Rezension über:

Andrea Nicolotti: From the Mandylion of Edessa to the Shroud of Turin. The Metamorphosis and Manipulation of a Legend (= Art and Material Culture in Medieval and Renaissance Europe; Vol. 1), Leiden / Boston: Brill 2014, XIV + 213 S., 66 Abb., ISBN 978-90-04-26919-4, EUR 110,00
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Rezension von:
Michele Bacci
Mediävistisches Institut, Universität Fribourg
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Michele Bacci: Rezension von: Andrea Nicolotti: From the Mandylion of Edessa to the Shroud of Turin. The Metamorphosis and Manipulation of a Legend, Leiden / Boston: Brill 2014, in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 5 [15.05.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/05/26274.html


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Andrea Nicolotti: From the Mandylion of Edessa to the Shroud of Turin

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Die Leserinnen und Leser sollten sich nicht vom Titel beirren lassen: In diesem Buch geht es nicht darum, die Transformation eines ostkirchlichen Kultobjekts - des Mandylions von Edessa - hin zu einer im Westen hochverehrten Reliquie - dem Turiner Grabtuch - zu beschreiben, sondern im Gegenteil darum, diese Hypothese entschieden zu widerlegen. Andrea Nicolotti, Mediävist an der Universität Turin, hat in den letzten Jahren sehr viel Energie darauf verwandt, den zwar von den Massenmedien und von zahlreichen Publikationen weitverbreiteten, aber oftmals fantasiereichen Theorien der sogenannten "Sindonologen" eine wissenschaftlich fundierte, historisch-philologische Rekonstruktion entgegenzusetzen.

Die Historiker und Kunsthistoriker, die in der jüngeren Forschung die Geschichte der alten, halblegendarischen Urbilder des Christentums untersuchten, gingen in der Regel einfach über die sindonologische Literatur hinweg: Es galt stillschweigend die Übereinkunft, dass diese Thesen wegen ihrer Un- oder Pseudowissenschaftlichkeit nicht einmal einer Widerlegung wert waren. Das Desinteresse der Historiker für das Thema hat zumindest indirekt die sindonologischen Veröffentlichungen gefördert. Diese Veröffentlichungen umfassen allerdings verschiedene Ansätze und Deutungsmethoden, wobei sich deren Autoren aus ganz unterschiedlichen Gründen für das Turiner Grabtuch interessieren: Es handelt sich dabei um Journalisten, Publizisten, aber auch um Naturwissenschaftler, die ihre Fachkompetenzen dafür eingesetzt haben, die Echtheit der Reliquie mittels chemischer und physikalischer Analysen zu prüfen. Es muss an dieser Stelle jedoch betont werden, dass die Grenzen zwischen diesen Ansätzen und jenen der stricto sensu historischen Forschung in den letzten Jahren immer unbestimmter geworden sind, insbesondere nachdem Philologen wie Ilaria Ramelli oder Historiker wie Barbara Frale einige traditionelle Thesen der Sindonologen gestützt haben.

Die Monographie - ursprünglich auf Italienisch veröffentlicht - stellt eine wichtige Etappe auf Nicolottis Weg zu einer gewissenhaften und ausführlichen Entkräftung des theoretischen Aufbaus der Sindonologie dar. Ein erstes Werk (I Templari e la Sindone. Storia di un falso, Rom 2011) wurde den historisch unbegründeten, doch in der Historiographie wiederholt vorgebrachten Theorien gewidmet, wonach die angebliche Translation des Tuches nach der Eroberung Konstantinopels im Jahr 1204 stattgefunden hätte; demnach hätten die Templer das Tuch zunächst nach Athen und von Athen aus nach Westeuropa gebracht. Parallel zu dieser Publikation hat der Autor verschiedene Aufsätze über weitere Aspekte der zeitgenössischen Wahrnehmung der Turiner Reliquie veröffentlicht. [1] Mit dem jüngst erschienenen Buch La Sindone. Storia e leggende di una reliquia controversa (Turin 2015) ist er von der pars destruens zu einer neuen, historisch begründeten Interpretation der erst im 14. Jahrhundert urkundlich belegten Reliquie übergegangen.

