Philipp Lenhard: Volk oder Religion? Die Entstehung moderner jüdischer Ethnizität in Frankreich und Deutschland 1782-1848 (= Religiöse Kulturen im Europa der Neuzeit; Bd. 4), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, 413 S., ISBN 978-3-525-31025-0, EUR 79,99
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Volk oder Religion - was überwog im innerjüdischen Emanzipationsdiskurs in den Jahren 1782 und 1848? Das ist die zentrale Frage, der Philipp Lenhard in seinem Werk nachgeht. Entstanden ist das Buch als Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ziel Lenhards ist es, die Geschichte der Modernisierung des Judentums aus Sicht der Juden selbst in den Blick zu nehmen. Seine zentrale These lautet, dass jüdische Ethnizität im Verlauf des Modernisierungsprozesses des Judentums eine entscheidende Rolle spielte. In diesem Diskurs hätten Juden trotz aller Forderungen von staatlicher, nichtjüdischer und jüdischer Seite das Judentum nicht mehr als Nation oder Volk definiert. Gleichwohl hätten sie zu ethnischen Konzepten gegriffen, um das Judentum in die Moderne zu transformieren, um es kongruent für den im Entstehen begriffenen Nationalstaat zu machen.
Methodisch liegt Lenhards Schwerpunkt insofern auf den jüdischen Akteuren in einer vergleichenden Perspektive der Emanzipationsdebatten in Frankreich und im deutschen Sprachraum. In sicherer Kenntnis der historischen Entwicklung der jüdischen Emanzipation begründet er diesen Vergleich mit der engen und gegenseitigen Verwobenheit des Modernisierungsdiskures zwischen diesen beiden europäischen Regionen seit der Aufklärungszeit. Die Wegmarken seiner Studie bilden mit dem beginnenden Wirken Moses Mendelssohns und der Revolution von 1848 zentrale Wendepunkte in der Debatte um die Judenemanzipation. Sein Quellenkorpus besteht aus unterschiedlichen Textsorten, die aber dennoch alle aus jüdischer Hand stammen. Auf diese Weise will der Autor die Vielstimmigkeit der Debatte einfangen und "die Schraffur des Bildes, das von der jüdischen Moderne gezeichnet wird", bestimmen (23).
In den ersten beiden Hauptkapiteln nimmt der Autor neben der inhaltlichen und methodischen Abgrenzung des Themas eine Definition der Begrifflichkeiten 'Tradition' und 'Moderne' sowie 'Identität', 'Kollektivbewusstsein' und 'Ethnizität' vor. Hierbei webt er geschickt den Forschungsstand zum Thema ein. Lenhard skizziert dann den jüdischen Kontext seiner Studie, indem er instruktiv die jüdische Lebenswelt in der Frühen Neuzeit vor allem im 18. Jahrhundert skizziert. Dabei berücksichtigt er auch die Debatte über Juden am ausgehenden 18. Jahrhundert, indem er die Entstehung der Völker- und Rassenlehre im Spannungsfeld von Aufklärung und entstehendem Nationalismus darlegt. Dabei war laut Lenhard die Französische Revolution und die Herrschaft Napoleons über Europa ein Fanal für die Juden, da beide "die traditionelle Selbstbeschreibung der Juden als Gottesvolk obsolet machte und sie zu unsicheren Kantonisten im Eifer des nationalen Aufbruchs abstempelte" (114). Die jüdische Gemeindeautonomie wurde sukzessive abgeschafft, die Juden sollten jedes ethnische Bewusstsein ablegen und sich nur noch als Glaubensgemeinschaft verstehen. Dieses Urteil macht Lenhard zum Ausgangspunkt dafür, um zu zeigen, wie hierauf Juden in Frankreich und im deutschen Sprachraum mit unterschiedlichen Konzepten reagierten. Im Zentrum stand dabei die Frage, was einen Juden in der Moderne ausmache.
