fortschritte auf simplistische T-O-Karten reduziert wurden.
Der zweite Abschnitt ("textes") geht hier ins Detail und nimmt die gegenseitige Abhängigkeit verschiedener Texttraditionen in den Blick. Hierbei kann der Autor immer wieder überzeugend darlegen, welche Quellen die Autoren einzelner geographischer und kosmographischer Traktate in ihrer Arbeit benutzt haben. Mehrfach stellen die Beiträge Texte vor, die bis dahin weitgehend unbekannt waren, und Gautier Dalché legt diese in kritischen Editionen der Forschung vor, oder diskutiert neue Datierungen. Der dritte Abschnitt ("espaces") zeigt dann erneut und im Detail, wie Autoren des Mittelalters sich allmählich von klassischen Vorbildern lösten und eigene Innovationen einbrachten. Hier lässt sich als Beispiel insbesondere Adam von Bremen hervorheben, der in der Darstellung der Weltenden seinen Vorbildern verhaftet blieb, wenngleich er an anderer Stelle mit neuen Sichtweisen hervortrat.
Im vierten und letzten Abschnitt ("savoirs") nähern sich die versammelten Aufsätze stark den Forschungsinteressen an, die Gautier Dalché in seinen Monographien vorgelegt hat, insbesondere zur Rezeptionsgeschichte des Ptolemäus. Diese Beiträge fragen stärker noch als die vorhergehenden nach dem geographischen Wissen, über das einzelne Autoren verfügten, und aus welchen Quellen sie dies bezogen. Sie beleuchten die Bekanntheit und in gewissem Sinne das Nachleben einzelner geographischer Texte. Erneut treten hier die hochmittelalterlichen Neuerungen zentral hervor, welche die Intellektuellen Europas zu immer weiter gehender Emanzipation von antiken Vorlagen befähigten.
Der Band endet mit ausführlichen Registern von Autoren und Handschriften, nicht aber - und dies mag zunächst überraschen - einem Ortsregister. Dies aber spiegelt wieder die Interessen Gautier Dalchés wider, in denen Texte und imaginierte Räume stets mehr hervortraten als Karten und konkrete geographische Regionen. Das Bestreben, eben die mittelalterlichen Bedingungen geographischen Wissens gegenüber modernen Vorurteilen hervorzuheben, zieht sich durch den gesamten Band. Das Mittelalter stellte sich die Welt eben nicht nur zwischen T und O vor, wie es viele moderne Beobachter gerne postulierten. Andererseits war mittelalterliche Geographie auch keine Vorform der modernen, sondern eine Geographie in anderer Form. Sie so in das ihr zustehende Licht gerückt zu haben wäre allein schon Verdienst genug. Darüber hinaus ist der Band aber unverzichtbare Lektüre für alle, die sich in der Zukunft mit mittelalterlichen Räumen und Raumvorstellungen beschäftigen werden.
Thomas Foerster