Peter Thurmann / Anke Dornbach / Anette Hüsch (Hgg.): Sterne fallen. Von Boccioni bis Schiele. Der Erste Weltkrieg als Ende europäischer Künstlerwege, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2014, 247 S., zahlr. Farbabb., ISBN 978-3-7319-0134-1, EUR 29,95
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Wie viele Kunstausstellungen und Publikationen nimmt der deutsch / englische Katalog den Beginn des Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren als Anlass, Künstlerschicksale und Kunstschaffen dieser Zeit neu zu betrachten. Anstatt die künstlerische Verarbeitung von Kriegserfahrungen [1] und ihre Auswirkung auf die Moderne in den Mittelpunkt zu stellen, widmet sich vorliegender Katalog erstmalig in großer Breite dem Werk von Künstlern, die durch den Verlust ihres Lebens die moderne Kunstentwicklung nicht mitprägen konnten. [2] Mit Blick auf das verlorene, individuelle künstlerische Potential, kollektive Werkpositionen und auf die Kunstzentren als Vernetzungspunkte zwischen Künstlern und Kunstströmungen versucht diese Publikation, ein differenziertes Bild der kulturellen Landschaft vor dem Ersten Weltkrieg zu zeichnen.
Als Einstieg in seinen Essay "Materie gegen Geist - Künstlerschicksale im Ersten Weltkrieg" skizziert Peter Thurmann die Vorkriegs-Stimmung in Europa und stellt dabei die grundsätzlich patriotische Haltung der Avantgarden heraus. Kam es bereits im Herbst 1914 zu einem Stimmungsumschwung, so betont der Autor, dass die Auseinandersetzung mit dem Krieg als eigenes Bildthema nicht bei der Mehrheit der Künstler stattfand. Entsprechend stellt der Katalogteil das Selbstbildnis als ein Mittel der Krisenbewältigung in den Vordergrund. Zugleich nimmt der Autor eine Abgrenzung der sogenannten "Vorahnungskunst" von den künstlerischen Reflektionen zum Krieg als reales Ereignis vor und widerspricht der hierdurch suggerierten frühen Antikriegshaltung bei den Avantgarden. [3]
Einem Desiderat begegnet der Katalog mit der stärkeren Beleuchtung von Künstlerinnen und Künstlern, die nicht auf dem Schlachtfeld, sondern in Folge des Krieges, durch Verwundung, Traumatisierung und krisenbedingte Krankheiten starben.
Bei der Betrachtung der einzelnen Kunstnationen, allerdings ohne Großbritannien, stehen Frankreich, und die Künstler Italiens und Deutschlands im Fokus. Den Abschnitt zu Paris, dargestellt als unangefochtenes Zentrum der internationalen Moderne, nutzt der Autor zugleich, aus westeuropäischer Sicht eher unbekannte Künstler wie den Schweden Ivan Lönnberg vorzustellen. Innerhalb des weiten Spektrums internationaler Künstlerbiografien liegt der Schwerpunkt auf der deutschen Kunstszene mit München, Stuttgart, Karlsruhe, Rheinland / Köln und Berlin. Behandelt werden unter anderen Ernst Burmester mit einem Porträt in der stilistischen Nachfolge Whistlers, Vertreter von Künstlerkolonien wie Hans am Ende und Hans Beppo Borschke, Hölzer-Schüler Hermann Stenner, die Künstler des Blauen Reiters sowie der in diesem Umkreis tätige Hanns Bolz, der als erster Deutscher sowohl bei der Sonderbundausstellung 1912/13 in Köln, der Armory Show in New York, als auch im ersten Deutschen Herbstsalon der Berliner Sturm-Galerie 2013 ausstellte.
Im Unterschied zu den Verlusten avantgardistischer Künstler in Frankreich und Österreich schätzt der Autor die Kriegsfolgen für die Entwicklung der Moderne in Deutschland als dramatisch ein. Relativierend wird eingeräumt, dass auch in Italien die gerade begonnene, selbstbestimmte künstlerische Entwicklung, insbesondere mit dem Ende der futuristischen Bewegung, schmerzhaft abgebrochen wurde. Für den Umstand, dass Deutschland lange Zeit hinter der Kunstentwicklung Frankreichs zurück blieb, macht der Autor zum einen den Verlust vieler junger Talente, die der Moderne zu mehr Akzeptanz hätten verhelfen können, verantwortlich. Zum anderen erscheint der Tod von Franz Marc als einer der wichtigen integrativen Kräfte der deutschen Avantgarde ursächlich.
