Edmund Fawcett: Liberalism. The Life of an Idea, Princeton / Oxford: Princeton University Press 2014, XVII + 468 S., ISBN 978-1-4008-5003-7, USD 35,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
An Überblickswerken zum Liberalismus herrscht auch in deutscher Sprache eigentlich kein Mangel, selbst wenn sie sicherlich nicht so zahlreich sind wie in der angelsächsischen Welt. Dort ist dieses Buch des langjährigen Economist-Journalisten sehr breit rezipiert und oft überschwänglich gelobt worden. In der Tat stecken darin viele interessante und kluge, zum Teil auch überraschende Gedanken, vor allem wohl deshalb, weil es gerade keinen wissenschaftlichen Anspruch erhebt, sondern "eine Geschichte erzählen" will (XVII). Der Ausgangspunkt von Fawcett - wie er freimütig zugibt - ist nämlich seine Korrespondenten-Tätigkeit in Washington, Paris und Berlin neben der Arbeit in London (XV). Immerhin gibt es am Ende eine 12-seitige gegliederte Bibliographie.
Aus dieser Herangehensweise resultiert ein erster bemerkenswerter Ansatz des Buches: Es versucht, angelsächsischen und kontinentaleuropäischen Liberalismus zu vergleichen, mehr noch, diese als Einheit zu verstehen. Dagegen sind auch in breiter angelegten deutschsprachigen Überblicksdarstellungen in der Regel amerikanische Liberale nicht berücksichtigt worden. Der zweite überraschende Punkt ist, dass Fawcett eine Zusammenschau von den Anfängen des Liberalismus bis in die Gegenwart respektive gar Zukunft geben will; in der Regel beschränken sich andere Überblickswerke auf das lange 19. Jahrhundert oder die Zeit bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts. Bei Fawcett gibt es drittens auch keine Trennung zwischen philosophischem und politisch-organisiertem Liberalismus, vielmehr werden liberale Vordenker und "liberale" Politiker in zeitlichem Zusammenhang abgehandelt. Schließlich - und das ist wohl das erstaunlichste - werden von ihm die Anfänge des Liberalismus überhaupt erst im frühen 19. Jahrhundert verortet.
Damit bestreitet er sowohl die immer wieder behaupteten, engen Verbindungslinien zwischen liberaler Programmatik und frühneuzeitlicher Philosophie als auch die Bedeutung liberaler Ideen für die transatlantischen Revolutionen des 17. und 18. Jahrhunderts. Im Gegenteil: Für Fawcett ist Liberalismus als Antwort auf die von der französischen Revolution und der beginnenden Industrialisierung aufgeworfenen gesellschaftlichen und politischen Verwerfungen ein genuin "postrevolutionäres" Phänomen. Dessen selbst gestellte Aufgabe bestand ihm zufolge darin, eine allseits akzeptable Ordnung für eine Welt im Umbruch zu schaffen (XII f. u. 4). Dementsprechend versucht sich Fawcett auch nicht an einer verbindlichen Definition seines Gegenstandes, sondern erklärt vier Punkte zu Kernelementen liberalen Denkens und Handelns (XIV u.10 f.): die Einsicht in die Unvermeidbarkeit gesellschaftlicher Konflikte, die Skepsis gegenüber unkontrollierter politischer, ökonomischer und sozialer Macht, der Glaube an die Möglichkeit von Fortschritt und die Achtung vor dem Individuum ("civic respect").
Vor diesem Hintergrund wird in drei Großkapiteln ein Abriss der Entwicklung des Liberalismus in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und den USA gegeben, wobei die ersten Abschnitte mit "Jugend (1830-1880)" und "Reife (1880-1945)" überschrieben durchaus an eine Biographie erinnern, während die Zeit zwischen 1945 und 1989 unter "Zweite Chance" firmiert. Für alle drei Teile werden jeweils die historisch-politischen Hintergründe skizziert und dann Leben und Werk von führenden liberalen Denkern und Politikern vorgestellt. Die unumgängliche Auswahl gelingt für das 19. und frühe 20. Jahrhundert auch recht überzeugend; der deutsche Liberalismus ist beispielsweise mit Wilhelm von Humboldt, Hermann Schulze-Delitzsch, Eugen Richter, Ernst Bassermann und Friedrich Naumann sowie Gustav Stresemann vertreten. Für die Zeit bis 1945 bekommt man also neben manchem interessanten Gedanken und überraschenden Detail aus dem Leben der Portraitierten ein durchaus solides Bild vermittelt. Allerdings merkt man dem Autor manche Unsicherheit in Bezug auf die Details deutscher Geschichte und Geographie an. Insgesamt wird der deutsche Liberalismus im internationalen Zusammenhang sehr wohlwollend vorgestellt; Naumann etwa wird von Fawcett zusammen mit L. Hobhouse, A. Marshall und L. Bourgeois in die breite Bewegung des "New Liberalism" eingeordnet und gegen Anfeindungen hinsichtlich seiner zeitweiligen Nähe zu imperialistischem Gedankengut verteidigt (194). Allerdings wird dem Leser nicht so recht klar, warum der Liberalismus in Europa nach dem Ersten Weltkrieg so sehr in die Defensive geriet.
