Matthias Damm: Die Rezeption des italienischen Faschismus in der Weimarer Republik (= Extremismus und Demokratie; Bd. 27), Baden-Baden: NOMOS 2013, 424 S., ISBN 978-3-8487-0315-9, EUR 64,00
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Die vorliegende Arbeit, 2012 von der Philosophischen Fakultät der Technischen Universität Chemnitz als Dissertation angenommen, bewegt sich auf einem schon recht häufig, freilich in sehr verschiedenen Richtungen und Tiefen beackerten Forschungsfeld. Erinnert sei lediglich an die Monographien von Hoepke und Lönne [1], an etliche intensive Detailstudien [2], dazu an einige herausragende, weil die Forschung zusammenfassende und zugleich die Thematik in die Geschichte der Weimarer Republik einordnende Aufsätze [3]. Ferner sei erinnert an das neue Wege beschreitende Werk Wolfgang Schieders zur persönlichen Begegnung deutscher Intellektueller, darunter Publizisten und Schriftsteller, mit Benito Mussolini. [4]
Lässt sich auf einem solchen Feld also noch Neues ernten? Neues im Sinne "umstürzend neuer Einsichten" gewiss nicht (7: Vorwort der Reihenherausgeber Uwe Backes und Eckhard Jesse), wohl aber hinreichend viele Neuigkeiten en détail durch den Generalzugriff auf das gesamte politisch-publizistische Spektrum der Weimarer Republik zwischen 1922 und 1933, also von der Etablierung der ersten Regierung Mussolinis bis zum Beginn der Reichskanzlerschaft Adolf Hitlers. Dazu teilt Damm die veröffentlichte Meinung in sechs große politisch-weltanschauliche Lager auf: kommunistische und sonstige revolutionäre Linke, Sozialdemokratie und andere reformistische Gruppierungen, die bürgerliche Mitte, politische Katholiken, die konservative und völkische Rechte sowie die Nationalsozialisten. Ihnen ordnet er in Anlehnung an eine zeitgenössische Aufstellung [5] acht überregionale Tageszeitungen, 45 weitere Periodika (großenteils Wochen- und Monatsschriften), dazu zahlreiche politische Bücher über den Faschismus und das faschistische Italien zu.
Nach einer Skizze der "Selbstdarstellung der Faschisten in Deutschland" (58-88) konzentriert sich die Auswertung auf die "konkrete Rezeption des politischen Systems" (23) in seiner Entwicklung vor und nach der Matteotti-Krise 1924. Sie erfolgt mit Hilfe von bestimmten Rubriken (besonders "Werden und Wesen des Faschismus in Italien", "Mussolini", meist auch "Wirtschaftssystem des Faschismus") oder lagerspezifischen Rubriken je nach den besonderen Interessen am Faschismus und am faschistischen Italien (so etwa "Conciliazione", also die Lateranverträge von 1929 in der katholischen Presse). Die daher unvermeidliche Komplexität wird nochmals gesteigert, indem die Feinunterschiede innerhalb der Faschismuspublizistik jedes Lagers zumindest angedeutet, des Öfteren auch recht genau aufgedeckt werden. Zudem sollen lagerübergreifende Schnittmengen von Deutungen sowie Ambivalenzen und Wandlungen in den Ansichten einzelner Publizisten zur Kenntnis genommen werden. Das alles fordert die Aufnahmefähigkeit des Lesers wenigstens im selben Maße heraus wie die Darstellungskunst des Autors. Leider fehlt ein Namensregister, welches die nötigen und wohl auch erkenntnisgewinnenden Abgleichungen erheblich erleichtern könnte.
Festzuhalten ist, dass Damms Gesamtbild der deutschen Faschismuspublizistik auf Instrumentalisierungen hinweist (so auf den häufigen Versuch, Hitler mit Verweis auf Mussolini zu diskreditieren) und dabei die Fatalität der vor allem, aber keineswegs nur sozialdemokratischen Überzeugung, dass Deutschland nicht Italien sei, eindrucksvoll vorführt. Außerdem widerspricht Damm gut begründet auch der alten These, die liberal-bürgerliche Öffentlichkeit sei über zunehmende philofaschistische Ansichten reif für eine Akzeptanz der drohenden nationalsozialistischen "Machtergreifung" geworden.
