David Kuchenbuch: Das Peckham-Experiment. Eine Mikro- und Wissensgeschichte des Londoner "Pioneer Health Centre" im 20. Jahrhundert (= Industrielle Welt. Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte; Bd. 88), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2014, 237 S., 33 Abb., ISBN 978-3-412-22352-6, EUR 39,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Florian Bruns: Kranksein im Sozialismus. Das DDR-Gesundheitswesen aus Patientensicht 1971-1989, Berlin: Ch. Links Verlag 2022
Malte Thießen (Hg.): Infiziertes Europa. Seuchen im langen 20. Jahrhundert, Berlin: De Gruyter 2014
Carole Rawcliffe: Urban Bodies. Communal Health in Late Medieval English Towns and Cities, Woodbridge / Rochester, NY: Boydell & Brewer 2013
David Kuchenbuchs gut lesbare Darstellung des Pioneer Health Centres in London behandelt eine Einrichtung, die einmal als Beispiel eines gesundheitserzieherischen Reformansatzes einen großen Bekanntheitsgrad genoss, heute aber fast in Vergessenheit geraten ist. Initiiert durch die Bankiersgattin, Dorrit Schlesinger, entsprang das Pioneer Health Centre (PHC) einer klassisch bürgerlichen Zivilisierungsmission: unteren sozialen Bevölkerungsschichten sollte durch Aufklärung und Zugang zu Verhütungsmitteln die Idee wohldurchdachter Familien- und Lebensplanung nahe gebracht werden. Neben dem sozialreformerischen Ansatz verfolgte das Projekt sozialpolitisch-eugenische Ziele, da durch Gesundheitsprogramme die Fitness der englischen Arbeiterschaft und, im weiteren Sinne, der Nation und des Empires verbessert werden sollte. Zur medizinischen Begleitung und Evaluierung wurden die Mediziner Innes Hope Peare und George Scott Williamson mit hinzugezogen. Diese beiden wurden bald zu den eigentlichen Akteuren. Sie begründeten und leiteten das Pilotprojekt, das 1926 bis 1929 in Southwark existierte, wie das eigentliche PHC in Peckham, das von 1935 bis 1939 und dann wieder für kürzere Zeit ab 1946 geöffnet war, und sie formten das Außenbild des Projektes in mehreren Büchern, Artikeln und Broschüren sowie in zahlreichen Führungen durch das PHC und in Vorträgen. Dabei transformierten sie das PHC von einer Initiative zur Zivilisierung der Arbeiterschaft zu einem Experiment über das Wesen des menschlichen Miteinanders.
Kuchenbuch befasst sich in seiner Studie vorrangig mit dem Prozess der Erfindung, Deutung und permanenten Umdeutung dieses Zentrums durch seine Organisatoren, Nutzer und Kommentatoren. Dabei greift er auf eine breite Quellenbasis zurück, die sowohl einen Blick auf die internen Abläufe erlaubt, als auch die Außendarstellung spiegelt: neben Nachlässen der beteiligten Mediziner, Erinnerungen, Briefen und Berichten der Zentrums-Mitglieder auch etliche vom PHC veröffentlichte Broschüren, Artikel und Vorträge sowie das 1943 erschienene Buch von Innes Pearce über das "Peckham-Experiment", welches das Image der Einrichtung begründete. Abgerundet wird der Quellenkorpus durch die Auswertung zeitgenössischer Presseberichterstattung, Schriftgut von Behörden und Berichten von Gutachtern, die das Zentrum evaluierten.
Kuchenbuch geht im Wesentlichen chronologisch vor und verbindet dabei einen ereignisgeschichtlichen Abriss über die Entwicklung des Zentrums mit seiner Konstruktion nach außen. Angefangen beim Pilotprojekt der 1920er Jahre gibt er Einblick in das eigentliche, seit 1935 in Peckham angesiedelte PHC, seine zwischenzeitliche, kriegsbedingte Verlegung aufs Land und seine endgültige Schließung im März 1950. Darüber hinaus schiebt der Autor immer wieder strukturelle Kapitel ein, etwa einen Abschnitt zur Architektur und Baugeschichte des 1935 neu eröffneten Centers in der St. Mary's Road (Kapitel 3), zu im PHC hergestellten Fotografien als Elemente visueller Aktivierung und teilnehmender Beobachtung (Kapitel 7), zum Blick der Nutzer auf das Zentrum (Kapitel 8) sowie zu Aktualisierungsversuchen des Peckham-Experiments im sich wandelnden Gesundheitsdiskurs bis in die unmittelbare Gegenwart (Kapitel 11). Die Arbeit schließt mit einer wissensgeschichtlichen Einordnung des PHC als politische, räumliche und literarische Zukunftsverheißung einerseits und als zeitgenössisches Sozialexperiment andererseits.