Für den zeitlich folgenden Abschnitt fällt es Fawcett erkennbar schwerer, Liberale und Nicht-Liberale abzugrenzen, was zweifellos damit zu tun hat, dass die Bedeutung genuin liberaler Parteien, sofern als solche vorhanden, abnahm. Das Problem, dass Vertreter solcher Parteien in Großbritannien und Frankreich kaum noch Einfluss auf die Politik nahmen, umgeht Fawcett dadurch, dass er selbst bestimmt, wer liberal ist, unabhängig von parteipolitischer Affiliation: "Despite her party label, Thatcher passed Hayek's checklist for not being conservative with relative ease." (381) Natürlich kann man liberale Politiker auch in mit dem organisierten Liberalismus konkurrierenden Parteien vermuten. Aber wenn man dies ohne Rücksicht auf das jeweiligen Selbstverständnis tut, wird es unübersichtlich und unscharf: Offenbar weil Fawcett das Grundgesetz als liberal-demokratische Musterverfassung lobt, (308 f.) sind seiner Ansicht nach (fast) alle deutschen Nachkriegspolitiker irgendwie Liberale. Während er Willy Brandt und Helmut Kohl namentlich hervorhebt, bleiben die führenden Köpfe der FDP, unter ihnen der wohl bedeutendste liberale Vordenker deutscher Sprache im späten 20. Jahrhundert, Ralf Dahrendorf, unerwähnt.
Unübersehbar verengt Fawcett seine Darstellung liberaler Theoriediskussion am Ende doch stark auf die angelsächsische Welt, ergänzt um einige Franzosen, darunter Albert Camus und Jean-Paul Sartre. Diese tauchen unter dem Label "liberal" ebenso überraschend auf wie George Orwell, der sich selbst "a socialist, an anticommunist, and a tory anarchist" nannte (332). Solche Eigentümlichkeiten überschatten etwas jene Passagen, in denen Fawcett durchaus konzise und erhellend die Gedankenwelt bekannter liberaler Theoretiker von Isaiah Berlin und Karl Popper bis Judith Shklar und Francis Fukuyama vorstellt. Dass das Ganze mit einem kurzen Ausblick auf das 21. Jahrhundert abschließt, ist für eine historische Darstellung zwar nicht unbedingt üblich, macht aber insofern Sinn, als Fawcett den Liberalismus in der Gegenwart wieder vor der gleichen Aufgabe sieht wie bei seinen Anfängen: "a search for order amid endless conflict und unceasing change" (406), wobei die Aufgabe anders als damals universal sei und deshalb nicht als europäisches oder "westliches" Projekt begriffen werden dürfe.
Fawcetts Buch ist zweifellos mit viel Sympathie für seinen Gegenstand und zugleich aus recht eigenwilliger Perspektive geschrieben, was eine Einordnung unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten schwierig macht. Man liest es über große Strecken durchaus mit Gewinn und kann es dank des ausführlichen Registers gut als Nachschlagewerk zu einzelnen Aspekten und Personen benutzen. Es bleibt insgesamt aber allzu sehr im Deskriptiven. Wer nach Erkenntnis darüber sucht, was "den" Liberalismus im Kern ausmacht und wie er von anderen Weltanschauungen, insbesondere ab der Mitte des vorigen Jahrhunderts, wissenschaftlich tragfähig abgegrenzt werden kann, dürfte jedoch seine Probleme mit diesem Buch haben. Die Frage, ob eine historische Gesamtdarstellung "des" Liberalismus auf wissenschaftlicher Grundlage möglich und/oder überhaupt sinnvoll ist, stellt sich nach der Lektüre von Fawcett erneut.
Jürgen Frölich