Francesca Tinti (ed.): England and Rome in the Early Middle Ages. Pilgrimage, Art, and Politics, Turnhout: Brepols 2014, X + 381 S., 7 s/w-Abb., ISBN 978-2-503-54169-3, EUR 90,00
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Rom spielte für die Angelsachsen eine besondere Rolle, und zwar nicht nur aufgrund der zahlreichen Pilgerstätten, die man aufsuchen konnte, sondern auch auf einer eher ideellen Ebene. Die Verbundenheit mit Rom und dem Papsttum, die auch schon die angelsächsischen Zeitgenossen immer wieder zum Ausdruck brachten, geht auf Gregor den Großen zurück, der den Anstoß zur Missionierung der britischen Insel gab, und auf die Darstellung durch Beda Venerabilis, der dieser Mission eine große Bedeutung beimaß. Auf dieser Grundlage geht es im vorliegenden Sammelband um die konkreten Berührungspunkte von Angelsachsen mit der Ewigen Stadt und mögliche kulturelle Auswirkungen dieser Kontakte vom 7. bis zum 11. Jahrhundert.
Unabhängig vom konkreten Anlass der einzelnen Reisen wird wohl fast jeder mittelalterliche Rombesucher einige der zahlreichen Pilgerstätten der Stadt aufgesucht haben. Die Pilgerstätten und Pilgerreisen werden dementsprechend in den meisten Beiträgen thematisiert und stehen auch im Zentrum der Überlegungen von David Pelteret, Riccardo Santangeli Valenzani und Alan Thacker. Pelteret (17-41) behandelt in einem eher allgemein gehaltenen Überblick die möglichen Reisewege und die Faktoren, die bei der Wahl der Route eine Rolle spielten. Santangeli Valenzani (69-88) arbeitet heraus, dass die zunächst vorherrschenden Herbergen für Pilger (xenodochia) im 8. und 9. Jahrhundert den neu aufkommenden scholae peregrinorum wichen, die anfangs autonom waren, spätestens im 11. Jahrhundert aber der vatikanischen Basilika unterstellt wurden. Thackers umfangreicher Beitrag (89-139) ist zweigeteilt. Zunächst beschreibt er die (christliche) Topografie Roms innerhalb und außerhalb der Stadtmauern sowie deren Wandel, wobei der Fokus auf dem 7. Jahrhundert liegt. Im zweiten Teil wertet er Itinerare und syllogae (Beschreibungen von Grabmälern, Statuen, Wandmalereien etc.) aus, die oft in topografischer Hinsicht arrangiert wurden und demnach als Pilgerführer dienen konnten. In diesem Zusammenhang untersucht er auch die englischen Besucher Roms und betont in seinem überzeugenden Fazit die Rolle Roms (und der Päpste) bei der angelsächsischen Missionierung des Frankenreichs ebenso wie die Rolle der Angelsachsen bei der Orientierung der Päpste nach Westen (132).
Der Beitrag von Lucia Sinisi (43-68) weist keinen direkten Rombezug auf; sie zeichnet im Wesentlichen die Entwicklung des Michaelskults in Westeuropa und die Anfänge der Michaelsverehrung in England, die schon ins 7. Jahrhundert zurückreichen, nach. Ihren Ausgangspunkt hat diese Untersuchung in Runeninschriften, die in der Michaelshöhle auf dem Monte Gargano überliefert sind und die zeigen, dass Angelsachsen dorthin gepilgert sind. Eine ähnliche Quellengruppe untersucht Luisa Izzi (141-177), die angelsächsischen Graffiti in den Katakomben Roms nachspürt. Unter den rund 400 erhaltenen Graffiti wurden 26 angelsächsische Namen identifiziert, deren Träger zwischen dem 7. und 9. Jahrhundert die römischen Katakomben besuchten. Izzis Schlussfolgerung, dass sie mit ihren Namen sozusagen einen Teil ihrer Persönlichkeit am Ort zurückließen und so die Nähe zum Heiligen auch nach ihrer Rückkehr nach England sicherstellen wollten, ist zu weitgehend. Schlüssiger sind dagegen ihre Überlegungen zu möglichen Einflüssen der von den Angelsachsen besuchten Katakomben auf die angelsächsische Kunst und Architektur. Ihr gelingt es, auch weniger häufig frequentierte Stätten Roms für die Untersuchung kultureller Transferprozesse fruchtbar zu machen. Dagegen stellt Veronica Ortenberg West-Harling (179-216) zwei der meistbesuchten Pilgerziele in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung: die Kapelle Johannes' VII. in der Peterskirche, die vor allem wegen des als Reliquie verehrten Schweißtuchs der Veronika bekannt war, sowie die Kapelle des heiligen Laurentius im Lateran, in späteren Zeiten besser bekannt als Sancta Sanctorum. Den Beiträgen von Izzi und Ortenberg West-Harling ist gemein, dass sie das Problem, solche kulturellen Transferprozesse aufgrund der mangelnden Quellendichte nur selten konkretisieren zu können, nicht thematisieren.