Im zweiten Essay von Anke Dornbach folgt die Beschäftigung mit den Avantgarden im Osten Europas, namentlich Russland, Serbien und Tschechien, mit besonderer Aufmerksamkeit auf den Einfluss internationaler Kunstströmungen und Netzwerke. Stellt die Forschung die Entwicklung der russischen Avantgarde weitgehend der kulturellen Wende in der Oktoberrevolution gegenüber, verschiebt die Autorin diese Zäsur auf den Beginn des Ersten Weltkrieges als Ursache der politischen Umwälzungen im Zarenreich. [4]
Dornbach bestätigt die wichtige Rolle Wassily Kandinskys für den Austausch zwischen der deutschen und russischen Avantgarde, stellt aber den weniger bekannten Künstler und Mitglied des Blauen Reiters Wladimir Burljuk vor. Mit Olga Rozanowa würdigt die Autorin überzeugend das frühzeitig abgebrochene, abstrakte Werk der bedeutenden Avantgarde-Künstlerin als einen Vorgriff auf die amerikanischen Color Field Paintings der 1950er- bis 1960er-Jahre.
Für Serbien (Nadezda Petrovic) und Tschechien wird eine intensive Beschäftigung der Künstler mit der französischen Moderne konstatiert. Unter dem Einfluss der Prager Munch-Ausstellung von 1905 und dem französischen Kubismus bildete sich in Tschechien ein spezifischer Kubo-Expressionismus aus, der auch von Bohumil Kubista, Mitglied der Brücke-Vereinigung, vertreten wurde. Als expressionistische / fauvistische Gegenposition wird der Künstler Jindrich Prucha vorgestellt.
Die Berechtigung einer gesonderten Betrachtung der östlichen Avantgarde begründet die Autorin in ihrem Resümee mit der Herausbildung einer "Moderne des Ostens", die sich aus der nationalen Kultur und der Aneignung der westlichen Moderne entwickelte. Zugleich sieht sie aber die Etablierung einer eigenen Moderne abgebrochen, eine These die nur nachvollziehbar ist, wenn der künstlerischen Orientierung an der westlichen Avantgarde eine zentrale Rolle zugeschrieben wird.
In der Zusammenschau der frühzeitig beendeten Künstlerbiografien, die die Dimension des künstlerischen Verlustes und den Ersten Weltkrieg als kulturhistorischen Einschnitt erfahrbar machen, liegt zweifelsohne die Stärke des Katalogs. Zugleich wird dem Leser die Abhängigkeit künstlerischer Anerkennung von geschichtlichen Ereignissen und Zufällen vor Augen geführt. Der internationale Fokus der Publikation, den die englische, allerdings nicht muttersprachliche Übersetzung unterstreicht, und die Einbeziehung der oft vernachlässigten osteuropäischen Künstler erlauben einen Überblick über die Kunst der 1900er- bis 1920er-Jahre. Dies spiegelt auch der Katalogteil mit dem breiten Spektrum an Werken von 60 Künstlern aus 12 Nationen wider. Zu würdigen ist ebenso der Index von mehr als 600 in Folge des Krieges verstorbenen Künstlern, der einen wichtigen Beitrag zur Grundlagenforschung leistet.
Anmerkungen:
[1] Dietrich Schubert: Künstler im Trommelfeuer des Krieges 1914-18, Heidelberg 2013; Das Menschenschlachthaus. Der Erste Weltkrieg in der französischen und deutschen Kunst, Kat. Ausst. Von der Heydt-Museum, Wuppertal 2014.
[2] Zu internationalen Künstlern vgl. Kapitel: Die "offene Wunde", Jünglinge im Ersten Weltkrieg, in: Rainer Zimmermann: Expressiver Realismus. Die Kunst der verschollenen Generation, München 1994. Zwei Publikationen beschäftigten sich mit ausgewählten deutschen Künstlern, die im ersten Weltkrieg gestorben sind: Friederike Held-Weimar / Helga Gutbrod (Hgg.): Verglühte Träume. Werke junger Künstler, Opfer des Ersten Weltkrieges, Berlin 2014; Burco Dogramaci / Friederike Held-Weimar: Sie starben jung! Künstler, Dichter, Ideen und Ideale vor dem Ersten Weltkrieg, Berlin 2014.
[3] Vgl. Kapitel "Vorahnungskunst", in: 1914. Die Avantgarden im Kampf, Ausst. Kat. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Köln 2013, 37f., 50-59.
[4] Anders aber bei: Aaron J. Cohen: Imagine the unimaginable. World War, Modern Art, & The politics of public culture in Russia, 1914-1917, Lincoln / London 2008.
Daniela Roberts