Der in der Studie akribisch nachgezeichnete Diskurs über die Modernisierung des Judentums kann hier gar nicht im Detail wiedergegeben werden, liest sich aber von der ersten Seite an luzide und spannend zugleich. Der Leser erhält in vier Hauptkapiteln einen facettenreichen Einblick in die unterschiedlichen zeitgenössischen, zum Teil im Vergleich zueinander invarianten jüdischen Neu- oder Umdefinitionen des Judentums und vollzieht in dieser Debatte die heftigen Auseinandersetzungen über den einzuschlagenden Weg der Modernisierung des Judentums nach, die auch von persönlichen Animositäten der jeweiligen Zeitgenossen geprägt waren. Dabei wird klar, dass die diesbezüglichen Konzepte zwischen einer mehr oder minder stark ausgeprägten Bewahrung jüdischer Tradition und radikalen Reformvorschlägen schwankten. Letztere reichten von der Einschätzung des Judentums als vormodernem Aberglauben über seine Definition als eine bloße Religion oder gar Konfession bis hin zur völligen Enttraditionalisierung als bloße ethische Kategorie gepaart mit ethnischen Vorstellungen. Am Ende stand sogar die Konversion, wobei die Konvertiten sich als Abstammungsteil eines "jüdischen Stammes" ansahen. Allen Akteuren war gemeinsam, dass sie neben traditionellen Vorstellungen auf jeweils zeitgenössische philosophische, anthropologische und religiöse Denkweisen zurückgriffen und das jüdische Volk in seiner Ethnizität herausstellten. Aber auch diese ethnisch definierten Formen des Judentums unterschieden sich voneinander oftmals diametral. Diese uneinheitliche Verwendung des Ethnizitätsbegriffes muss insofern stets mit der Intention des jeweiligen Autors abgeglichen werden.
Das Werk Lenhards kann die bisherigen Veröffentlichungen zur Debatte um die jüdische Emanzipation insofern in Vielem ergänzen, als dass es sie vor allem konsequent aus jüdischer Perspektive in den Blick nimmt und ein sehr facettenreiches Bild dieser innerjüdischen Debatte nachzeichnet. Gleichwohl muss der Rezensent dennoch einige Dinge anmerken. Hierbei soll von einigen Unebenheiten bei der Übersetzung vom Hebräischen ins Deutsche einmal abgesehen werden (dina demalchuta dina heißt "Das Gesetz des Königs ist Gesetz"). Ebenso marginal erscheint, dass das Werk Lenhards zwar unbedingt auf der wichtigsten Literatur zum Thema aufbaut, es allerdings das methodisch ähnlich ausgerichtete Werk des Rezensenten unbeachtet lässt. [1] So hätte es Lenhard nach einem Studium dieses Buches vermieden, an verschiedenen Stellen seiner Ausführungen den Begriff "amalgamieren" für die jüdische Debatte zu verwenden, da dieser aus der Feder Karl Theodor von Dalbergs stammt, der mit seiner Amalgamnationstheorie ein Assimilationsprogramm verfolgte, das dem christlich-bürgerlichen Judenhass der beginnenden Romantik geschuldet war. Zudem wäre der an sich gewinnbringende Vergleich zwischen der deutschen und französischen Debatte bei einer konsequenten Gegenüberstellung beider Debattenstränge im Sinne einer Herauspräparierung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden noch deutlicher in seinen inhaltlichen Ergebnissen geworden. An dieser Stelle gibt der Rezensent zu bedenken, ob eine Zuhilfenahme des self-fashioning-Konzeptes Stephen Greenblatts [2] der Herausarbeitung der divergierenden Selbstbeschreibungsprozesse der jüdischen Autoren mehr Schärfe gegeben hätte. Um die in ihrer inhaltlichen Bedeutung sehr divergierende Kategorie der Ethnizität besser zu fassen, hätte es als argumentativer 'roter Faden' im Sinne der Fragestellung dienen können. Hierzu wären auch zusammenfassende Zwischenkapitel hilfreich gewesen.
Abgesehen von diesen Monita erweist sich Lenhard als Kenner seiner Quellen und des Themas. Er erarbeitet stringent die Wirkung der Debattenbeiträge zur jüdischen Modernisierung auch für die Jahre nach 1848. Dieses Jahr markiert er zugleich als Wendepunkt der jüdischen Geschichte diesseits und jenseits des Rheins. Seine Analysen zeigen, dass reine "Assimilationskonzepte" dieser innerjüdischen Debatte nicht gerecht werden. Der Autor liefert damit weitere Anregungen für eine tiefergehende Beschäftigung mit der Thematik.
Anmerkungen:
[1] André Griemert: Bürgerliche Bildung für Frankfurter Juden? Das frühe Philanthropin in der Kontroverse um die jüdische Emanzipation (Wissenschaftliche Beiträge aus dem Tectum Verlag: Geschichtswissenschaft; 18), Marburg 2010.
[2] Stephen Greenblatt: Renaissance Self-Fashioning: From More to Shakespeare, Chicago 1980 (ND 2005).
André Griemert