Angesichts des gewaltigen Rechercheaufwands bei der Erschließung der publizistischen Quellen zögert der Rezensent, Defizite bei der Auswertung geschichtswissenschaftlicher Literatur auf neuerem Forschungsstand zu monieren, zumal er trotz einiger Bemühungen nicht hat herausfinden können, nach welchen Kriterien die Titel aus den 2030 Fußnoten für das Literaturverzeichnis ausgewählt worden sind. Es mag genügen, auf das Fehlen neuester deutscher Werke [6] hinzuweisen und die Nichtbeachtung einschlägiger italienischer Forschungsbeiträge [7] zu bedauern.
Damm neigt zu arg überzogenen Formulierungen. So zum Beispiel, womöglich hingerissen von der Überfülle einstiger politisch-publizistischer Auseinandersetzung mit dem faschistischen Italien: "Alle Deutschen mussten sich die Frage stellen, was der italienische Faschismus eigentlich war." (24) So zum weiteren Beispiel, wenn er schreibt, die NSDAP könne "über viele Strecken als P[artito]N[azionale]F[ascista]-Klon angesprochen werden". (397) Außerdem überschreitet Damm seine Deutungshorizonte, indem er etwa zum Schluss des Kapitels über die nationalsozialistische Faschismusrezeption (330-365) in eine Diskussion des Geredes vom "deutschen Faschismus" (362-365) unter kurioser Vermengung von zeitgenössischen und historiographischen Perspektiven eintritt, um dann im "Ausblick" (388-398) seiner "Schlussbetrachtung" (366-398) in Bezug auf kontroverse faschismus- und totalitarismustheoretische Erklärungsansätze ebenso vorzugehen. Kurzum: Über weite Strecken eine lohnende, allerdings auch spröde Lektüre. Zur Orientierung bei den von Damm aufgegriffenen großen Problemstellungen sollte auf andere Werke zurückgegriffen werden.
Anmerkungen:
[1] Klaus-Peter Hoepke: Die deutsche Rechte und der italienische Faschismus, Düsseldorf 1968; Karl-Egon Lönne: Faschismus als Herausforderung. Die Auseinandersetzung der "Roten Fahne" und des "Vorwärts" mit dem italienischen Faschismus 1920-1933, Köln 1981.
[2] Zum Beispiel Michael Funk: Das faschistische Italien im Urteil der "Frankfurter Zeitung" (1920-1933), in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 69 (1989), 255-311.
[3] Vgl. vor allem Jens Petersen: Der italienische Faschismus aus der Sicht der Weimarer Republik. Einige deutsche Interpretationen, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 55/56 (1976), 315-360; Wolfgang Schieder: Das italienische Experiment. Der Faschismus als Vorbild in der Krise der Weimarer Republik, in: ders.: Faschistische Diktaturen. Studien zu Italien und Deutschland, Göttingen 2008, 149-184 (zuerst in: Historische Zeitschrift 262 (1996), 73-125); Jens Fleming: "Durchbruch der Revolution". Die Linke, die Rechte und der italienische Faschismus in der Weimarer Republik, in: Italien und Europa. Festschrift für Hartmut Ullrich zum 65. Geburtstag, hg. von Annette Jünemann u.a., Frankfurt 2008, 91-106.
[4] Wolfgang Schieder: Mythos Mussolini. Deutsche in Audienz beim Duce, München 2013. Vgl. dazu meine Rezension, in: sehepunkte 14 (2014), Nr. 2 [15.02.2014], URL: http://www.sehepunkte.de/2014/02/22255.html. Damm hat die Ergebnisse selbstverständlich nicht mehr einarbeiten können, so u.a. die zum Fall Emil Ludwigs. Schieders Vorstudie aber ist ihm leider entgangen: Audienz bei Mussolini. Zur symbolischen Politik faschistischer Diktaturherrschaft 1923-1943, in: Italien, Blicke. Neue Perspektiven der italienischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, hg. von Petra Terhoeven, Göttingen 2010, 107-132.
[5] Gefunden bei Sigmund Neumann: Die Deutschen Parteien. Wesen und Wandel nach dem Kriege, Berlin 1932.
[6] So Wolfgang Schieder: Der italienische Faschismus 1919-1945, München 2010; Hans Woller: Geschichte Italiens im 20. Jahrhundert, München 2010.
[7] Unter anderem Federico Scarano: Mussolini e la Repubblica di Weimar. Le relazioni diplomatiche tra Italia e Germania dal 1927 al 1933, Neapel 1996. Scarano bietet anhand italienischer Akten sehr viele Einsichten in die faschistische Propagandaarbeit italienischer Politiker und Diplomaten.
Wolfgang Altgeld