Uwe Ziegler / Horst Carl (Hgg.): "In unserer Liebe nicht glücklich". Kultureller Austausch zwischen Großbritannien und Deutschland 1770-1840 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abt. für Universalgeschichte; Beiheft 102), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, 180 S., ISBN 978-3-525-10105-6, EUR 44,99
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Wo liegt der Mehrwert der Transferforschung gegenüber der traditionellen Rezeptionsforschung? Dieser methodischen Frage möchte der zu besprechende Sammelband anhand der deutsch-britischen Beziehungen vom Ende des 18. bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts nachgehen. Ausgehend von Reinhard Kosellecks Paradigma einer Sattelzeit zwischen Vormoderne und Moderne diskutieren acht Beiträge transnationale Momente in den Beziehungen zwischen dem Vereinten Königreich und den deutschen Staaten für die Jahrzehnte vor und nach 1800. Zurück gehen die Beiträge auf eine Tagung von Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern am Institut für Europäische Geschichte in Mainz und versprechen so originäre und originelle Forschung, die neue Akzente setzt und zentrale Debatten aufgreift. Denn nachdem die Veröffentlichung von Rudolf Muhs, Johannes Paulmann und Willibald Steinmetz zum interkulturellen Transfer zwischen Deutschland und Großbritannien aus dem Jahr 1998 eine methodische Neuorientierung gefordert hatte, stehe es - so die beiden Herausgeber Uwe Ziegler und Horst Carl - ein Jahrzehnt später an, nach den Möglichkeiten und Grenzen eines solchen Zugangs zu fragen. Dabei scheint die Antwort auf die Frage nach dem Potential des Konzeptes in einer stärkeren lebensweltlichen Verortung der Beteiligten bzw. in der Formulierung der Herausgeber in "der (kollektiv-) biographischen Erforschung beteiligter Trägergruppen oder Einzelagenten jenseits literarisch-diskursiver Filiationen" (18) zu liegen.
In diesem Sinne lassen sich die Beiträge in drei Gruppen einteilen. Zum einen werden Wahrnehmungsmuster untersucht und Verschiebungen in der Fremdwahrnehmung beschrieben. Jennifer Willenbergs Beitrag führt zunächst eine wichtige Unterscheidung ein. Die als "Anglomanie" zu beschreibende, "oberflächliche, modische Imitation des Englischen oder der Engländer" (23) in Deutschland fand nicht nur andere Ausdrucksformen, sondern besaß auch eine ganz andere historische Halbwertzeit als die tiefer gehende und auf die englischen Institutionen und Kultur ausgerichtete "Anglophilie". Letztere verschwand mit der französischen Revolution, während sich die Anglomanie weit ins 19. Jahrhundert hinein erhielt. Hier kann Willenberg auf Pseudoübersetzungen verweisen, die englische Herkunft vorgaukelten aber deutsche Originale waren. Auch die Kritik von Seiten der Geisteswissenschaften und der politischen Publizistik in Deutschland lassen das Phänomen der "Anglomanie" deutlich hervortreten.
Genau wie Jennifer Willenberg stellt auch Uwe Ziegler in seinem Beitrag heraus, dass sich Fremdwahrnehmungen ganz wesentlich aus den Interessen der Betrachter und ihrer historischen Kontexte erklären. Ziegler betont in diesem Zusammenhang die historischen Hintergründe, die die schwächer werdende Strahlkraft und Faszination erklären, die von der englischen Verfassung zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf Deutschland ausging. Nicht fehlendes Interesse, sondern die französische Kontinentalsperre führte dazu, dass viele der Reformbeamten in den deutschen Staaten von der aktuellen Publizistik in London abgeschirmt waren. Dennoch erschöpften sich die Gründe für das Schwinden des Interesses an einem britischen konstitutionellen Vorbild nicht in außenpolitischen Maßnahmen. Die zunehmende Kodifizierung von Verfassungstexten nach 1815 trat in Konkurrenz zu einer englischen Konstitution, die aus heterogenen Gesetzestexten bestand, die nicht in gleicher Form schriftlich fixiert waren.
Den Blick des Betrachters zu kontextualisieren, eröffnet Aufschlüsse über die Mechanismen, die kulturellen Transfer ausmachten. Sünne Juterczenka zeigt anhand der Analyse von "Südsee-Texten" in Göttinger Zeitschriften, wie stark deutsche Gelehrte die Berichterstattung nutzten, um ihre Position in der Wissenschaftslandschaft zu rechtfertigen. Denn den britischen Entdeckern standen die deutschen Gelehrten als "armchair travellers" (44) gegenüber, die ihren Umgang mit außereuropäischer Geschichte legitimieren mussten. So erwies sich die deutsche Berichterstattung über Cook und andere Entdecker mit ihrer Betonung der Interpretation und Problematisierung als Versuch der nationalen Abgrenzung von Wissenschaftstraditionen, der gleichzeitig auf einen langfristigen Prozess der Entfremdung innerhalb der Gelehrtenwelt verweist.