Um das Turiner Grabtuch als ein Zeugnis der spätmittelalterlichen Frömmigkeit beschreiben zu können, musste Nicolotti die Unhaltbarkeit einer oft wiederholten sindonologischen These beweisen: Laut dieser These könne das Problem, dass in der Spätantike und im frühen Mittelalter Zeugnisse zur Existenz des Grabtuches gänzlich fehlen, durch dessen Identifizierung mit einem byzantinischen Acheiropoieton, dem edessenischen Mandylion, gelöst werden. Eine solche Hypothese wurde zum ersten Mal vom britischen Schriftsteller Ian Wilson 1978 formuliert und hat, wie in der Einführung zusammengefasst (1-6), einen außergewöhnlichen Erfolg in zahlreichen Fernsehsendungen und Publikationen genossen. [2] Kern der Argumentation ist die Idee, dass das Grabtuch mit dem vollständigen Abdruck des Körpers Christi im Laufe vieler Jahrhunderte nur teilweise, vom Hals hinauf, sichtbar gewesen sei: Die Reliquie soll nämlich achtmal gefaltet worden sein, derart, dass man nur das Gesicht hätte anschauen können. Die Identifizierung des Grabtuches mit dem Mandylion wird unabhängig davon behauptet, dass die Legende des Mandylion keine Hinweise auf die Passion und Bestattung Christi enthält und dass die ikonographischen Darstellungen des Acheiropoieton das auf einem kleinen Tuch geprägte Gesicht Jesu als einen lebendigen Mensch mit offenen Augen zeigen.

Die sindonologischen Thesen werden in den sieben Kapiteln des Buches akribisch mittels einer sorgfältigen Deutung der literarischen und ikonographischen Quellen widerlegt. Im 2. Kapitel (Origins and Traditions, 7-28) wird anhand der Beschreibung des historischen Ursprungs der Mandylion-Legende im vorikonoklastischen Nahen Osten betont, dass diese sich allmählich -zwischen dem 4. und dem 10. Jahrhundert - entwickelnde Tradition ursprünglich den Akzent nicht auf ein Bild, sondern auf einen Brief legte, der von Christus vor der Passion dem König von Edessa, Abgar V Ukkāmā, durch den Boten Hanān übermittelt worden wäre. Der Hinweis auf das Bild erweist sich nämlich als die Ergänzung einer älteren Legende, die zuerst im 5. Jahrhundert in einer syrischen Quelle, der Doctrina Addai, erscheint: Dieser Text bezieht sich allerdings nur auf ein Porträt, das von Hanān angefertigt worden sei, wobei seine Kennzeichnung als Acheiropoieton zum ersten Mal im 6. Jahrhundert in den Akten von Mar Mari eingeführt, aber nicht einstimmig von den späteren Texten übernommen wurde. Dies hatte zur Folge, dass die Konstruktion der legendarischen Physiognomie des Mandylions als eines "nicht von Menschenhand gemalten" Bildes umstritten war und schrittweise erfolgte.

Im 3. Kapitel (Shifting Perspectives?, 29-52) wird ein besonderes Augenmerk auf zwei griechische Quellen gerichtet, welche die Sindonologen häufig zur Untermauerung ihrer Thesen verwendeten. Das Wort tetradiplon, das in den schwierig zu datierenden - zur Zeitspanne zwischen 609 und 944 gehörenden - Akten des Thaddäus benutzt wird, veranlasste viele Autoren zu der Vermutung, dass das Mandylion nicht ein kleines Tuch, sondern ein längeres, achtmal zusammengefaltetes Stoffstück sei. Diese Hypothese basiert auf einer Übersetzung des Wortes mit "vierfach doppelt zusammengefaltet", die vom Autor als falsch beurteilt wird: Alternative Übersetzungen, wie "mit vier Ecken" oder "mit vier Schichten", sind ebenfalls möglich und könnten als Hinweis auf die im syrischen Gebiet stark verwurzelte Symbolik der Zahl Vier verstanden werden (45-47).