Diese Gliederung dient dazu, den ambivalenten Charakter des PHC deutlich zu machen. Das Zentrum funktionierte wie eine Mischung aus Freizeitverein und Gesundheitszentrum. Die Nutzer mussten einem Club beitreten und Beitragszahlungen leisten. Dafür erhielten sie eine medizinische Erstuntersuchung und weitere Gesundheitsberatung sowie Zugang zum PHC-Gebäude mit seinen Duschen, den Sport- und Kultureinrichtungen. Für die Nutzung des Schwimmbeckens musste zusätzlich gezahlt werden. Mit einer Sporthalle, einer Cafeteria und Raum für Kartenspiele und Handarbeitszirkel waren die rollenspezifischen Interessen der Ehefrauen, Männer und Kinder berücksichtigt. In den folgenden Jahren konstruierten die Ärzte, insbesondere Williamson, die Abläufe im PHC zunehmend als Modell für sozio-biologisches Verhalten von Menschen oder sogar aller Lebewesen. So sahen sie in den Erfahrungen im PHC den Beweis dafür, dass eine hinreichend anregende wie freie Umgebung Menschen zum selbstorganisierten sozialen Austausch und einem gleichermaßen gesunden, selbstbestimmten und integrierten Dasein führen. Dabei griffen die Argumentationen wiederholt zentrale Wissenschaftsdebatten der Zeit auf, darunter Diskussionen zur Ernährungsphysiologie, zur Evolutionsbiologie und zu Tierversuchen, bewegten sich jedoch zunehmend in linguistisch-metaphysische Diskursebenen hinein. Aus dem medizinischen Modellversuch wurde ein sozialphilosophisches Forschungsprojekt, während immer unklarer wurde, inwieweit es sich bei den Nutzern um Vereinsmitglieder, Patienten, Versuchsteilnehmer oder Untersuchungsobjekte handelte.
Dabei arbeitet Kuchenbuch überzeugend die Diskrepanz zwischen Realität und Narrativ heraus. So stand der Anspruch einer unbeeinflussten Selbstorganisation der Nutzer im Widerspruch zu einer gezielten Reglementierung, welche die Richtung dieser "freien" Selbstorganisation bestimmte. Zwischenzeitliche chaotische Umstände, die durch den Verzicht auf Sanktionsmaßnahmen etwa bei unsachgemäßer Handhabung von Sportgeräten oder bei Vandalismus entstanden waren, wurden im Nachhinein nicht als Fehlschlag, sondern als Anfangsschwierigkeiten einer auf Ordnung zielenden Eigenentwicklung interpretiert. Insgesamt blieb das PHC in einem diffusen, populärwissenschaftlichen Bereich, der es für viele andere Interessengruppen anschlussfähig machte. Beispielsweise werteten Architekten und Stadtplaner das Projekt als Beweis für den Einfluss baulicher Voraussetzungen auf die Möglichkeit friedlichen Zusammenlebens in autoritätsfreien Räumen.
Kuchenbuchs Studie wendet sich vor allem an Kultur- und Wissenschaftshistoriker. Aus sozialhistorischer Perspektive bleiben allerdings manche Fragen offen. Zwar lässt Kuchenbuch an einigen Stellen auch die Nutzer zu Wort kommen, deren Sicht auf das PHC offenbar überwiegend positiv war, bot es ihnen doch sowohl praktische Angebote, auf die sie sonst selten hoffen konnten, als auch die Möglichkeit, sich als zentrale Akteure in einem wichtigen Lebensversuch zu fühlen. Diese Stimmen aber bleiben isoliert und dienen vorrangig dazu, das PHC-Narrativ zu hinterfragen. Das ist legitim, ist dies doch Kuchenbuchs eigentliches Interesse. Allerdings reduziert er damit die Rolle der Nutzer auf ihre Bedeutung hinsichtlich der Fragestellungen der PHC-Organisatoren und vollzieht deren Perspektive nach, deren konstruierten Fokus er gleichzeitig kritisiert. Unklar bleibt etwa, welche Auswirkungen das Zentrum auf das individuelle Leben der Nutzer oder das soziale Leben des Stadtviertels hatte. Gerne hätte man als Leser auch mehr darüber erfahren, wie sich das PHC in das größere Bild verschiedener europäischer Reformansätze einfügte, mit denen verschiedene Gruppen alternative Wege der Gesellschaftsorganisation suchten. Kuchenbuch deutet einige Antworten an, ohne sie jedoch weiter zu verfolgen. Dennoch legt er zweifellos ein gutes und gut recherchiertes Buch vor, das Aufschluss über ein bislang wenig beachtetes kultur- und wissenschaftshistorisches Feld gibt.
Iris Borowy