Die zweite Gruppe von Beiträgen diskutiert Autoren und Texte, die nationale Grenzen auf unterschiedliche Weise überschritten. Evelyn Gottschlich beschreibt die deutsche Rezeption der Chesterfield-Briefe, die Philip Dormer Stanhope, der vierte Earl of Chesterfield zwischen 1777 und 1805 veröffentlichte und die nicht zuletzt durch die Übersetzung des protestantischen Reformpädagogen Joachim Heinrich Campe ein größeres Publikum in Deutschland erreichten. Doch die Auseinandersetzung mit dem englischen Konzept der "politeness" und Chesterfields Interpretation der englischen Gesellschaft erweist sich in Gottschlichs Analyse primär als eine Beschäftigung der deutschen Autoren mit ganz eigenen Problemen. Die bürgerliche Empfindsamkeit, die in deutschen Schriften einem skrupellosen Adel gegenübergestellt wurde, fand in den Schreiben des englischen Aristokraten keine Entsprechung.
Rezeption als Missverständnis oder vielmehr als Mittel der Distanzierung steht auch in dem Beitrag von Michael Bies im Mittelpunkt. Charles Gore, der als dilettierender Engländer in Goethes biografischen und autobiografischen Schriften auftaucht, lässt sich als Figur in der ästhetischen Debatte der Zeit um 1800 verorten. Gleichzeitig bediente sich Goethe nationaler Stereotypen, um seine eigene Position deutlicher hervortreten zu lassen.
Die Komplexität einer intertextuellen Genealogie zeigt schließlich Iwan-Michelangelo D'Aprile, der von Hegels Schrift zur Wahlrechtsreform ausgeht und diese in der politischen Publizistik der Spätaufklärung verortet. Die Vorgeschichte der Reformbill-Schrift Hegels wird zu einer Auseinandersetzung mit den Grundprinzipien des eigenen Staates. Darüber hinaus zeigt D'Aprile, wie die ökonomisch orientierte Kritik der britischen Politik sich aus der Selbst- und Fremdbeschreibung deutscher Spätaufklärer ergab und in deren Schriften nicht nur einen zwischenstaatlichen, sondern einen globalhistorischen Interpretationsrahmen erhielt, in dem auch der Begriff des "Weltgeists" auftaucht. Dabei konnten sich Reformbefürworter wie -gegner der Kritik eines "englischen Modells" bedienen, um ihre eigene Position zu legitimieren.
Die dritte Gruppe von Beiträgen schließlich untersucht Personen und Netzwerke. Oliver Werner beschreibt den britischen Gesandten Henry Unwin Addington, der 1813 und 1814 als Attaché in den Gesandtschaften in Berlin und Prag tätig war und der 1828/29 in Frankfurt als Gesandter beim Deutschen Bund fungierte. Werner verweist auf Addingtons Aufenthalte in Deutschland, die die Kenntnisse des Gesandten über die Politik der Klein- und Stadtstaaten erklärt. Allerdings bedeutete Kenntnis nicht notwendigerweise eine positive Haltung gegenüber den Klein- und Mittelstaaten. Die Person des Gesandten in der deutschen Lebenswelt zu positionieren und sein Deutschlandbild zu rekonstruieren, erweist sich als ein schwieriges Unternehmen, das an Stellen unklar bleiben muss.
Einen Transferbegriff, der über die Politik hinausgeht, verwendet Neill Busse in seinem Beitrag über die Schüler des deutschen Chemikers Justus Liebig. Lyon Playfair, der 1840 bei Liebig promoviert wurde und August Wilhelm Hofmann, der als langjähriger Schüler Liebigs 1845 einen Ruf als Professor des Royal College of Chemistry erhielt, stehen stellvertretend für ein transnationales Netzwerk von Chemikern, das in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Wissenschaft international betrieb. Doch neben dem Wissenstransfer verweist Busse zusätzlich auf die lebensweltliche Dimension des Austauschs, die er als "Sekundärtransfer" beschreibt. Käse, Schnupftabak, Kaschmirschals und Bier seien ebenso wie naturwissenschaftliche Theorien über den Kanal gewandert.
Allerdings - und das wird in diesem Beitrag besonders deutlich - verschwimmen in einem methodischen Zugang, der möglichst viele Formen des Transfers aufspürt, die Referenzrahmen der Interpretation. Statt in der Verfassungstheorie, der Außenpolitik oder der Wissenschaft verankert zu bleiben, wird unter dem Begriff des Kulturtransfers allem Englischen (oder Britischem) nachgegangen, von der "Anglophilie" bis zur "Anglomanie". Aber was genau bedeutet Liebigs Vorliebe für Chesterkäse und geprägtes Briefpapier im Kontext kulturellen Transfers, vor allem wenn man - wie im Fall von Justus Liebig - auch mit Einflüssen aus anderen europäischen Staaten rechnen muss?
Diese kritische Nachfrage soll die Qualität des Sammelbandes nicht in Frage stellen. Eine Erweiterung über Texte und deren Rezeption hinaus hat sich als wichtige Innovation der Transferforschung gegenüber der Rezeptionsgeschichte erwiesen. Die lebensweltlichen Dimensionen hat nicht zuletzt die Reziprozität von Austauschprozessen deutlich werden lassen. Allerdings erscheint die Forderung, sich von einem linearen, an nationalen Kategorien orientierten Rezeptionsmodell zu distanzieren, auch Probleme hervorzubringen. Denn der Verweis, dass Austauschprozesse stattfanden, kann nur einen ersten Schritt in einer weiterführenden Diskussion darstellen, deren Interpretationsrahmen sich noch nicht in gleicher Weise von nationalen Kategorien entfernt hat. Dies zeigt der vorliegende Band sehr anschaulich und kann deshalb als wichtiger Beitrag in einer Diskussion verstanden werden, die noch nicht abgeschlossen ist.
Torsten Riotte