Das 4. Kapitel (The Translation of the Image of Edessa, 53-88) wird den anlässlich der Translation des Mandylions nach Konstantinopel im Jahr 944 verfassten griechischen Texten gewidmet. Nicolotti zeigt, inwieweit die Verteidiger der Identifizierung von Mandylion und Turiner Grabtuch den Sinn einer sprachlich komplexen Stelle der während der Zeremonie von Gregor Referendarius gehaltenen Rede missverstanden und verändert haben. Anders als in den vorigen Texten spielt in dem Text Gregors die Szene der Anfertigung des Mandylions im Garten von Gethsemane kurz vor der Todesangstepisode. Der Text verweist auf den von Blutstropfen und vom Finger Gottes auf einem Tuch gestalteten Gesichtsabdruck, und im unmittelbar folgenden Satz erwähnt er das aus dem Körper Christi anlässlich der Kreuzigung vergossene Blut. Aus einer falschen Übersetzung wurde gefolgert, dass Gregor ein Bild vor seinen Augen gehabt hätte, auf dem die Lanzenwunde deutlich sichtbar gewesen wäre. Diese Interpretation wird jedoch durch eine genaue Textdeutung ausgeschlossen: Gregor Referendarius stellt in rhetorischer Form einen Vergleich zwischen dem mit Blut in Gethsemane angefertigten Mandylion und dem mit Blut bedeckten, am Kreuz hängenden Körper Christi an, aber er macht zugleich deutlich, dass es sich dabei um zwei unterschiedliche Ereignisse handelt.

In der Fortsetzung des 4. Kapitels analysiert der Autor schließlich die byzantinischen Quellen über die Translation und die Neuformulierung der Legende. Im 5. Kapitel (The Mandylion in Constantinople, 89-119) folgt eine Beschreibung der Urkunde über die Geschichte des Mandylions in Konstantinopel bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts. In den byzantinischen Texten wird oftmals auch die Unterscheidung getroffen zwischen dieser Reliquie und den ebenfalls in Konstantinopel aufbewahrten, anlässlich der Bestattung Christi benutzten Grab- und Leichentüchern.

Das folgende 6. Kapitel (An Overview of Iconography, 120-187) überprüft weitere, erst im 12. und 13. Jahrhundert urkundlich belegte Traditionen, welche die Sindonologen für ihre Argumentation benutzt haben, obgleich diese Traditionen keinen unmittelbaren Zusammenhang zum Turiner Grabtuch haben. Dieser Abschnitt enthält auch einen kleinen Überblick über die ikonographischen Darstellungen des Mandylions, worin die sindonologische Deutung einiger Details (wie die Interpretation der runden Ornamente auf dem Edessener Handtuch als bildliche Hinweise auf die Löcher, die man heute auf der Oberfläche des Grabtuchs sehen kann) systematisch widerlegt wird.

Das letzte Kapitel (The End, 188-203) zielt darauf, einen weiteren sindonologischen Mythos - die Idee, der zufolge das Mandylion anlässlich der Eroberung Konstantinopels 1204 verschwunden sei - zu entzaubern. Versammelt werden hier die literarischen Quellen, welche die Translation des Acheiropoieton nach Paris 1240 dokumentieren sowie dessen Aufbewahrung samt den wichtigsten Passionsreliquien in der Sainte-Chapelle bis zum Jahr 1793, jenem Zeitpunkt, an dem das nicht von Menschenhand gemalte Porträt zum letzten Mal erwähnt wird. Sein Schicksal danach ist unbekannt: Wahrscheinlich verschwand es noch während der Französischen Revolution.

Mehr oder weniger explizit richtet sich das Buch Nicolottis vor allem an Sindonologen, auch wenn sie höchstwahrscheinlich von seinen Argumentationen nicht überzeugt werden können. Als wichtiger Teil einer "Trilogie", die der Autor der Entkräftung der sindonologischen Mythen gewidmet hat, ist das Buch nicht nur ein Beitrag zur Erforschung der Geschichte des Turiner Grabtuchs, sondern auch und insbesondere zur wissenschaftlichen Analyse der postmodernen Faszination für die antiken Acheiropoieta als Scheinbilder der in unserer Welt allgegenwärtigen, doch entmaterialisierten Bildlichkeit.


Anmerkungen:

[1] Andrea Nicolotti: Forme e vicende del Mandilio di Edessa secondo alcune moderne interpretazioni, in: Adele Monaci Castagno (a cura di): Sacre impronte e oggetti "non fatti da mano d'uomo" nelle religioni, Alessandria 2011, 279-307; Id.: I cavalieri Templari, la Sindone di Torino e le sue presunte iscrizioni, in: Humanitas 65 (2010) 328-339; Id.: La leggenda delle scritte sulla Sindone, in: MicroMega 4 (2010) 67-79; Id.: Una reliquia costantinopolitana dei panni sepolcrali di Gesù secondo la Cronaca del crociato Robert de Clari, in: Medioevo greco 11 (2011) 151-196.

[2] Ian Wilson: The Turin Shroud, London 1978. Für eine ausführliche Liste der Autoren, die Wilsons Hypothese übernommen haben, siehe Nicolotti, 3-4.

Michele Bacci