Auch Rory Naismith wendet sich Sachquellen zu, indem er sowohl angelsächsische Münzen, die in Rom gefunden wurden, als auch Münzen römischen Ursprungs in England untersucht. In seinem Beitrag (217-253), der auch eine Liste angelsächsischer Münzfunde in und bei Rom enthält (233-247), stellt er fest, dass bis ins späte 10. Jahrhundert mehr Münzen aus England nach Rom kamen als aus dem Frankenreich oder aus Norditalien. Er führt das vor allem auf den sogenannten "Peter's Pence" oder "Rompenning" zurück, also regelmäßige Zahlungen an den Papst, die für Almosen bestimmt waren (231f.). In der anderen Richtung (von Rom nach England) sind weit weniger Münzen überliefert, die aber anscheinend einen starken Einfluss vor allem auf die erzbischöfliche Münzprägung in Canterbury hatten (229). In den Beiträgen von Marios Costambeys und Thomas F. X. Noble stehen politische Beziehungen zur Zeit Karls des Großen im Vordergrund, dessen Hof sozusagen eine Scharnierfunktion zukam. Das trifft einerseits auf den Angelsachsen Alkuin zu, der auch während seiner Tätigkeit am karolingischen Hof enge Kontakte zu England hielt und dessen ambivalente Einstellungen zu Karls Kaiserkrönung und zu Papst Leo III. von Costambeys (255-289) untersucht werden. Das zeigt sich andererseits aber auch in dem Vorbildcharakter, den die karolingische Herrschaft für angelsächsische Könige haben konnte. Noble jedenfalls sieht in den nur kurzfristig erfolgreichen Bemühungen des merzischen Königs Offa, ein drittes angelsächsisches Erzbistum (Lichfield) ins Leben zu rufen, vornehmlich den Versuch einer engen Kooperation zwischen König und Erzbischof, ähnlich wie es bei den Karolingern der Fall gewesen sei. In seinem prägnanten Beitrag (291-305) zieht er außerdem die durchaus weitreichenden Schlussfolgerungen, dass die Bedeutung der päpstlichen Autorität in dieser Zeit zunahm, dass man trotz regelmäßiger Kontakte in Rom nicht sehr gut über die angelsächsischen Verhältnisse informiert war und dass die Päpste die Autorität ihrer Vorgänger sehr hoch achteten.
Politische Beziehungen spielen auch im Beitrag von Elaine Treharne (343-364) eine Rolle, schließlich begegnete Knut der Große auf seiner Reise nach Rom im Jahr 1027 Papst Johannes XIX., Kaiser Konrad II. und König Rudolf III. von Burgund, mit denen er auch Verhandlungen über Zollfreiheiten für englische Rompilger führte. Darüber gibt ein Brief Knuts an seine englischen Untertanen Auskunft, in dem die Reise als Bußpilgerfahrt dargestellt wird und damit - so die These Treharnes - Knuts Wandlung vom Wikingerkönig zum verehrten, imperialen Herrscher des Nordens und vicarius Christi kennzeichnet. Treharne versucht zu zeigen, dass sich dieser Wandel in der (Selbst-)Darstellung Knuts nach der Romreise in weiteren Quellen niedergeschlagen und weit über seine Herrschaftszeit hinaus Wirkung gezeigt habe. Die beiden letzten Beispiele, die Treharne dafür heranzieht, stammen aus dem 16. und 17. Jahrhundert und führen dazu, dass der Band am Ende ein wenig zerfasert. Einen besseren Schlusspunkt hätte der Beitrag der Herausgeberin gesetzt, denn Francesca Tinti (307-342) versteht es, ein oft angesprochenes und verschiedentlich untersuchtes Thema systematisch zu ergründen und dadurch neue Erkenntnisse zu generieren. Sie geht der Frage nach, warum die angelsächsischen Erzbischöfe ab dem 10. Jahrhundert persönlich nach Rom reisten, um das Pallium zu holen, obwohl es in dieser Zeit in ganz Europa - wie auch vorher in England - üblich war, dieses erzbischöfliche Ehrenzeichen zugeschickt zu bekommen. Zwar werden die Gründe in den Quellen nicht explizit genannt, durch die Untersuchung der einzelnen Reisen sowie liturgischer Handschriften, die den Ritus der Palliumsverleihung enthalten, kann Tinti aber überzeugend darlegen, dass es vor allem spirituelle Gründe waren, die die Erzbischöfe dazu bewogen, zu Beginn ihres Pontifikats eine solch strapaziöse und gefährliche Reise anzutreten. Das Pallium wurde nämlich - wie zumindest in einigen Fällen belegt ist - von den Erzbischöfen eigenhändig vom Petrusaltar genommen und stellte somit eine direkte Verbindung zum darunter befindlichen Petrusgrab her, das als Quelle erzbischöflicher Autorität galt (333).
Insgesamt versammelt der Band elf Beiträge sehr unterschiedlicher Länge, was sich aber nicht direkt auf die Qualität auswirkt, denn gerade der längste Beitrag (von Thacker mit 51 Seiten) und der kürzeste (von Noble mit 15 Seiten) bieten die interessantesten, über das engere Thema hinausgehenden Ergebnisse und Thesen. Jedem Beitrag ist ein eigenes Quellen- und Literaturverzeichnis mitgegeben, wodurch zwar eine umfassende Bibliografie zum Thema fehlt und es zu gelegentlichen Wiederholungen bibliografischer Angaben kommt, was aufgrund des breitgefächerten Spektrums der Abhandlungen und der verwendeten Quellen aber durchaus gerechtfertigt scheint und das Nachschlagen einzelner Titel darüber hinaus erleichtert. Hilfreich ist auch der ausführliche Index, der Namen, Orte und Titel mittelalterlicher Werke verzeichnet, wobei der Ortsindex beim Eintrag zu Rom heruntergebrochen wird bis auf einzelne Kirchen, Kapellen, Altäre und Fresken. Der Nutzen des Bandes liegt weniger in einer Gesamtschau der römisch-angelsächsischen Beziehungen, sondern in den vielen Einzelerkenntnissen, die in den meist qualitativ hochwertigen Beiträgen gewonnen werden und dem Thema damit neue Facetten abgewinnen, die vor allem Spezialisten unterschiedlicher Forschungsfelder - England in angelsächsischer Zeit, das Pilgerwesen, Rom im Frühmittelalter, das frühmittelalterliche Papsttum, angelsächsische Kunst - gewinnbringend lesen werden.
Dominik Waßenhoven